Kapitel 11
Charna sah Mikar an. »Beruhige dich! Jetzt ist nicht die Zeit für Eitelkeit. Wir haben vieles zu besprechen.«
Sie wies auf die Stühle, was ihn scheinbar nur noch mehr verärgerte, da er sich nicht setzen konnte.
»Darf man erfahren, wer uns mit seiner Anwesenheit beehrt?«, fragte er gereizt.
»Du sprichst zu Seral, dem Herrn des Namenlosen Abgrunds. Wenn du mit Respekt behandelt werden willst, dann geh mit gutem Beispiel voran!«
Mikar schnaubte.
Thanasis neigte das Haupt. »Verzeiht, Seral, Mikar ist außer sich, weil seine Frau, die Äbtissin der Flammengrube in Wiras Händen ist.«
Seral stand auf und verneigte sich ebenfalls vor allen Anwesenden. »Danke, Herr des Schwarzen Labyrinths! Ich habe soeben von Wiras Schandtat erfahren und würde gern helfen, Cendrine aus ihren Klauen zu befreien. Leider kann ich nur für kurze Zeit hier bleiben, da die Situation im Namenlosen Abgrund immer noch instabil ist. Sobald ich das geändert habe, kann ich mehr Unterstützung gewähren. Doch auch bis dahin will ich tun, was ich kann, um dem Orden in dieser schwierigen Zeit beizustehen. Immerhin verfügt Charna über neue Kräfte, die auf ihr väterliches Erbe zurückgehen mögen und wir sind damit der potentiellen Bedrohung durch die Maschinenwächter nicht völlig hilflos ausgeliefert. Das Problem ist, dass Wira im uneinnehmbaren Frostturm sitzt, wo sie zweifellos Cendrine gefangenhält. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es uns selbst mit geballten Kräften schwerfallen dürfte, die Barrieren des Frostturms zu überwinden. List ist gefragt.«
Mehmood richtete sich auf. »Der geheime Weg unter dem See!«
Seral grinste wölfisch. »Wira hat nie davon erfahren.«
»Wovon sprecht ihr?«, fragte Mikar.
»Es gibt einen Weg durch den Namenlosen Abgrund, der direkt in den Firahun-See führt. Tief auf seinem Grund, wo das verschollene Reich der Zwerge unter den eisigen Wassern des Sees zermalmt wurde.«
»Die Shedau‘Kin?«, fragte Kassandra überrascht.
»Nein, ihre fernen Verwandten, die Kjudrogg«, sagte Charna. »Bevor wir unsere weiteren Pläne besprechen, müssen einige Fragen geklärt werden.«
Schweigen ergriff die Versammelten.
Mehmood atmete tief ein und warf einen Blick auf Seral. Der Herr des Namenlosen Abgrunds nickte seinem Torwächter zu.
Mehmood seufzte, er schien die Frage auf sich zu beziehen, obwohl Charnas Blick auf Thanasis ruhte. »Ich wäre wahrscheinlich tot, hätten Kassandra und Thanasis mich nicht gerettet. Cendrines Entführung ist auch meine Schuld. Das Brennende Blut in meinen Adern verbindet mich fortan mit dem Orden. Ich möchte meinen Dank durch Taten zum Ausdruck bringen, kann aber meine Verpflichtung als Torwächter in Serals Diensten nicht vergessen.«
»Gunaria hat diese Aufgabe in deiner Abwesenheit bereits viele Male übernommen. Sie wacht dort im Moment und kann dies auch weiterhin tun. Ich war zwar anfänglich etwas verärgert, aber das Einzige was zählt, ist, dass du noch lebst, mein alter Freund. Nimm die Aufgabe an!«, sagte Seral.
Mehmood stand auf und neigte das Haupt. »Meine Loyalität dem Orden des Brennenden Blutes.«
»Deine Hilfe ist sehr willkommen, Mehmood. Damit ist es offiziell. Die Feierlichkeiten holen wir später nach. Du kannst Thanasis Stelle als Herr des Schwarzen Labyrinths einnehmen.«
Thanasis neigte das Haupt. »Ich habe auf diesen Tag gewartet.«
Kassandra sah ihn an. »So war es prophezeit.«
Mehmood blickte unsicher zwischen Charna, Thanasis und Seral hin und her. Dann verneigte er sich tief. »Es ist mir eine Ehre.«
»Ich heiße dich im Orden des Brennenden Blutes willkommen, Mehmood, Herr des Schwarzen Labyrinths und so weiter. Setz dich!«, sagte Charna. »Wir haben keine Zeit für lange Reden.«
Charna sah Thanasis an. »Kitaun.«
Der Minotaur schloss kurz die Augen, bevor er das Wort ergriff. »Faunus und die anderen haben mich bereits zur Rede gestellt. Mikar und ich haben Sarinaca und Cendrine geschworen, Stillschweigen zu bewahren, bis …«
Charna erhob sich langsam. Thanasis schwieg und starrte auf den Tisch.
»Ihr habt mich zwei Jahrhunderte lang im Dunkeln tappen lassen? Fast mein ganzes Leben lang habt ihr mich angelogen? Habt ihr gewusst, dass meine Mutter lebt?«
Kassandra riss den Mund auf und starrte Charna an. Mikar senkte schuldbewusst den Blick.
Thanasis trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und hielt schließlich nervös inne.
»Nun?«, fragte Charna.
»Wir haben seit langer Zeit nichts mehr von ihr gehört«, sagte er leise.
»Wie lange?«
»Seit …« Thanasis zögerte, atmete tief ein. »Wir hörten zuletzt vor etwa sechzig Jahren von ihr. Sie konnte Cendrine erreichen, niemanden sonst.«
Sie war die ganze Zeit da! Die ganze Zeit …
Charna ließ sich schwach auf ihren Stuhl sinken.
»All die Jahre … warum?«, fragte sie mit brennenden Tränen in den Augen. Seral legte seine Hand auf ihren Arm. Kassandra hielt sich eine Hand vor den Mund und schüttelte entsetzt den Kopf, als sie Charna ansah.
»Es ist kompliziert«, sagte Mikar.
»Wie …«, schluchzte Charna und beruhigte sich nur mit Mühe. »Wie kompliziert kann es sein? Mir all die Jahre die Hoffnung zu nehmen … wenn Kabal nicht eure Hilfe bräuchte, würde ich euch auf der Stelle in die Flammengrube werfen«, sagte sie leise mit erstickter Stimme.
Mikar schluckte und Thanasis hielt den Kopf zwischen den Händen. Die Stille dehnte sich aus und legte sich wie ein erdrückendes Gewicht auf die Anwesenden. Keiner wagte es, das nächste Wort zu sprechen, während Charna in einen Abgrund brennender Gefühle stürzte.
Schließlich beugte sich Faunus vor. »Dies ist eine schwere Zeit. Die Fehler der Vergangenheit kann man nicht ungeschehen machen. Dennoch müssen wir zusammenhalten und nach vorne schauen. Wollen wir Kabal im Stich lassen? Ich kann das nicht. Wir brauchen Führung, Charna.«
Sie ließ ihren Blick zu Faunus wandern. »Führung? Wie soll ich Entscheidungen für euch treffen, wenn ihr mir nicht vertraut? Thanasis und Mikar haben mich angelogen! Wie konntet ihr das nur tun?«, fragte Charna wütend und sah Thanasis kopfschüttelnd an.
Seraphia trat vor und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Wir sollten diese Besprechung verschieben.«
Charna nickte.
Seraphia führte alle aus der Halle des Feuers hinaus, nur Seral blieb zurück.
Stille setzte ein.
»Sie ist da draußen. Sie hat mich hier zurückgelassen, ohne ein Wort des Abschieds oder Trostes. Warum? Sie hat mit den anderen gesprochen, aber nie mit mir!«
Seral seufzte. »In ihren Augen bist du immer noch ihr Kind. Sie hat dich außen vor gelassen, das war sicherlich falsch. Ich weiß, dass das schwer ist, aber versuche einmal kurz ihre Perspektive einzunehmen. Wie alt ist Sarinaca?«
Charna sah Seral ungeduldig an und atmete dann tief ein. »Sie hat es mir nie genau gesagt, womöglich weiß sie es selbst nicht mehr. Achtausend Jahre? Zehntausend? Warum?«
»Wie lange ist sie fort?«
Charna schüttelte den Kopf. »Knapp zwei Jahrhunderte.«
Seral ließ die Worte sacken.
Charna machte eine ungeduldige Geste mit der Hand. »Ich verstehe, worauf du hinauswillst. Ich habe letzten Monat mit einem Botschafter gesprochen, der in den Ruhestand geht und mich noch einmal sehen wollte. Ich hatte das Gefühl, erst kürzlich mit ihm geredet zu haben. In meiner Erinnerung war er ein junger, ehrgeiziger Mann. Es stellte sich heraus, dass wir seit dreißig Jahren nicht persönlich miteinander gesprochen hatten. Ich verliere jedes Jahr mehr das Gefühl für den Begriff der Zeit.«
»Deine Mutter hat Zeitalter vorübergehen sehen. Du bist ihr Kind und sie hat dich zuhause gelassen, damit du in Sicherheit bist. Die »Erwachsenen« sollten sich eine Weile während ihres Fortbleibens um dich kümmern.«
»Aber zweihundert Jahre lang kein Wort zu mir? Warum, Seral?«
»Das mag ein einfaches Problem der Kommunikation sein. Was mich viel eher interessiert, ist, warum sie seit sechzig Jahren keine Nachricht mehr geschickt hat.«
Charna schluckte und stieß einen unbestimmten Laut der Wut und Enttäuschung aus. »Sie könnte in Schwierigkeiten stecken.«
Seral nickte.
»Verdammt Seral, ich fühle mich so betrogen!«
»Das kann ich verstehen. Aber niemand hat dein Leben bedroht oder versucht, dir zu schaden. Cendrine, Thanasis und Mikar haben deiner Mutter die Treue gehalten. Du weißt nicht einmal, ob sie mit jeder Entscheidung Sarinacas einverstanden gewesen sind. Es fällt den anderen womöglich schwer, deine Rolle als Führerin anzuerkennen. Du bist in ihren Augen das Kind, auf das sie all die Zeit aufgepasst haben.«
Seral nahm sie in die Arme. Sie legte den Kopf auf seine Brust und vergaß die Welt um sie herum, als er sie in seine Schwingen hüllte.