Die Artefakte der Macht

Kapitel 1

 

Hier bin ich nun, inmitten einer Misere, die ich nicht zu verantworten habe. Wie konnte das alles nur so weit kommen?

Charna sah den letzten grünlichen Nebelschwaden hinterher, als diese durch einen Windhauch in den nächtlichen Himmel getrieben wurden und sich endgültig auflösten. Erst waren die Sidaji tödlich erkrankt und nun das. Irgendjemand wollte sichergehen, dass die Macht der Echsen gebrochen wurde, und hatte das ganze Volk verschwinden lassen. Wie sollte sie einen Friedensvertrag mit Jenara aushandeln, wenn die Sidaji nicht mehr auf der Seite des Ordens standen? Nur sie geboten über die Artefakte der Macht, die einen Krieg zwischen den Kontinenten Iidrash und Grandtal verhinderten. Wo waren diese Artefakte jetzt? Hatte Jenara bereits Kontrolle darüber erlangt?

Ich kann mich nicht kampflos ergeben! Jenara wird nicht über Kabal herrschen! Und ganz sicher nicht über mich.

Charna atmete tief ein und spürte, dass der letzte Rest des Betäubungsmittels aus der Luft gewichen war. Mikar rührte sich neben ihr und riss sie aus ihren Gedanken.

»Jenara ist die Einzige, die von der Situation profitiert. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie für das Verschwinden der Sidaji verantwortlich ist«, sagte er grimmig und packte Maraks Speer fester, als sich etwas in den Schatten regte. Die wuchtige Silhouette eines außergewöhnlich großen Minotaurs mit schwarzer Haut und heruntergebogenen Hörnern näherte sich ihnen. Es war Thanasis.

»Die Sidaji! Sie sind alle fort!«, rief er.

»Ich weiß«, sagte Charna und sah zum anderen Ende des Platzes.

Drei Gestalten wurden im Mondlicht sichtbar. Eine von ihnen war Jenara, die Gottkaiserin der Völker der Frostreiche. Charna beherrschte die Wut, die in ihr aufkeimte, und wandte sich gelassen und mit einem Lächeln den Neuankömmlingen zu, die sich von der anderen Seite des großen Platzes näherten. Sie waren zu dritt. Ein Mann massig und schwer gebaut und zwei zierliche Frauen. Charna erkannte Gorak, den glatzköpfigen Barbarenkönig der Nomaden. Sein muskelbepackter Körper war von Narben überseht. Er trug Hosen aus braunem Leder und weiche Stiefel, ein Schwert mit breiter Klinge und langem Griff hing auf seinem Rücken. Mit einigem Abstand zu ihm ging Olana, deren gänzlich weiße Augen, Haut und Haare keinen Kontrast bildeten. Wie immer war sie ganz in Weiß gekleidet und sah aus wie eine lebendig gewordene Statue aus Porzellan. Das grünliche Licht Irians lies sie jedoch beinahe wie ein Gespenst erscheinen. Sie war die Herrin der Unerwünschten Träume. Sie trug ihr langes Haar in einem hochgebundenen Pferdeschwanz. Ihr weißer Anzug verhüllte weniger, als er preisgab und sie bevorzugte Silberschmuck, von dem es hieß, er machte sie unverwundbar.

Zwischen den Beiden stolzierte eine jung aussehende hellhäutige Frau mit hellblauen, hüftlangen Haaren und Augen, die so blau waren, dass sie leuchteten. Ihr jugendlicher Körper steckte in einem weißen Lederanzug, der ihr bis zum Kinn reichte, aber ein ansehnliches Dekolletee freiließ. Silberne Platten und glasklare Kristalle waren in das Leder eingearbeitet. Auf ihrer Stirn ruhte ein Diadem mit dem blauen Juwel des Nordens darin.

Jenara, die Gottkaiserin der Völker der Frostreiche sprach.

»Charna, meine Liebe. Was genau bezweckst du mit deinem Vorgehen?«

Charna lachte. »Ich? Worauf willst du hinaus?«

»Ich weiß nicht, wie, aber du bist für das Verschwinden der Echsen verantwortlich«, stellte Jenara fest und fuhr fort, »Mit welcher Absicht, wird mir wohl noch offenbar werden.«

Charna schnaubte verächtlich. »Was hätte ich davon?«, fauchte sie und ihre Augen glühten auf.

Jenara fuhr unbeeindruckt fort. »Der Tod der Sidaji war unvermeidbar. Du versuchst, mit ihrem Verschwinden die Tatsachen zu verschleiern und die Macht über Kabal an dich zu reißen. Das kann ich nicht zulassen, nicht, wenn Kabal eine Zukunft haben soll. Ob die Sidaji noch da sind oder nicht, ihr zweifelhafter Einfluss auf die Geschicke Kabals ist nun nicht mehr von Belang. Du weißt, was das bedeutet.«

»Das Verschwinden der Sidaji ist dein Machwerk, Hexe!«, sagte Mikar und machte einen Schritt nach vorn. Mit einer fließenden und blitzschnellen Bewegung hatte Gorak sein Schwert gezogen und postierte sich schützend vor Jenara, die Mikar nur ein Lächeln zuwarf. Gorak sah den Kentauren hingegen herausfordernd an.

»Mikar«, sagte Charna leise und er trat zögernd und angespannt zurück, seinen starren Blick auf den Barbarenkönig gerichtet, bis dieser wegsehen musste und sein Schwert langsam in die Scheide zurückschob.

»Du nimmst mir die Sicht, Gorak«, sagte Jenara und der Barbar trat widerwillig zur Seite. »Ich denke, ich verstehe jetzt, welche Absichten du verfolgst. Du lässt die Sidaji verschwinden, schiebst die Schuld anschließend auf mich ab und sorgst auf diese Weise dafür, dass mein Anspruch geschwächt wird.«

Charna atmete kontrolliert ein und aus. Jenara hatte das Talent sie mit jedem Wort, das ihrem Mund entsprang, wütender zu machen.

»Ich bin nicht für das Verschwinden der Sidaji verantwortlich. Was auch immer heute Nacht geschah, ist dein Verdienst. Niemand sonst ist es gewesen. Warum leugnest du das noch? Warum hast du eine deiner Eishexen in Idrak eingeschleust und einen Mordversuch unternehmen lassen? Im Inneren Sanctum, Jenara! Hast du keine Skrupel mehr?«

Jenara sah für einen Lidschlag überrascht aus, dann erwiderte sie Charnas Blick mit Bestimmtheit und schüttelte den Kopf. »Ich trage nicht die Schuld an dem, was hier oder angeblich in Idrak geschehen ist. Aber ich werde dieses Spiel nicht mitspielen! Ich werde vielmehr beweisen, dass du oder deine Gefolgsleute für die Vorfälle hier verantwortlich sind. Die Völker der Frostreiche werden nicht für das Unrecht schuldig gemacht werden, das du angerichtet hast. Ich werde Stellung beziehen und den Ort untersuchen, bis ich die Beweise für deine Tat gefunden habe«, sagte Jenara bestimmt.

»Dann ist es nur gerecht, wenn ich dafür sorge, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Wir werden ebenfalls hier verbleiben, bis die Belege für deine Machenschaften gefunden worden sind«, sagte Charna mit rot glühenden Augen.

»Wenn deine Mutter …«

»LASS MEINE MUTTER AUS DEM SPIEL!«, brüllte Charna und eine Windböe wie ein heißer Wüstenwind fegte über den Hof.

»Wenn meine Mutter hier wäre, würde diese Diskussion nicht stattfinden. Wenn meine Mutter hier wäre, würdest du dich hüten, einen Anspruch auf die Herrschaft über Kabal zu erheben. Wenn …«

»Wenn, Charna, wenn … Du bist nicht dazu geeignet, die Führung zu übernehmen und du weißt es. Deine Fehler hier in dieser Situation beweisen das. Überlass die Verantwortung denjenigen, die sie tragen können!«

»Es reicht, Jenara, du überschreitest eine Grenze!«

Olana, die sich bisher nicht gerührt hatte, beugte sich vertraulich zur Gottkaiserin hinüber und teilte ihr etwas mit, dass Charna nicht verstehen konnte.

Jenara wandte sich an Charna. »Ich möchte in diesem Fall auf Olana hören, die dazu rät, einen befristeten Waffenstillstand zu vereinbaren, bis geklärt ist, wer für das Verschwinden der Sidaji verantwortlich ist. Auch wenn ich überzeugt bin, dass du dahinter steckst, Charna, nehme ich an, dass du nichts dagegen einzuwenden hast. Das wäre schließlich einem Eingeständnis deiner Schuld gleichbedeutend und ich gehe davon aus, dass du das vermeiden möchtest.«

»Wir werden unsere eigenen Untersuchungen anstellen. Ich schlage vor, dass wir die Unterkünfte neu wählen, damit die räumliche Nähe nicht zu … Missverständnissen führt«, sagte Charna.

Jenara nickte. »Sucht euch euer … Lager, wo ihr wollt. Meine Delegation verbleibt natürlich im Thronsaal. Das ist angemessen.«

Mikar entfuhr ein Grollen und Jenara schnaubte mit einem Blick auf den Kentauren.

»Komm mir nicht in die Quere, Charna! Das Unrecht, das du und deine Gefolgsleute hier begangen haben, wird dem Orden das Genick brechen. Ich sorge dafür, dass jedes Wesen auf Kabal davon erfährt, was sich hier zugetragen hat.«

Jenara wandte sich ab, Charna starrte ihr verärgert hinterher. Gorak und Olana folgten ihr auf dem Fuße.

Sie behandelt mich immer noch wie ein Kind. Ich muss besonnen bleiben. Sie weiß genau, wie sie mich zur Weißglut treiben kann. Ich darf nicht noch einmal so wütend werden.

»Lässt Du sie einfach so davonziehen?«, fragte Mikar flüsternd. Er konnte seine Wut kaum kontrollieren.

Charna legte ihm eine Hand auf den Arm. »Wir müssen schnell sein! Nutze die Macht von Markas Speer und finde die Artefakte, die die Sidaji hinterließen! Ohne Zweifel hat Jenara nichts anderes im Sinn. Thanasis! Trommel die Gruppe zusammen und dann sieh zu, dass wir so rasch wie möglich eine koordinierte Suche organisieren! Jenara darf die Artefakte der Macht nicht erhalten, oder die Tage des Ordens sind gezählt. Ich werde spätestens morgen zurückkehren.«

Charna verschwand mit einem Aufblitzen und Mikar rieb sich über die Augen.

»Ich hasse es, wenn sie das tut.«


Das Feuer Kabals
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