Kapitel 15

Seraphia machte ein paar Schritte nach vorn und atmete die stechend kalte Luft ein. Sie blickten in ein Tal, das von Obol über ihnen in ein eiskaltes Licht getaucht wurde. Der Sternenhimmel war hier so hell und deutlich, wie Seraphia ihn noch nie gesehen hatte. Am Horizont leuchtete ein grünlich-blaues Licht auf.

»Was ist das?«

»Nordlichter. Nur ein atmosphärischer Effekt.«

»Das ist faszinierend und wunderschön. Ich wünschte, wir wären hier, um dieses Land zu bereisen. Frei von Pflicht und Sorge. Die Berge sind so anders als daheim! Es ist eisig kalt! Ich habe noch nie eine derartige Kälte gespürt. Was ist das dort?«

Seraphia plapperte aufgeregt wie ein Kind und zeigte auf einen breiten Turm, der im Tal aus dem Eis ragte.

»Tojantur. Ihadrun fand das Bauwerk unter dem Eis und ließ es freilegen. Seine Erbauer sind unbekannt. Ich komme nicht weiter heran, da etwas in Tojantur mich davon abhält. Wir werden zu Fuß gehen. Wenn wir uns in der Luft nähern, ist die Gefahr zu groß, dass man uns aus der Ferne erspäht. Außerdem steht mir der Sinn nach einem Spaziergang. Ich brauche Zeit zum Denken. Komm!«

Seraphia ließ ihren Blick über die verschneiten Gipfel wandern und tat ein paar Schritte. Der Schnee knirschte eigenartig unter ihren Sohlen. Sie zog ihre Handschuhe aus und nahm ihn in die Hände. Winzig kleine Eiskristalle schmolzen auf ihrer Haut. Dampfend hing ihr Atem vor ihr in der Luft. Sie hatte nie die verschneiten Gipfel der Berge Iidrashs erklommen und das Kloster der Flammengrube lag nicht hoch genug, als das dort Schnee fiel. Das Gefühl unter ihren Sohlen war ihr völlig fremd, denn auf dem Kontinent Iidrash schneite es nie.

Charna war bereits ein Stück voraus auf dem steinigen Pfad gewandert und Seraphia folgte ihr eilig. Ein kalter Wind blies den pulverigen Schnee über den schmalen Pfad und Seraphia folgte den weißen Wirbeln fasziniert mit den Augen. Klar und deutlich drang jedes noch so kleine Geräusch durch die klirrend kalte Luft zu ihr, dennoch lag eine Stille über allem. Keine Pflanze wuchs hier oben, kein Tier war in Sicht. Sie wanderten schweigsam für zwei Stunden tiefer und tiefer in das Tal und passierten bald die Baumgrenze. Bäume mit Nadeln statt Blättern wuchsen kegelförmig in die Höhe. Seraphia kannte sie nur von Zeichnungen und berührte neugierig die pieksenden Nadeln. Sie nahm die fremdartige Umgebung mit wachsender Begeisterung wahr.

Dies ist beinahe exotischer als Kitaun! Ich komme mir vor, als wäre ich in einer anderen Welt …

Sie lachte vergnügt und atmete die eiskalte Luft ein. Ein harziger Geruch hatte sich auf ihre Finger gelegt.

Charna zeigte auf Tojantur. Sie waren bereits auf gleicher Höhe mit einem glänzenden Bauwerk und sie hielt inne.

»Der Turm ist nur wie die Spitze eines Eisbergs. Tief unter dem Eis liegt die eigentliche Stadt.

»Eine ganz Stadt ist da unten?«, fragte Seraphia verblüfft.

»Es ist ein bisschen wie Idrak, nur dass hier weniger Menschen leben und viele Bereiche von Tojantur verlassen sind. Es ist ein gefährlicher Ort. In seinen Tiefen treiben sich eigenartige Wesen herum. Eine Macht wohnt diesem Ort inne.

Wir werden durch einen Bereich eindringen, den kaum jemand kennt und wer ihn kennt, betritt ihn nicht ohne Not. Es sind Kammern in der Tiefe, die man durch einen Tunnel erreichen kann, der vom Boden dieser Klamm dort beginnt.«

Charna deutete auf eine Felsspalte zu ihrer Rechten, aus der ein bogenförmiger Träger herausragte, an dem lange Eiszapfen herabhingen.

»Sollten wir nicht allmählich einer Person begegnet sein? Es ist wie ausgestorben hier«, sagte Seraphia.

»Nein. Das ist normal. Es führt nur ein Weg direkt nach Tojantur. Der Fluss Eijskaart. Wir sind auf der anderen Seite Tojanturs, hier oben lebt niemand, wegen der Werwölfe und der Tuskaniim.«

»Werwölfe? Und was sind Tuskaniim?«

»Männer, die sich in ihrer Initiation in Werwölfe verwandelt haben, werden von den Frauen der Berge, den Tuskaniim, gefunden und in die Höhlen geführt, die sich wie ein Labyrinth durch das Gestein dieses Bergmassivs ziehen. Die Tuskaniim sind eine archaische, primitive Sekte, die den alten Wegen der Eishexen folgt. Ihre Macht ist groß. Sie bleiben in der Regel unter sich, doch sie sind sehr territorial und dulden niemanden hier.«

Seraphia sah sich um.

»Wir werden seit einer Stunde beobachtet. Dort oben, und dort«, sagte Charna und winkte freundlich einem Paar gelblich schimmernder Augen in einem Schatten zu, das sich daraufhin zurückzog.

Seraphia räusperte sich. »Sollten wir nicht etwas zurückhaltender sein?«

Charna lachte und heulte laut wie ein Wolf. Es klang erstaunlich echt und Seraphia riss die Augen auf, als ihre Stimme ein vielfaches Echo in den Bergen fand.

»Ich habe immer Verstecken mit den Werwölfen gespielt, als ich noch ein Kind war.«

Seraphia starrte die Hohepriesterin fassungslos an, als diese wieder den Weg entlang ging.

Na klar. Warum nicht?

Seraphia folgte ihr hinüber zur Klamm. Sie umrundeten einen titanischen Pfeiler, der den bogenförmigen Träger stützte, von dem Eiszapfen so hoch wie ein Haus herabhingen. Das Material des Pfeilers wirkte uralt.

»Was ist das für ein Ort?«

»Welchem Zweck er diente, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich als Halbwüchsige hier unten einmal verloren gegangen bin und einen Riesenärger bekam. Ich habe zwar nach drei Tagen meinen Weg zurück nach Tojantur gefunden, aber nicht, bevor ich unzählige der Bewohner dieses Ortes … kennenlernen durfte. Sei vorsichtig jetzt.«

Seraphia zog ihre Handschuhe aus. Sie wollte die Hände frei haben. Charna führte sie tiefer in die Klamm, wo weitere der alten Träger standen. Sie umrundeten den Letzten und Charna deutete in die Höhe, zu einem rechteckigen Loch, das künstlichen Ursprungs sein musste. Finstere Schatten lagen darin.

»Durch dieses Fenster gelangen wir in eine Kammer. Von dort erreichen wir den Tunnel.

Charna trat hinter Seraphia und hielt sie fest. Seraphia hielt die Arme der Hohepriesterin umklammert. Sie erhoben sich in die Luft und erreichten das Loch in der Felswand. Seraphia quetschte sich hindurch und Charna folgte ihr sogleich. Ein trüber Lichtschein erglomm in Charnas linker Hand. Sie betraten eine Kammer, in der eine Wand mit einer metallenen Konsole bedeckt war, deren Zweck Seraphia nicht einleuchten wollte.

»Was ist das?«

»Maschinen. Uralt. Zerstört und unbrauchbar. Komm!«, sagte sie und führte sie eine halbe Stunde lang durch einen schnörkellosen Gang mit zahlreichen Tropfsteinen an der Decke, der in einem größeren Raum endete. Die Hohepriesterin ließ ihr Licht heller aufleuchten.

Seraphia öffnete den Mund. Sie standen in einer unvorstellbar großen Halle, deren runde Kuppel sich Hunderte Schritt hoch über ihnen wölbte. In der Mitte der Halle ragte ein gewaltiger Pilz aus Metall aus dem Boden. Ein sanftes Leuchten ging von geometrisch gezeichneten Rissen in seiner Oberfläche aus und viele der leuchtenden Adern zogen sich bis in den Boden hinein und die Wände bis zur Kuppel hinauf.

»Was ist das?«

Charna lachte vergnügt. »Ich habe keine Ahnung! Aber ist es nicht fantastisch?«

Seraphia rief ihre Aurasicht herbei. Die Elemente der Luft und der Erde waren hier überdeutlich vertreten. Eine große Kraft ruhte an diesem Ort.

»Wer hat das errichtet?«

Charna zuckte mit den Schultern. »Es gibt ein Dutzend dieser Kammern in den Tiefen des Gebirges. Ich habe keine Ahnung, wozu sie dienen, es sind jedenfalls keine MA-Reaktoren. Folgt man ihren Energieströmen, stellt man fest, das nur einige nach Tojantur weisen. Andere führen tiefer in die Erde hinab.«

Seraphia ergriff Charnas Hand und schaute sie flehend an. »Versprich mir, dass wir eines Tages hierher zurückkehren! Ich möchte mehr solcher Orte sehen!«

Charna lachte. »In dir steckt eine Abenteurerin, was? Ich kann dich gut verstehen. Es gibt vieles, was ich dir zeigen könnte. Also gut. Versprochen!«

Charna lachte, als Seraphia ihr um den Hals fiel.

»Danke!«

»Warum so überschwänglich?«, fragte Charna lachend.

Seraphia sah sich in der Halle um. »Ich weiß nicht. Ich habe die Gewissheit, dass dies ist, was ich schon immer machen wollte. Kennst du nicht dieses Gefühl? Etwas wartet da draußen auf dich? Etwas Großes? Ich habe dieses Gefühl, seit ich denken kann und jetzt, wo wir dieses Land betreten, weiß ich genau, dass ich mehr von dieser Welt sehen will! Von allen Welten!«

»Ich hoffe, wir haben eines Tages die Gelegenheit dazu«, sagte Charna lachend. »Es ist schön, dies mit jemandem zu teilen. Ich bin noch nie mit irgendjemandem aus Iidrash hier gewesen. Es ist ein gutes Gefühl, dir diese Orte aus meiner Kindheit zu zeigen. Ich freue mich, dass du mitkommst, Sera.«

Seraphia und Charna sahen sich an.

»Es muss etwas geben, für das man kämpft. Dabei darf man auch mal an sich denken. Ich weiß nur, dass ich neugierig bin auf all die Geheimnisse, die entdeckt werden wollen. Ich lasse mir das nicht einfach wegnehmen.«

Charna nickte. »Wenn du es so ausdrückst … so habe ich noch nie darüber gedacht. Ich habe einige Welten bereist, aber nur, um meine Pflichten für den Orden zu erfüllen. Ich würde gerne einfach nur so umherziehen und sehen, was es zu entdecken gibt, wie früher, als ich noch hier herumgetollt bin.«

Charna lachte und drehte eine alberne Pirouette.

»Dann ist es abgemacht! Eines Tages ziehen wir gemeinsam hinaus und erkunden das Universum!«, sagte Seraphia und klatschte in die Hände

Charna lachte noch lauter und das Echo ihrer melodischen Stimme hallte durch den Raum.

»Eines Tages, Sera. Heute und Morgen und viele Tage danach müssen wir kämpfen, bis dieser Tag endlich anbrechen darf. Und dann erkunden wir das Universum!«

Seraphia nickte lachend und schaute sich noch einmal in der Halle um, als ob sie jedes Detail aufsaugen wollte.

So soll ein Leben sein! Abenteuer und faszinierende Orte! Rätsel und Entdeckungen! Frei und ungebunden! Ich werde dafür kämpfen! Eines Tages …

Sie verließen die Halle und folgten einem Tunnel, der durch Tauwasser halb zugefroren war. Charna brannte ein Loch hindurch und bald gelangten sie an ein breites Tor, das in eine Felswand eingelassen war, die wie eine vereiste Schlucht im Inneren des Berges in ungeahnte Tiefen hinabreichte. Eine natürliche Brücke aus Felsgestein führte hinüber. Sie traten vor das zweigeteilte Tor, das nachtschwarz und kolossal vor ihnen aufragte. Geometrische Reliefs aus komplexen Knotengeflechten zierten die Oberfläche des dunklen Metalls. Worte in zackigen Schriftzeichen waren links und rechts vertikal in den Fels gehauen und leuchteten in einem blassen Blau.

»Dies ist Tojantur. Der verlassene Teil der Stadt«, sagte Charna und hob die Hand.

Die Torflügel öffneten sich mit einem seufzenden Laut.


Das Feuer Kabals
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