Kapitel 6
Faunus rannte mit Grond zur Aussichtsterrasse. Die Mikarianer in der Festung Kli‘Karan hatten eine rätselhafte Meldung geschickt und ein Gerücht um einen Drachen aus Flammen, der auf dem Weg nach Idrak war, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Er war beinahe bis zum Ausgang geeilt, als er glaubte, einen Schrei zu hören, der nicht so recht in die Atmosphäre der Aufregung passen wollte. Es hörte sich an, wie ein Laut des Schmerzes.
Seraphia?
Er spaltete sich auf der Stelle und ließ seine zweite Verkörperung mit Grond zur Aussichtsterrasse eilen, während er zu Seraphias Gemächern rannte. Die beiden Heiler, die er dort angetroffen hatte, standen vor der Tür und redeten aufgebracht mit den Wachen. Irgendetwas musste geschehen sein.
»Was ist passiert?«, rief er schon von weitem.
Die Heilerin antwortete ihm. »Sie ist erwacht, Herr. Sie ist nicht bei Sinnen. Sie hat Triogg gewürgt und umhergeschleudert.«
»Wartet hier, bis ich euch rufe! Niemand betritt das Zimmer.«
Er öffnete die Tür und schloss sie hinter sich. Das Empfangszimmer war leer und er eilte weiter zur Tür des Schlafgemachs. Auf dem Weg dahin hörte er Seraphia abwechselnd weinen, lachen und auf höchst irritierende Weise sinnlich stöhnen, bevor der Laut in ein gequältes Würgen überging. Er fiel mit der Tür ins Zimmer und sah Seraphia am Boden neben ihrem Bett. Sie sah zerstört aus, der Geruch von Erbrochenem hing in der Luft. Schwarze Augen starrten ihn an. Ein irres Glitzern blitzte darin auf, bevor sie den Kopf schüttelte und erneut würgte.
»Hilf mir! Ich halte das nicht mehr aus!«
Faunus erstarrte. Ein einziges Wort zuckte durch seinen Kopf.
Wie?
Sie schrie gequält auf und er trat langsam zu ihr, kniete sich neben sie. Sie sah einen Augenblick so aus, als ob sie erwöge, ihn zu schlagen und fiel dann schluchzend in seine Arme. Faunus streichelte ihr Haar und flüsterte ihr tröstende Worte ohne tieferen Sinn ins Ohr. Er wiegte sie sanft und sang leise ein Lied, das die Dryaden in Garak Pan benutzten, um die Schmerzen der Trauernden und Kranken zu lindern.
Seine wohlklingende Stimme beruhigte Seraphia, deren Zittern nachließ. Er zog eine Decke vom Bett und legte sie ihr über die Schultern. Sie verkroch sich darin und drückte ihren Kopf an seine Brust, ihre Arme um seinen Oberkörper. Sie drängte sich schwach zitternd an ihn und wimmerte. Er gab ihr so viel Zuflucht und Wärme, wie er konnte, sang leise weiter. Ihre Pein war beinahe körperlich für ihn spürbar.
Nach einer ganzen Weile erhob Seraphia ihren Kopf. Sie sah ihn mit verquollenen Augen an, deren Iris jetzt ein helles Blau zeigte, so wie er es kannte. Sie sah todmüde und erschöpft aus, aber ihr Blick sagte mehr, als alle Worte zum Ausdruck bringen konnten. Das irre Glitzern war entschwunden. Faunus konnte es jedoch nicht vergessen. Der Anblick hatte ihn schockiert. Er strich ihr behutsam eine Strähne aus dem Gesicht.
»Ich muss mich waschen. Bitte geh nicht fort! Ich will nicht allein sein.«
Faunus nickte und half ihr auf. Als Seraphia im Baderaum verschwand, sorgte er schnell mit Wasser aus einer Karaffe und einem Lappen für Sauberkeit auf dem Boden. Er zerrte die verschmutzten Laken vom Bett und warf sie auf einen Haufen. Er teilte sich und trug mit der Hilfe seiner vielen Hände die Tische und Utensilien der Heiler hinaus. In wenigen Minuten gelang es ihm und seinen Verkörperungen, eine angenehmere Atmosphäre herzustellen.
Seraphia wusch sich nebenan, und als sie fertig war, hatte eine weitere seiner Inkarnationen die Wachen und Heiler vor dem Gemach informiert und ein Mahl kommen lassen. Faunus musterte Seraphia, als sie das Schlafzimmer betrat. Sie sah ausgezehrt aus und er wusste, sie musste dringend etwas Frisches und Natürliches zu sich nehmen. Sie hatte ein dickes Handtuch umgelegt und sah ihn verschämt an.
»Danke. Für alles.«
Faunus lächelte und verscheuchte eine seiner Verkörperungen, die gerade das Bett mit frischen Decken ausgelegt hatte.
Seraphia wirkte erschöpft, aber klar im Geist. Es war ihr jedoch anzumerken, dass sie nicht sie selbst war.
»Setz dich! Du musst erstmal etwas essen. Du hast seit Tagen nichts zu dir genommen.«
Seraphia verzog angewidert das Gesicht. »Dafür ist mir zu übel.«
Faunus reichte ihr einen Becher mit klarem Wasser, als sie sich auf den Rand des Bettes setzte. Sie nahm einen kräftigen Schluck und er stellte das Tablett mit dem Essen auf einem Beistelltisch ab. Seraphias Blick wanderte nun doch dahin.
»Sind das diese kleinen roten Geflügelkeulen?«
Faunus lächelte. »Die Dinger sind einfach köstlich, nicht wahr?«
Seraphia schluckte. »Her damit!«
Faunus atmete erleichtert auf und reichte ihr den Teller mit dem Geflügel. Nach dem ersten Bissen fiel sie geradewegs darüber her und Faunus gab ihr noch etwas Zwiebelbrot, Käse und Trauben. Sie trank einen ganzen Krug Wasser und wurde währenddessen spürbar lebhafter.
»Ich habe von Kujaan geträumt. Was weißt du über Kitaun?«
Faunus zögerte. »Es gab ein Kloster des Ordens dort. Es fiel vor vielen Jahrhunderten während eines Kampfes. Ich weiß, dass Kitaun der Ort war, an dem Kujaan ihr Ende fand.«
Seraphias Blick glitt in die Ferne. »Ich weiß jetzt, was mit ihr geschah. Der Orden hat sie missbraucht, wusstest du das?«
Faunus schürzte die Lippen. »Das sind harte Worte. Was meinst du damit?«
Seraphias Augen verengten sich. »Genau das, was ich damit sagte. Man hat Kujaan dazu benutzt, die Streitmacht auf Kitaun zu besiegen. Das war von Sarinaca und Cendrine eiskalt geplant gewesen. Sie ist benutzt worden, wie ein Werkzeug.«
Faunus schüttelte den Kopf. »Du musst da was durcheinander …«
Seraphia stand auf und warf den Teller gegen eine Wand. Sie schrie ihn unvermittelt an, ein kaltes Glitzern in den Augen. »Behandle mich nicht von oben herab! Ich weiß, was geschehen ist! Ich will sofort mit Cendrine sprechen! Wo ist sie?«
Faunus machte beschwichtigende Gesten und bat sie, sich zu setzen. Seraphia warf ihr Handtuch fort und zog ihre Robe an. Faunus rollte mit den Augen und sah zur Seite, weil ihn der Anblick ihres Hinterns sogar in dieser Situation aus dem Konzept brachte. Er vergaß, was er sagen wollte, während Seraphia ihre rote Robe um sich schlang.
Sie grollte ihn an. »Was ist nun? Willst du mir nicht sagen, wo sie ist? Dann finde ich es eben selbst heraus!«
»Warte! Keiner weiß, wo genau Cendrine ist.«
Seraphia wandte sich wütend um. »Was soll das heißen?«
»Es sind viele Dinge geschehen, in den Tagen, die du ohne Bewusstsein warst.«
»Tage sind vergangen?«
Seraphia schwankte und fasste sich an ihre Schläfen. Sie setzte sich auf ihren Schminkstuhl und sah sich nach ein paar Minuten mit einem Seufzen um. »Wir sind in Idrak. Verdammt, ich bin nicht ich selbst. Dieser elende Traum. Die Gefühle … sie sind immer noch in mir«, sie ließ die Hände kraftlos sinken und sah Faunus schuldbewusst an.
Er lächelte mitfühlend und setzte sich vor sie auf die Bettkante. »Woran erinnerst du dich?«
»Die Sidaji waren fort … überall dieser Nebel. Du und ich, wir durchsuchten das Gelände um den Thronsaal der Echsen und du erzähltest mir von Kujaan, davon, dass Sarinaca sie getötet hat. Danach wollte ich eine Weile allein bleiben. Ich … dann bin ich hier erwacht.«
Faunus nickte. »Ich folgte dir, um auf dich aufzupassen. Thanasis hatte seine Anordnung gegeben und in dem Punkt kann er sehr stur sein, also bin ich dir hinterhergeschlichen. Dann verlor ich dich aus den Augen. Kurze Zeit später fand ich dich auf einer Ruhebank. Du warst bewusstlos und in einer Art Fieber.«
Faunus berichtete ihr von den Ereignissen danach und Seraphia hörte aufmerksam zu.
»Das ist so viel auf einmal!«, sagte sie und trat vor den Kamin. »Ich kann das alles kaum fassen. Ich fühle mich haltlos, Faunus.«
»Möchtest du zu deiner Familie?«
»Nein. Ich möchte nur, dass man ihre Sicherheit gewährleistet. Das ist in meiner Nähe nicht möglich.«
»Ich sorge dafür«, sagte Faunus und ließ eine seine Inkarnationen einen entsprechenden Befehl an die Tempelwächter weitergeben.
Seraphia flüsterte. »Faunus, bitte bleibe bei mir! Ich weiß nicht, wann die Stimme noch einmal mit mir redet. Sie versucht, mich in den Wahnsinn zu treiben und ich habe Angst vor dem, was passiert, wenn ich die Kontrolle verliere.«
Faunus sah den gehetzten Ausdruck in Seraphias Blick. »Ich bleibe bei dir. Hab keine Angst! Wir werden herausbekommen, wer dir das angetan hat, und du wirst zu dir selbst zurückfinden. Du bist stark Seraphia! Stärker als Kujaan es je war.«
Seraphia biss sich auf die Unterlippe und Tränen rollten über ihre Wangen. Faunus reichte ihr ein Tuch.
»Danke.«
»Kennst du diese Frau?«, fragte er und zeigte ihr eine Zeichnung von der unbekannten Heilerin, nach der er fahnden ließ.
Seraphia zuckte zusammen.
»Also ja. Was weißt du über sie?«
»Ich bin einmal kurz erwacht … sie war da. Es muss hier im Tempel gewesen sein. Sie hat mir eine Spritze gegeben.«
»Dann ist sie für die Injektionen verantwortlich.«
»Glaubst du, dass die Träume davon ausgelöst wurden?«
»Wovon sonst?«
»Du hast mit mir über Kujaan gesprochen, kurz bevor ich in Ohnmacht fiel.«
»Obwohl meine Bardenkünste berühmt sind, in Ohnmacht ist bisher noch niemand gefallen, wenn ich etwas erzählt habe. Höchstens eingeschlafen vor Langeweile. Ich denke, dass du mitten in den Machtkampf geraten bist, der auf Kabal herrscht. Erst der Angriff der Eishexe auf dich, von dem Jenara womöglich nichts wusste und dann diese ganze Sache. Es tut mir leid, was man dir angetan hat«, sagte er und streichelte über Seraphias Wange. Sie sah ihn überrascht an und ergriff zögernd seine Hand.
»Was genau hast du geträumt?«, fragte Faunus leise.
Seraphia schluckte. »Ich weiß nicht, ob ich bereit bin, jetzt darüber zu reden.«
»Natürlich. Lassen wir das. Der Zeitpunkt wird sich von allein ergeben. Wir haben einen Haufen, ach, einen Berg von Problemen und soeben ist Charna zurückgekehrt.«
»Ich muss mit ihr sprechen!«
»Ich fürchte, das müssen alle anderen auch. Sie wird geradezu belagert. Keiner weiß so recht, was wirklich mit ihr geschehen ist«, sagte Faunus und blickte einen Moment in die Ferne. Er verlagerte sein Bewusstsein kurz in Charnas Gegenwart.
Seraphia fiel ein, was Faunus ihr vorhin erzählt hatte. »Ein Feuerdrache? Wahrhaftig?«
Faunus nickte. Seraphia setzte sich auf das Bett und lehnte sich an ihn. »Halt mich!«
Er legte einen Arm um sie. »Ruh dich noch etwas aus!«
Seraphia schüttelte den Kopf. »Ich habe lange genug geruht. Ich habe viele Fragen. Kabal wird bedroht, Faunus.«
»Die Maschinenwächter …«
»Nein, die meine ich nicht.«
»Was dann?«
»Cendrine und Thanasis müssen mehr darüber wissen. Wir müssen sie fragen! Der Angriff auf Kitaun bedroht auch Kabal.« Seraphia erhob sich. »Lass uns zu Thanasis gehen, er war auch auf Kitaun.«
Faunus sah sie besorgt an. »Sera, das ist Jahrhunderte her!«
Seraphia sah ihn verwirrt an und schüttelte den Kopf.
»Du musst dich erholen! Komm erstmal wieder zur Ruhe …«
»Schluss damit! Ich bin kein Kind mehr. Wir gehen sofort zu Thanasis und Charna. Es ist mir egal, wer sonst noch mit ihnen sprechen will, ich bin die Zeremonienmeisterin, verflucht nochmal.«
Seraphia gürtete ihre Robe fester und verließ das Zimmer. Faunus seufzte und eilte ihr hinterher.