Kapitel 5

Mikar stand auf der Aussichtsterrasse. Er musste sich einen Überblick verschaffen, bevor er Entscheidungen traf. Der gehörnte Hauptmann der Tempelgarde, Grond, begleitete ihn auf einer Stute, die sehr nervös in der Gegenwart des Kentaurs war. Er erstattete Bericht von den Wachposten, die sich per Fernübertragung gemeldet hatten. Es waren keine Feindbewegungen zu erkennen, doch das allein gab Mikar noch keine Ruhe. Das Idrak-Tal lag vor ihnen und wurde von dichtem Morgennebel verhüllt.

Er deutete in die Landschaft. »Ich werde mir einen persönlichen Eindruck vor Ort verschaffen und nacheinander den Pass der vier Winde, die Ebene der Schlacht von Krag, die Festung an der Gabelung der Kli‘Por und die Tempelstraße erkunden. Ich gebe ein Signal mit dem Speer. Ein grüner Strahl bedeutet: alles in Ordnung. Ein roter Strahl: Gefahr! Ich kehre danach zurück.«

Grond nickte. »Ich habe die Späher mit den Kraindrachen hinausgeschickt. Sie behalten den Himmel im Auge«, sagte er. Seine Stimme war rau vom Schreien vieler Befehle. Unter ihnen schossen die Kraindrachen aus dem Berg Idrak. Die Rüstungen ihrer Reiter glänzten im Licht der aufgehenden Sonnen. Die Schreie der Drachen hallten von den Felswänden wider.

Mikar nickte Grond zu und ließ sich in einem Lidschlag durch die Macht des Speers auf den Pass der Vier Winde tragen, der den südöstlichen Zugang zum Idrak-Tal bildete. Der Vorgang war elegant und leise in seiner Schlichtheit. Keine Blitze, kein Donnern, und in einer Sekunde war er dort. Er kniff die Augen zusammen, denn der starke Südost-Wind blies auch heute über den Pass und galoppierte die befestigte Straße entlang. Er beobachtete die Umgebung. Die Felsen ragten links und rechts hoch hinaus, die Wachen waren fast unsichtbar auf ihren Posten und bemerkten ihn. Im Trab erreichte er die Grenzbefestigung, die den Gebirgspass schützte. Die massiven Mauern des alten Bollwerks waren zwischen den hohen Felswänden des Passes errichtet worden. Ein Durchkommen war hier unmöglich, es sei denn, das titanische Gittertor wurde aus dem Inneren der Festung heraus geöffnet. Mikar hielt vor dem verschlossenen Eingang inne, bis man ihn erkannte und begrüßte. Das tonnenschwere Tor bewegte sich langsam nach oben. Im Innenhof standen nervöse Wachen bereit, die den Aufruhr im Tempel mitbekommen hatten. Der Hauptmann der Grenzwache empfing ihn, berichtete jedoch nichts Außergewöhnliches. Mikar gab den Befehl zur Wachverstärkung für unbestimmte Zeit und ließ einen grünen Strahl aus dem Speer schießen, bevor er sich verabschiedete.

Maraks Speer brachte ihn in einem Sekundenbruchteil weiter nach Norden, in die Ebene der Schlacht von Krag, im Mündungsdelta des Kli‘Por. Vor langer Zeit waren die Völker der Frostreiche einmal über diesen Weg gekommen. Den für eine Armee unüberwindlichen Sumpf hatten sie passiert, indem die Eishexen die Oberfläche zufrieren ließen. Sie hatten die Schlagkraft des Tempels im Zentrum seiner Domäne jedoch unterschätzt. Die Priesterinnen ließen das Eis schmelzen, während die Garde den Vormarsch der feindlichen Truppen verzögerte, indem sie in einer selbstmörderischen Handlung frontal angriff. Die Priesterinnen des Ordens gewannen schnell die Oberhand über die Eishexen und die Armee der Frostreiche versank im Morast. Wanderer, die sich dorthin trauen, finden zuweilen Schädelknochen oder verrostete Waffen.

Der Nebel über dem Sumpf war aus der Ferne dichter als aus der direkten Nähe. Mikar konnte problemlos tausend Schritt weit sehen. Er überprüfte den Boden an einigen weit auseinanderliegenden Punkten, indem er während eines leichten Trabs mithilfe des Speers ein paar Mal sprang. Der Grund war überall gleich weich und matschig und Mikar fluchte, als er an einer Stelle bis zum Sprunggelenk einsackte. Es war niemand zu sehen, die Vögel des Sumpfgebietes wirkten ruhig. Er feuerte einen grünen Strahl in den Himmel und verließ in einer neuerlichen Teleportation das alte Schlachtfeld.

Er versetzte sich südlich des Sumpfes, direkt in die Festung an der Gabelung der Kli‘Por, des breiten Flusses, der dem Idrak-Gebirge entsprang. Die uralten Pflastersteine der Festung Kli‘Karan klackten unter seinen Hufen. Einige Wachen rannten sofort herbei, die Schwerter gezückt. Ein Pfeil sirrte von einer Bogensehne und Mikar fing ihn lachend aus der Luft. Die Festung wurde von der Tempelgarde gehalten.

»Ho! Gut geschossen, aber begrüßt man so einen Freund?«, rief Mikar.

Die Wachen erkannten den Träger von Maraks Speer, hielten erleichtert inne und lachten. Der Dienstälteste sprach Mikar an.

»Ihr seid es, Herr! Wir sahen die warnenden Feuer am Tempel und wie die Kraindrachen aufstiegen. Da wurden wir ein bisschen nervös. Wir warten noch auf einen Boten - das verdammte Fernübertragungsgerät funktioniert mal wieder nicht. Was ist denn passiert?«

Mikar berichtete vom Mordversuch an Seraphia und befahl den Soldaten, die Wache zu verstärken. Er gab Grond das Zeichen und sprang zurück zur Tempelstraße, die bereits von der Aussichtsterrasse im Tempel zu überblicken gewesen war. Nichts Ungewöhnliches war zu sehen. Die Reisenden auf der Straße machten ihm respektvoll Platz und er beruhigte die Leute, die ihn mit Fragen zur Situation löcherten. Die Kraindrachen kreisten im Licht der aufgehenden Sonnen, doch das Tal lag noch im Schatten. Es war kühl an diesem Morgen. Mikar schritt gemächlich dahin und musterte das reisende Volk. Es waren Pilger und Händler, Priesterinnen und Handwerksleute. Alles Bewohner Iidrashs. Er sprang ein paar Mal und vergewisserte sich, dass überall das gleiche Bild zu sehen war. Nichts erregte seine Aufmerksamkeit.

Irgendetwas stimmt nicht. Ich muss wissen, ob Cendrine und Faunus mehr Infiltratoren aufgespürt haben. Das Ganze könnte ein Ablenkungsmanöver sein, um uns hier festzuhalten, wo wir längst bei den Sidaji sein sollten.

Mikar ließ einen grünen Strahl in den Himmel schießen und sprang zurück zur Aussichtsterrasse. Grond erwartete ihn.

»Nichts zu sehen. Womöglich ist der Angriff in der Wohnetage nur eine Ablenkung gewesen. Lass die Männer trotzdem die Augen offen halten, und darauf achten, dass der Tempelbetrieb ungestört fortgesetzt werden kann.«

»Die Kraindrachen und ihre Reiter haben nichts entdecken können, aber ich lasse sie vorerst die Küste und die nähere Umgebung patrouillieren.«

Mikar verabschiedete sich von Grond und sprang mit der Macht des Speers zurück in die Wohngemächer. Er sah die unverwechselbare Silhouette des Minotaurs und näherte sich der Gruppe, bei der Thanasis stand. Kassandras rote Haare leuchteten bereits aus der Entfernung. Sie redeten mit einer jungen Priesterin in einer roten Robe, die arg mitgenommen aussah. Schwarze Schminke lief ihr übers Gesicht, als ob sie geweint hätte. Mikar spürte die Aura der fremdartigen Macht, die sie umgab. Es musste Seraphia, die Herrin der Dunklen Flamme sein, deren Begegnung mit der Eishexe für den ganzen Tumult gesorgt hatte. Ihre Blicke trafen sich und Mikar nahm besorgt die Leere in ihrem Ausdruck war. Er kannte diesen Blick von unerfahrenen Kriegern, die aus ihrer ersten Schlacht zurückkehrten. Im Gemetzel waren sie ihrer dunklen Seite begegnet. Manche erholten sich davon und konnten wieder lachen und lieben, andere blieben stumm und behielten diesen Blick bis zum Tode bei. Sie glichen Marionetten, die nur in der Schlacht, auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod aus ihrer Starre erwachten.

Zu welcher Sorte gehörst du, junge Priesterin?

Thanasis warf ihm einen Blick zu, der Mikar sagte, dass sein alter Freund und Gefährte unzähliger Gefechte den Ausdruck in den Augen der jungen Priesterin ebenfalls gesehen hatte.

Kassandra führte Seraphia fort, als die Lampen an der Decke erneut zu Leben erwachten. Thanasis forderte Mikars Aufmerksamkeit. Der titanenhafte Minotaur war der Einzige, der ihm in die Augen blicken konnte, ohne dabei aufzusehen. Auch darüber hinaus waren Thanasis und er stets auf Augenhöhe gewesen. Er freute sich darauf, dass der Minotaur seinen Posten als Wächter des Schwarzen Labyrinths aufgeben wollte. Womöglich hatten sie dann endlich ein bisschen mehr Zeit, um Kabal und andere Welten zu erforschen. Die Reiselust hatte Mikar schon vor Monaten gepackt, doch bisher hatte sich keine Gelegenheit ergeben. Er seufzte. Damit war es vorerst vorbei. Thanasis schien seine Gedanken zu lesen.

»Der Urlaub muss warten, mein Freund!«, sagte er lachend.

»Immer dieselbe Scheiße. Und nicht einmal ein paar Schädel zum Einschlagen!«, sagte Mikar.

Sie lachten so laut los, dass sich einige Köpfe in ihre Richtung drehten. Ein Lichtblitz zuckte auf. Es war Charna.

»Mikar, Thanasis! Wir treffen uns sofort in der Halle des Feuers. Die Eishexe muss eine Ablenkung gewesen sein.«

Thanasis blickte den Gang hinunter. »Ich suche Sandra und die junge Priesterin.«

Charna verschwand erneut in einem Lichtblitz, bevor Mikar das Wort an sie richten konnte. Er murmelte einen leisen Fluch und wandte sich geblendet ab. Am anderen Ende des Ganges tauchte Faunus auf. Es war nur eine seiner Inkarnationen, denn plötzlich überholte ein weiterer Faunus ihn und winkte Mikar mit sich.

»Steh nicht rum, das Heu gibt es später! Wir sehen uns in der Halle des Feuers.«

Mikar zog eine Grimasse und Faunus lief lachend zu Faunus. Eine dritte Inkarnation öffnete eine Tür und winkte Thanasis zu.

»Sandra ist hier, du Rindvieh!«

Dreimal Faunus verschwand hinter der Tür und Thanasis drehte sich um. Die Arme ratlos ausgebreitet.

»Wer ist bloß auf die Idee gekommen, diesen Blödian aus seinem Wäldchen zu holen?«, sagte er und folgte dem Herrn von Garak Pan.

Mikar lachte leise. Es war gut, dass Faunus wieder zu sich gefunden hatte. Sie brauchten seine Fähigkeiten. Angeblich war es die junge Priesterin gewesen, die das bewerkstelligt hatte.

Kein Wunder, sie ist genau sein Typ.

Mikar versetzte sich in die Haupthalle des Inneren Sanctums. Die Wohngemächer waren ihm zu eng. Er sah zum steinernen Abbild Sarinacas auf und fragte sich zum tausendsten Male, ob sie lebte oder tot war. Diese Frage war so sehr Teil seines Lebens geworden, dass er sich kaum noch an das Gefühl erinnern konnte, als Sari, Cendrine, Thanasis und er zusammen über Kabal geherrscht hatten. Bevor diese kalte Ausgeburt des Nordens, diese selbst ernannte Gottkaiserin Jenara die Frechheit besaß, Anspruch auf die Herrschaft über Kabal zu erheben.

Er seufzte. Unter Umständen war ihr Anspruch nicht so unbegründet. Die Völker der Frostreiche waren zahlreich geworden. Das einstige Nomadenvolk hatte sich enorm entwickelt. Sie lebten in Städten, die der Pracht des Tempels hier in Idrak kaum nachstanden. Aber sie hatten keinen Zugriff auf die alten Artefakte der Sidaji.

Noch nicht.

Mikar grübelte weiter und verlor sich in wahllosen Erinnerungen aus einer Zeit, die die Geschichtsschreibung anders beschrieb, als er sie erlebt hatte. Manchmal wusste er nicht mehr, was der Wahrheit näher war - sein Gedächtnis oder die Worte der Historiker, gebannt auf endlose Rollen Pergament, gemeißelt in jede Mauer der zahllosen Tempel und Prunkbauten Iidrashs.

Er spürte Cendrines Gegenwart und drehte sich um. Sie wirkte angespannt. Müde.

»Weißt du, wo Charna ist?«, fragte sie.

»Sie teleportiert von einem Ort zum andern. Keine Ahnung, wo sie jetzt ist. Wir sollen uns in der Halle des Feuers versammeln.«

»Dann können wir zusammen hingehen.«

»Komm her!«, sagte Mikar. Er bot ihr einen Arm und Cendrine griff lächelnd zu, zögerte dann jedoch.

»Hier?«, fragte sie leise und sah sich vorsichtig um.

Mikar lächelte sie aufmunternd an. Sie schwang sich auf seinen Rücken und nahm direkt hinter ihm Platz. Er trug Maraks Speer in der Hand, so hatte sie Gelegenheit, dichter an ihn heranzurücken. Sie legte die Arme um ihn und drückte sich fest an seinen breiten Rücken. Vor vielen Jahrhunderten waren sie so über Iidrashs weite Ebenen geritten. Nur sie zwei. In einer Zeit, die mehr Abenteuer und weniger Sorgen für sie bereitgehalten hatte.

Belüge ich mich selbst? Hatten Cendrine und ich nicht schon damals viele Kämpfe durchzustehen? Vermutlich werden wir allmählich dekadent.

Mikar ließ die Hufe durch die Luft wirbeln und preschte im vollen Galopp durch das Innere Sanctum. Cendrine schrie vergnügt und überrascht auf. Er fegte an zwei verblüfften Priesterinnen vorbei, die ihnen lachend nachschauten und bog mit Funken schlagenden Hufen in den Gang, der zur Halle des Feuers führte. Cendrine lachte so heiter, wie sie es früher getan hatte und Mikar hielt ihre Hand fest. Er trabte den Rest des Weges und stieß die breiten Bronzetore auf, die Zugang zur Halle des Feuers gewährten. Der Versammlungstisch war leer, außer ihnen noch keiner anwesend. Er trat an den runden Tisch aus schwarzem Granit, der seit tausend Jahren als Konferenztisch diente. Einige der wichtigsten Entscheidungen in Kabals langer Geschichte waren hier diskutiert worden. Die hohen Säulen des Raumes bildeten die Form wilder Flammen und die Wände waren mit goldenen Mosaiken aus der Historie Kabals geschmückt. Zwei Schränke aus Bronze schützten die Pergamente mit den wichtigsten Verträgen und Abkommen, die hier unterzeichnet worden waren. Er wartete und Cendrine wollte absteigen.

Er hielt sie sanft fest und flüsterte über die Schulter. »Es geht dir nicht gut. Ich bin für dich da, wenn du reden willst.«

Cendrine zögerte und klammerte ihn dann an sich. »Ich weiß. Wir werden Zeit zum Reden haben. Nicht jetzt.«

Stimmen aus dem Gang kündeten davon, dass sie bald nicht mehr allein waren. Cendrine schwang sich von ihm herab. Er musterte sie.

Körperlich ist sie in Ordnung. Etwas stimmt dennoch nicht mit ihr.

Charna erschien in einem Lichtblitz auf der entgegengesetzten Seite des Tisches und Cendrine löste sich von ihm, nahm eine unnahbare Haltung an. Die Anderen kamen nun ebenfalls in die Halle des Feuers, in Gespräche verstrickt. Kassandra und Thanasis blieben in der Nähe des Eingangs stehen, sie unterhielten sich ruhig.

Rauft euch wieder zusammen, ihr beiden!

Faunus stützte Seraphia, die abwesend und erschöpft wirkte.

»Zwischen uns hier ist sie kaum mehr als ein Kind«, sagte Cendrine leise, als sie Mikars Blick folgte.

»Ein Kind mit einer schrecklichen Macht in den Händen.«

»Ihre Unschuld und ihr Wesen sind notwendig, um die Macht der Dunklen Flamme im Zaum zu halten. Kujaan war eine deutlich schlechtere Wahl.«

»Kujaan starb durch die Macht, die ihr Leben korrumpiert hat.«

»Du solltest Seraphia besser kennenlernen, bevor du ihr das gleiche Schicksal voraussagst.«

»Ich befürchte, die junge Priesterin, die du so hoch schätzt, ist vor wenigen Stunden gestorben. Dies ist eine neue Seraphia: die Trägerin der Dunklen Flamme.«

Cendrine schwieg und musterte Seraphia. Es sah aus, als ob sie noch etwas sagen wollte, doch sie hielt sich zurück. Ein dunkelhäutiger Mann in dunklen Roben trat durch den Eingang. Er sah aus, als wäre er zum ersten Mal in der Halle des Feuers. Seine Haltung verriet jedoch Selbstbewusstsein und Macht. Sein Aussehen war völlig normal, doch Mikar spürte die magische Begabung. Er fragte sich, wieso er unverändert aussah. Er wechselte in die Aura-Sicht und erschrak. Seine Aura war unförmig, chaotisch. Keine Form hielt länger als eine Schrecksekunde und zerfiel dann wieder.

Was bist du?

Mikar packte seinen Speer fester, doch Cendrine legte eine Hand auf seinen Arm.

»Mehmood. Der Hüter des Zugangs zum Namenlosen Abgrund.«

Mikar sah Cendrine überrascht an. »Die Gerüchte sind wahr? Es gibt einen neuen Herrscher dort?«

»Sein Name ist Seral.«

»War das nicht der Kerl mit dem Charna …«

Cendrine nickte lächelnd und Mikar hob die Augenbrauen, verzog den Mund und zuckte schließlich mit den Schultern.

»Woher wusstest du …?«, fragte Cendrine.

»Gerüchte und Tratsch«, Mikar wedelte mit der Hand, fuhr dann fort, »Was ist Mehmood?«

»Ein Gestaltwandler.«

»Ich dachte, die wären nur Legende.«

»Ich habe in all den Jahren nur zwei von ihnen kennengelernt. Sie sind äußerst selten und grundsätzlich sehr mächtig.«

Mikar musterte Mehmood, bis dieser seinen Blick bemerkte und ihm freundlich lächelnd zunickte. Mikars Gesichtsausdruck war steinern und Mehmood schluckte.

»Du starrst wieder«, flüsterte Cendrine.

Mikar räusperte sich und nickte Mehmood zu. Dieser schien sich etwas zu entspannen und trat näher an den Tisch, als Charna in die Hände klatschte.

»Setzt euch bitte! Wir müssen das hier schnell erledigen, wir brechen in zehn Minuten auf.«

Stuhlbeine kratzten über den Boden, Waffen klirrten, Kleidung raschelte. Charna ließ mit einem Wink die Bronzetüren der Halle zufallen. Sie waren nun allein.

»Ich bin gewiss nicht die Einzige, die davon ausgeht, dass der Mordversuch an Seraphia ein Ablenkungsmanöver war. Wie ich vorhin erfahren habe, ist Jenara inzwischen bei den Sidaji eingetroffen. Ich werde versuchen, ihr einen Friedensvertrag anzubieten. Sie wird sich vermutlich nicht darauf einlassen. Ich weiß nicht, was uns bei den Sidaji erwarten wird, doch ich bin mir sicher, dass schwierige Zeiten vor uns liegen.« Charna holte tief Luft und zögerte einen Augenblick. »Ich werde Sarinaca für Tod erklären lassen.«

Cendrine sprang so plötzlich auf, dass ihr Stuhl nach hinten umkippte. »Das ist nicht dein Ernst«, rief sie erschüttert.

»Sieh die Tatsachen, Cendrine! Jenara glaubt nicht an eine Rückkehr meiner Mutter. Sie hat keine Angst mehr vor der Göttin des Feuers. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie ihren Anspruch auf die alleinige Herrschaft über Kabal stellen wird. Ich werde diesen Anspruch nicht anerkennen, aber ich werde einen Krieg vermeiden, solange es geht. Wenn ich den Tod Sarinacas offiziell verkünde, gibt es die politische Möglichkeit, die Herrschaft über Kabal aufzuteilen. Eine diplomatische Lösung.«

Cendrine starrte Charna wütend an. Die Spannung im Raum erreichte eine gefährliche Schwelle, als Charnas Augen anfingen zu glimmen. Mikar, der hinter Cendrine stand, hob ihren Stuhl auf und räusperte sich. »Setz dich bitte!, sagte er leise und schob den Stuhl an Cendrines Beine. Sie zögerte und setzte sich schließlich ruckartig.

»Wenn der Orden den Tod seiner Gottheit verkündet, wird seine Macht schwinden. Du wirst mehr verlieren, als einen theoretischen Anspruch auf die Herrschaft über Kabal. Der Orden wird zerfallen. Die Frostreiche werden über uns herfallen und uns zerfleischen.« Cendrines Stimme war fest und leise.

Schweigen senkte sich über die Gruppe und Charna starrte ein Mosaik an der Wand an. Sarinaca war dort abgebildet, auf der Höhe ihrer Macht.

Thanasis meldete sich zu Wort. »Charna hat recht, Cendrine. Sarinaca …«

Cendrine schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass der Stein ein dumpfes Geräusch von sich gab. »Ja, möglicherweise ist Sari wahrhaftig tot!«, rief Cendrine und zögerte dann. Charna und alle anderen sahen überrascht auf. »Es ist nicht so, dass ich die Fakten nicht erkennen kann. Hier geht es jedoch um das Überleben des Ordens und die Herrschaft über Iidrash. Jenara wird sich auf nichts einlassen, was du vorschlägst, Charna. Sie will den Orden zerschlagen und du spielst ihr den Ball in die Hand. Ohne die Macht der Sidaji zwischen den Kontinenten wird Jenara keinen Friedensvertrag unterzeichnen - nicht ein zweites Mal.«

»Und was soll ich dann machen? Oder kannst du mir nur sagen, was ich nicht tun soll, Cendrine?« Charna war ruhiger, als Mikar ihr zugetraut hatte.

»Du wirst an Sarinacas Stelle treten.«

Mikars Worte schlugen wie ein Blitz in die Versammelten. Cendrine wandte ihm überrascht den Kopf zu, Kassandra schloss die Augen, Seraphia schreckte aus ihrer Abwesenheit auf. Mehmood, Faunus und Thanasis flüsterten einander zu. Charna stand auf und wanderte in der Halle auf und ab und blieb vor dem Mosaik stehen. Sie überlegte minutenlang, während das Gespräch am Tisch immer lauter wurde. Schließlich drehte sie sich um. Die Männer schwiegen erwartungsvoll.

»Ich kann das nicht tun. Ich will Kabal nicht in einen Krieg stürzen. Der Friedensvertrag mag zum Scheitern verurteilt sein, aber die Last dieser Entscheidung liegt bei Jenara, nicht bei mir«

Cendrine beugte sich vor. »Und Sarinaca? Wirst du ihren Tod verkünden oder nicht?«

Charna schien unsicher. Sie blickte in ihre Hand, überlegte lange und holte schließlich tief Luft. Mikar glaubte etwas kleines Schwarzes zu erkennen, doch dann sah sie wieder auf und schloss die Hand. Schwäche und Resignation waren einen Atemzug lang in ihrem Gesicht zu sehen, dann waren die Gefühle von einer Maske überdeckt.

»Ich werde Cendrines Rat befolgen und damit warten«, sagte Charna leise und fuhr dann lauter fort, »Aber eines Tages wird der Zeitpunkt kommen, wo wir uns dieser Angelegenheit stellen müssen.«

Cendrine neigte das Haupt in Charnas Richtung. »Eines Tages, aber nicht heute«, sagte sie beruhigt.

Charna nickte ernst. »Wir sollten nicht mehr länger zögern, die Diener warten mit unseren Sachen«

Sie verließ die Halle des Feuers. Die Gruppe stand auf und folgte ihr.

Mikar hielt Cendrine zurück. »Es ist eine Weile her, dass ich dich so aufgeregt sah«, sagte er und hob ihr Kinn an, damit sie ihn ansah. Sie schlug seine Hand beiseite und funkelte ihn an. Mikar hob seine Hände und ging an ihr vorbei.

»Mikar!«, rief Cendrine einen Moment später, doch Mikar hob abwehrend die Hand und ließ sie stehen. Er folgte Thanasis, der sich zu ihm umwandte.

»Deine Worte im Orakel von Khuranc«, der Minotaur nickte Kassandra zu, «ergeben einen unangenehm einleuchtenden Sinn«, sagte er bedrückt. »Ich sehe Zwietracht und womöglich auch Krieg vor uns, egal wie Charna sich nun entscheidet. Und so gern ich auch etwas Handgemenge von Zeit zu Zeit habe, ein Krieg wäre tatsächlich wenig willkommen.«

Kassandra schüttelte eindringlich den Kopf und ergriff Thanasis Arm. »Lass es nicht zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Noch können wir den Frieden aufrechterhalten.«

Cendrine schloss zu ihnen auf. Mikar warf ihr einen Blick zu und streckte ihr die Zunge raus. Sie lächelte ihn schief an und ihr Blick sagte ihm, dass es ihr leidtat, ihn abgewiesen zu haben. Er reichte ihr seine Hand, doch sie ergriff seinen Unterarm, zog sich auf seinen Rücken hinauf. Mikar lächelte erstaunt. Cendrine beugte sich vor, bis sie sein Ohr mit den Lippen streifte »Mir egal, was die anderen denken.«

Mikar freute sich. Aber er war auch verwirrt. Das war nicht die Cendrine, die er kannte.

Ich muss endlich erfahren, was mit ihr los ist!

Die Gruppe erreichte das Innere Sanctum. Priesterinnen hatten sich versammelt und Diener hielten ihr Gepäck bereit. Sie würden die Delegation zu den Sidaji begleiten. Charna wandte sich zu Mikar um und zögerte, als sie Cendrine auf seinem Rücken sah. Sie nickte ihm zu und gab ihm damit das Signal zum Aufbruch. Er hob Maraks Speer und konzentrierte sich. Er musste die Versammelten und ihr Hab und Gut erfassen, bevor er sie alle in die Sümpfe der Sidaji versetzte. Als er so weit war, gab er dem Speer den Befehl und einen Lidschlag später befanden sie sich nicht mehr auf dem Kontinent Iidrash.


Das Feuer Kabals
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