Kapitel 8

Cendrine starrte durch die Energieblase hindurch. Ihre Muskeln hatten sich anfänglich durch die Blitzentladungen vollkommen verhärtet. Seit ein paar Tagen war sie jedoch in der Lage, sich etwas zu bewegen. Wira hatte das Artefakt der Macht, das die Form eines Zepters hatte, in einer Halterung positioniert, sodass sie Cendrine ununterbrochen in der Energieblase gefangen halten konnte. Mit einer Kraftanstrengung, die sie zittern ließ, drehte sie ihren Kopf etwas weiter nach links. Ihr Blick fiel durch ein auffallend großes Fenster, das die Aussicht auf den gefrorenen Firahun-See freigab. Sie war ganz oben in dem hundert Schritt hohen Frostturm, dessen glatte Wände Sturm und Eis seit langer Zeit trotzten. Er überragte jeden Hügel in der näheren Umgebung und eine Sicht aus seinem Fenster gewährte einen weiten Blick. Die Abenddämmerung war weit vorangeschritten, die schneebedeckte Landschaft in ein blaues Licht getaucht. Cendrine versuchte die Tage zu zählen, die sie inzwischen in Gefangenschaft war, doch sie hatte längst den Überblick verloren. Sie strengte sich an und erreichte, dass sie mehr von dem großen Raum sah, in den man sie gebracht hatte. Er nahm die gesamte Grundfläche des Turms ein, der gut zwanzig Schritt durchmaß. Es gelang ihr, den Oberkörper etwas zu drehen und jetzt sah sie eine Ruhebank mit einer leicht bekleideten Frau darauf.

Wira lächelte sie an.

Cendrine erkannte, dass die Königin des Frostturms sie seit geraumer Zeit beobachten musste. Wenn sie es darauf angelegt hatte, ihre Gefangene zu verunsichern oder zu erniedrigen, dann war ihr dies nicht gelungen. Cendrine konzentrierte sich und lächelte ebenfalls.

Wiras Lächeln wurde etwas breiter. »Ich habe vor ein paar Tagen eine wunderbare Entdeckung gemacht.« Sie stand auf, ging zum Zepter hinüber und wartete, bis Cendrine mit großer Anstrengung ihren Kopf gedreht hatte, bevor sie fortfuhr. »Ich muss nur an diesem Ring drehen, und dann kannst du dich etwas mehr bewegen. Ich denke, ich lockere deine Fesseln ein wenig, dann können wir uns unterhalten, was meinst du?« Wira drehte ganz vorsichtig an dem Ring, der am oberen Ende des Sidaji-Artefaktes angebracht war.

Cendrine spürte, dass sie sich innerhalb der Blase bewegen konnte, zeigte es jedoch nicht. Sie tat so, als ob sie sprechen wollte, und bewegte den Mund mit großer Langsamkeit, in der Hoffnung, Wira würde die Kraft des Zepters noch etwas mehr verringern. Die große Frau mit den kurzen blonden Haaren wartete einen Augenblick, schürzte die Lippen und drehte den Ring ein kleines Stückchen weiter.

Gut so, du Miststück!

Cendrine sprach und achtete sorgfältig darauf, ihre neu gewonnene Bewegungsfreiheit nicht zu zeigen. »Der Ausblick auf den Firahun-See ist ein unerwartetes Vergnügen. Das letzte Mal, als ich hier war, war die Gastfreundschaft jedoch von höherer Güte. Täusche ich mich, oder sieht alles ein wenig heruntergekommen aus?«

»Glaubst du wirklich, dass mich solche Sticheleien interessieren? Sieh hinaus auf das Land, was erkennst du dort?«

»Sarinacas Reich.«

Wira lachte. »Deine Göttin ist tot, meine schwarzhäutige Freundin! Ich sage dir, was ich sehe. Kabal ist ein Meer voller zappelnder Fische. Und man kann jeden Fisch fangen, wenn man den richtigen Köder und einen guten Haken hat. Schau dich an! Die mächtigste Frau Kabals zappelt hilflos in der Luft. Ja genau! Die Hohepriesterin ist kaum mehr als eine dumme Göre, die noch immer am Rockzipfel ihrer Mutter zerrt. Ah, warte! Ihre Mutter ist nicht mehr! Das arme kleine Ding … ich sollte sie unter meine Fittiche nehmen. Ihr etwas … Erziehung angedeihen lassen.« Wira lachte vergnügt. »Es war so einfach, dich zu ködern, Äbtissin. Was für ein hochtrabender Name. Hast du dir diesen Titel selbst verliehen?«

Wira lachte leise und ging ein paar Schritte zur Seite. Ihr Blick sagte Cendrine, dass Wira es darauf anlegte, dass sie sich anstrengen musste, ihr mit dem Blick zu folgen. Sie beobachtete mit einem Vergnügen, das an Erregung grenzte, wie Cendrine ihren Kopf drehte. Nur ahnte sie nicht, dass der Kraftaufwand geringer war, als es den Anschein hatte. Cendrine bemühte sich, diesen Eindruck aufrechtzuerhalten. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war, würde sie versuchen, sich aus der Blase zu befreien.

»Dieser einfältige Gestaltwandler! Wie konntest du ihn zu mir schicken? Die kleine, süße Julana … der Kurakpor hätte ihr kümmerliches Gedächtnis innerhalb kurzer Zeit wiederhergestellt. Euer Plan war rasch durchschaut … und zu meinem Vorteil ausgenutzt.«

Wer ist bloß auf diese blöde Idee gekommen? Wira vermutet scheinbar, das wäre auf meinen Befehl hin geschehen. Soll sie mich nur unterschätzen … Sie denkt, ich wäre schwach. Ich werde ihre Gedanken weiter in diese Richtung treiben.

»Du kannst von Glück sagen, dass Thanasis nicht an meiner Stelle ist. Ihn würde das Artefakt der Sidaji nicht halten können.«

»Du täuscht dich, mein schwarzer Engel. Eure Macht beruht auf den gleichen Prinzipien. Thanasis wäre ein netter Fang gewesen, aber nun … habe ich dich. Charna ist hilflos ohne dich. Der Orden wird zerfallen.« Wira trat vor das Fenster und sah hinaus. »In diesen Augenblicken überrennen Goraks Krieger die Frostreiche. Und Gorak untersteht mir.«

Verflucht! Diese Entwicklung ist zwar nicht unvorhersehbar gewesen, aber sobald hatte ich nicht damit gerechnet.

Wira fuhr begeistert fort. »Jenara ist bereits nach Tojantur zurückgekehrt und wird bald erkennen, dass die Frostreiche in meiner Hand sind. Erst der Norden, dann ganz Kabal! Ich werde diese Welt erobern, meine dunkle Perle! Und du darfst zusehen. Ist das nicht schön?«

Wira musterte sie lächelnd von Kopf bis Fuß, leckte sich genüsslich über die Lippen und ließ ihre Finger in einer obszön wirkenden Geste über das Zepter gleiten. Mit einem plötzlichen Ruck drehte sie den Ring daran zurück. Die Blitze schlugen erneut in Cendrines Leib und ihre Muskeln verkrampften sich quälend unter der Anstrengung. Unkontrolliert zuckte sie und röchelte angestrengt vor Schmerzen, die von einer jähen Erkenntnis durchbrochen wurden, die noch deutlich schmerzhafter als die körperlichen Eindrücke waren.

Sie hat mich die ganze Zeit über an der Nase herumgeführt!

»Du zappelst nur, wenn ich dich lasse!«, sagte Wira mit vor Erregung zitternder Stimme. Sie drehte langsam weiter an dem Ring und lachte laut.

Cendrine verlor das Bewusstsein.

Das Feuer Kabals
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