Kapitel 9
Seraphia eilte zum Eingang der Halle des Feuers. Im Inneren Sanctum herrschte Unruhe und viele Priesterinnen standen in Gruppen beieinander und unterhielten sich aufgebracht. Botschafter der verschiedenen Regionen Iidrashs warteten vor den Bronzetüren, die in die Halle des Feuers führten und Grond diskutierte im Beisein weiterer Tempelwächter lauthals mit ihnen.
»Die Zeremonienmeisterin!«, rief eine Frau aus Shetash, einer der goldenen Städte der Südwestküste aus.
Die Botschafter wandten sich rufend und fragend in ihre Richtung und blockierten die Tür. Seraphia murmelte Worte der Entschuldigung und Faunus wurde auf ähnliche Weise mit Fragen bestürmt. Grond schrie über den Lärm der Menge und sorgte für Ruhe. Er führte Seraphia und Faunus in die Halle des Feuers und ließ seine Männer dafür sorgen, dass niemand sonst folgen konnte. Am Tisch saßen Thanasis, Kassandra, Mehmood und Charna. Mikar stand wie immer in der Nähe. Alle drehten sich zu ihnen um und Kassandra kam ihnen entgegen.
»Sera! Wie geht es dir?«
Seraphia nickte ihr zu und ging an ihr vorbei. Kassandra blieb mit einem versteinerten Ausdruck stehen.
»Meine Hohepriesterin! Ich möchte mit Euch sprechen. Allein.«
Charna sah vom Tisch auf und wirkte abwesend. Einen Lidschlag später waren alle außer ihr fort und Seraphia zuckte zusammen. Charna wies mit einer Hand auf einen Stuhl.
»Setz dich!«
Seraphia blieb stehen.
»Was habt Ihr mit mir gemacht?«
Charna lege den Kopf schief. »Ich muss gestehen, ich bin nicht völlig auf dem Laufenden. Was hat man mit dir gemacht?«
»Was hat Sarinaca mit Kujaan gemacht? Was ist die Macht der Dunklen Flamme und warum ist Kabal seit Jahrhunderten in Gefahr?«
Charna legte die Stirn in Falten und lehnte sich zurück. Sie starrte eine Weile in Seraphias Augen.
»Es scheint, ich weiß noch weniger, als ich geahnt habe. Ich habe erst vor kurzem erfahren, dass meine Mutter am Leben ist.«
Seraphia zuckte zusammen.
Die Göttin lebt?
»Ich frage noch einmal: Was habt Ihr mit mir gemacht?«
Charna stand auf und trat ihr gegenüber. Sie hob die Hand und wollte ihre Stirn berühren, doch Serpahia packte das Handgelenk der Hohepriesterin. Charna sah sie mit traurigen Augen an, bis Seraphia den Blick senkte. Sie ließ das Handgelenk der Hohepriesterin los und spürte ihre warme Hand auf der Stirn. Sie wusste nicht, was geschah, bis sie Charnas Gedanken hörte.
»Lass mich deine Gedanken lesen! Lass mich deine Gefühle spüren!«
Seraphia wehrte sich nur einen Augenblick lang, dann gab sie nach. »Ich habe geträumt …«
Charna begleitete sie nun zurück in die Erinnerung des Traums. Doch anders als bei ihrem ersten Erlebnis sah sie Kujaan diesmal mit eigenen Augen als unbeteiligte Beobachterin. Die Hohepriesterin war die ganze Zeit in ihrer Nähe. Sie spürte, dass Charna sie vor der Angst und den Emotionen schützte, die sie beim erstmaligen Durchleben des Traums erfahren hatte, aber dennoch drang ein Teil der Gefühle zu ihr durch. Sie betrachtete Kujaan aufgeregt. Die Hohepriesterin hielt ihre Hand fest und beruhigte sie.
»Begleite mich durch deinen Traum! Ich muss wissen, was du weißt!«
Sie folgten Kujaan hinaus in das Viertel der Handwerker und beobachteten sie schweigend. Als die Lippen der jungen Priesterin den Mund des Silberschmiedes berührten, fuhr sich Seraphia mit den Fingern über den Mund. Sie erinnerte sich lebhaft an die Berührung und die Gefühle, die damit einhergingen.
»Wir müssen vorsichtig sein! Ich weiß nicht, was mit mir passiert, wenn ich diesen Traum noch einmal durchstehen muss!«, sagte Seraphia leise.
»Du bist nicht allein! Ich bin jetzt bei dir und beschütze dich. Vertrau mir!«, sagte Charna. Ihre roten Augen und das Feuer darin zogen Seraphias Blick an. Sie nickte und atmete tief ein.
»Lass uns ihr folgen!«, sagte Seraphia. Die Intimität der Situation ließ sie vergessen, dass sie mit der Hohepriesterin ihres Ordens sprach.
Sie folgten Kujaan in das Innere Sanctum. Charna erstarrte sofort, als sie die Flammen am Eingang sah. »Sie ist hier!«
Seraphia nickte und hielt die Hand der Hohepriesterin hoch. Etwas war darin erschienen. Es war eine schwarze Perle. Charna starrte darauf und biss sich auf die bebende Unterlippe. Durch die innige Verbindung ihres Geistes mit dem der Hohepriesterin spürte sie das heftige Aufwallen der Gefühle in ihr. Sie hielt ihre Hand fester.
»Auch du bist nicht allein. Wir stehen das gemeinsam durch.«
Charna sah sie mit ängstlichen Augen an und nickte dann. Sie traten durch das Portal und folgten Kujaan, die den Kamm in ihren Haaren entdeckte und plötzlich unsicher wurde. Charna starrte an ihr vorbei zum Flammenthron, neben dem ihre Mutter sichtbar wurde. Sie unterhielt sich mit Cendrine. Sie traten näher und Charna streckte eine Hand aus, wollte ihre Mutter berühren. Die Göttin trat durch sie hindurch, als wäre sie aus Luft.
»Wir sind nur Beobachter hier. All dies ist bereits …«
»… Vergangenheit, ich weiß. Es ist nur … verzeih, Sera, ich muss mich zusammenreißen!«
Sie verfolgten das Gespräch und Charna sah Seraphia an, als ihre Mutter von der Bedrohung Kabals durch eine fremde Macht sprach.
»Ich wusste nicht das Geringste davon! Wieso haben Thanasis und Cendrine nie etwas davon erwähnt?«
»Wieso habt ihr beiden mich dann die Macht der Dunklen Flamme ergreifen lassen?«
»Das geschah nicht auf meinen Befehl hin. Ich wüsste gar nicht, wie man das erzwingen sollte. Die Flammengrube gibt einzelnen Priesterinnen zuweilen besondere Kräfte und ich dachte immer, dies wäre bei dir auch der Fall gewesen. Jedenfalls hat Cendrine es so dargestellt, als sie deine Berufung entdeckt zu haben glaubte. Wir müssen Thanasis und die anderen befragen, ob es bei der Macht der Dunklen Flamme einen größeren Zusammenhang gibt. Ich hatte dieses besondere Talent bisher für eine der Schöpfungen der Flammengrube gehalten. Mir war nicht klar, dass meine Mutter damit etwas zu tun haben könnte.«
»Und wenn nur Cendrine Bescheid weiß?«
Charna überlegte kurz. »Wir werden Cendrine befreien. So oder so. Ich muss wissen, was hier vor sich geht.«
Seraphia war enttäuscht. Sie hatte auf eine Antwort gehofft, doch sie fühlte, dass die Hohepriesterin ebenso wenig wusste, wie sie selbst.
Charna sah ihre Mutter eine Weile stumm an, dann senkte sie den Blick. Seraphia folgte einem Impuls und nahm Charna in die Arme. Die Hohepriesterin drückte sie fest an sich und schluchzte. Es war, als hätte der Traum, den sie nun gemeinsam erlebten, eine Barriere entfernt. Die Gefühle drangen an die Oberfläche und überflügelten den Verstand.
»Ich fühle mich seltsam. Es ist fast, als ob …«
»… alle Gefühle doppelt so intensiv seien. Ich weiß, was du meinst«, sagte Charna. »Warte! Meine Mutter erwähnte Gritrok, den Meisterschmied der Shedau‘Kin. Etwas an dem Pentacut, das Kujaan trägt, muss speziell sein.«
Sie begutachteten das Pentacut der jungen Priesterin. Es war so individuell wie jede Arbeit der Zwerge, doch sonst sahen sie nichts Auffälliges daran.
»Womöglich …«, murmelte Seraphia und trat zu einer Priesterin, die in der Nähe stand.
»Schau! Dieses Pentacut sieht anders aus. Die Ringe sind nur an drei Fingern jeder Hand vorhanden und mit Ketten an die Armreifen gebunden. Das Gleiche an den Füßen. Nur je drei Zehen sind über Ketten mit den Reifen an den Fußgelenken verbunden«, erklärte Seraphia ihre Beobachtung und zeigte auf die Hände und Füße der Priesterin. Sie hielt ihre eigene Hand daneben und schaute auf die fünf Ringe daran, ein jeder mit einer Kette an ihren Armreif gebunden.
Charna nickte mit einem Blick auf ihr eigenes Pentacut, das ebenfalls Ringe an jeder Hand und jedem Fuß aufwies.
»Es muss mit der Macht der Elemente zu tun haben. Unsere Pentacuts sehen aus, wie das von Kujaan und binden alle fünf Elemente. Jeder Finger und Zeh ist mit dem Rest des Pentacuts verbunden. Früher muss das mal anders gewesen sein. Dieses ältere Pentacut bindet nur Feuer, Erde und Geist. Luft und Wasser sind unbeachtet geblieben, wie man anhand der entsprechenden Auslassung der Finger und Zehen erkennen kann. Ich kenne keine Priesterin, die solch ein Pentacut trägt. Selbst die Ältesten Ordensschwestern, die fast fünfhundert Jahre alt sind, tragen das Pentacut, das wir kennen. Dieser Traum muss sechshundert Jahre oder mehr in der Vergangenheit stattfinden. Aber Gritrok lebt womöglich noch in unserer Zeit. Ich habe vor einem Jahr mit ihm gesprochen. Oder ist es länger her?«
»Wir sollten ihn befragen, sobald wir zurück sind«, sagte Seraphia.
Charna sah überrascht zum Eingang.
Seraphia schürzte die Lippen. »Jenara und die Tjolfin.«
Sie beobachteten die Szene schweigend, bis Sarinaca vertraulich und gelöst mit Jenara sprach. Charna schüttelte den Kopf.
»Sie hat Jenara das Amulett der Feuertaufe verliehen? Davon wusste ich ebenfalls nichts. Ich kann nicht glauben, dass Jenara mir das nie erzählt hat.«
Seraphia sah die Hohepriesterin fragend an.
Charna legte den Kopf schief. »Sie ist meine Patentante. Ich kenne sie seit meiner Geburt.«
Seraphia ächzte. »Was?«
»Wir haben uns einmal gut verstanden. Ich habe viel Zeit bei Jenara in den Frostreichen verbracht. Das war, bevor meine Mutter und ihr Vater Ihadrun verschwanden. Sie konnte wunderbare Geschichten erzählen.« Charna lächelte in Erinnerungen versunken. Dann wurde ihr Ausdruck wieder ernst. »Nach einigen Jahren verloren die Menschen das Vertrauen darauf, dass Sarinaca und Ihadrun zurückkehren würden. Im Norden erhoben sich die Nomadenvölker und Jenara musste den Streit mit ihnen allein ausfechten, weil der Orden mit dem Kampf gegen die Ugroth-Giganten beschäftigt war. Danach setzte der politische Konflikt ein, der bis heute weiterbesteht. Ich habe mir mehr als einmal gewünscht, dass Kabal wieder vereint ist …«
Seraphia kämpfte mit verschiedenen Gefühlen. Sie fühlte sich benutzt und manipuliert. Ein Zustand, der ihre Wut heraufbeschwor. Gleichzeitig wünschte sie sich Frieden und Ruhe für Kabal, für ihre Familie und ihre Freunde. Dem Chaos, das ihr Leben in den letzten Tagen zu ruinieren drohte, wollte sie nicht zum Opfer fallen. Sie wollte die Kontrolle zurückerlangen, ihr eigenes Schicksal formen.
»Komm!«, sagte die Hohepriesterin lächelnd und hielt Seraphia ihre Hand hin. Seraphia ergriff sie zögernd und gemeinsam traten sie vor das Portal. Dort bestaunte sie kurze Zeit später das Wirken der Göttin, als diese das Portal öffnete und dann sprang Charna mit ihr hinein. Ob es die Macht der Hohepriesterin war oder die Tatsache, dass es sich nur um einen Traum handelte, wusste Seraphia nicht, doch während alle anderen in Pein aufschrien oder gar in den Flammen des Tunnels umkamen, blieben sie unberührt. Sie beobachten Kujaans Furcht und sahen ihr in die verzweifelten Augen, als sie den Tod der Männer und Frauen um sie herum mit ansehen musste.
»Das ist schrecklich«, sagte Charna.
»Es ist erst der Anfang«, erwiderte Seraphia und Charna warf ihr einen besorgten Blick zu.
Sie landeten zusammen mit Cendrine und Kujaan auf Kitaun und beobachteten die Bemühungen um die Stabilisierung des Tunnels.
»Kujaan ist völlig überfordert. Wie konnten meine Mutter und Cendrine sie einfach so in diese Situation hineinwerfen? Haben sie jegliches Mitgefühl verloren gehabt? Wird man so, wenn man Jahrtausende mit der Macht von Göttern lebt? Verliert man jede Bindung an das Menschsein?«
Seraphia schüttelte den Kopf. »Dazu braucht es weder die Macht von Göttern noch Jahrtausende … Mitgefühl und Verantwortung sind vielen Menschen fremd.«
Charna und Seraphia traten neben Kujaan, als diese die Macht der Dunklen Flamme herbeirief. Seraphia hielt aufgeregt ihre Hände vor die Brust.
»Jetzt! Jetzt geschieht es zum ersten Mal! Ich … Kujaan spürt die Essenzen der Lebewesen. Sie giert nach deren Energie. Sie kann sich kaum zurückhalten … sie will die Lebenskraft aller Anwesenden aufsaugen!«, rief sie ängstlich aus.
Charna sah Seraphia erschrocken an. »Mish‘Ka‘Tan! Das verbotene Ritual! Ich fasse es nicht! Mutter, was hast du getan!«
Sie taumelte zurück, starrte mit blankem Entsetzen auf Kujaan.
Seraphia atmete schwer. »Mish‘Ka‘Tan?«
Charna schaute sie fassungslos an und drückte ihre Hände an die Schläfen. Sie schüttelte den Kopf langsam.
»Charna!«, rief Seraphia und die Hohepriesterin sah sie mit brennenden Tränen in den Augen an.
»Das darf nicht sein! Es ist verboten! Sie muss es wissen, sie hat es selbst niedergeschrieben. Wie kann sie sich gegen ihre eigenen Gesetze wenden?«
Seraphia versuchte, rational zu sein und beruhigte sich, bevor sie Charnas Hände ergriff. »Womöglich hatte sie einen guten Grund. Ich habe noch nie von diesem Mish‘Ka‘Tan gehört. Was ist das?«
Die Hohepriesterin sammelte sich. »Es gibt eine alte Schriftrolle, die meine Mutter verfasst hat. Auf ihr sind sämtliche Kräfte und ihre Eigenschaften aufgelistet, die die Flammengrube den Trägern des Brennenden Blutes gewährt. Das Mish‘Ka‘Tan verleiht dem Träger die Macht, die Lebensenergie anderer Wesen zu vereinnahmen. Die Macht der Dunklen Flamme muss das Mish‘Ka‘Tan sein! Es heißt, es verändert den Geist desjenigen, der es nutzt. Es hat irgendetwas mit der Veränderung des Bewusstseins zu tun. Das Ritual zur Erlangung dieser Macht ist verboten und es gibt keine Aufzeichnungen darüber, wie man es anwendet. Nein!«
Seraphia zitterte vor Anspannung. »Was ist?«
»Es war Cendrine, die mir von deiner Begabung erzählt hat. Sie muss das Ritual kennen und dafür verantwortlich sein, dass du die Macht der Dunklen Flamme erhalten hast.«
Seraphia erinnerte sich spontan und schluckte. »Da war diese eine Nacht. Die Äbtissin rief mich hinab die Grube, so nahe an die Flammen heran, dass sie mich mit ihrer Macht vor deren Hitze schützen musste. Ich … weiß nicht mehr, was damals wirklich geschah …«
Seraphia erinnerte sich an ihre Kindheit und Jugend. Man hatte ihr früh mitgeteilt, welche Macht sie beizeiten empfangen sollte und ihre Eltern hatten sie voller Stolz der Obhut des Ordens überlassen. Ihr wurde klar, dass in all dieser Zeit nichts entschieden gewesen war. Erst in jener Nacht, als sie kurz vor ihrer Priesterinnenweihe stand, war ihr tatsächlich die Macht der Dunklen Flamme gegeben worden. Ein Vorhaben, von langer Hand geplant und ohne Skrupel umgesetzt.
Charna und Seraphia sahen sich lange in die Augen.
Die Hohepriesterin ergriff schließlich das Wort, leise. »Wir werden Cendrine aus Wiras Fängen befreien und dann werden wir herausfinden, was es mit dieser Angelegenheit auf sich hat. Sie wird sich dafür rechtfertigen und die volle Verantwortung tragen müssen. Das verspreche ich dir! Ich brauche dich Sera und ich verspreche dir außerdem, dass ich dich nicht im Stich lassen werde.«
Seraphia neigte das Haupt und ihr Herz schlug schnell, als sie ihre Antwort überlegte. Schließlich nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und sah der Hohepriesterin in die Augen. Ihre Stimme zitterte. »Ich vertraue dir Charna. Solltest du mich jedoch jemals hintergehen oder belügen … ich schwöre dir, dass du es bereuen würdest.«
»Dein Vertrauen ist berechtigt. Dein Misstrauen verstehe ich, aber ich werde dich nicht enttäuschen. Ich verspreche dir, dass ich dich niemals belügen oder hintergehen werde.«
Sera nickte und kämpfte gegen die Tränen an, die ihr in den Augen brannten.
Dieser verdammte Traum, ich habe kaum Kontrolle über mich!
Charna trat neben sie und sah in die Halle der Pyramide. Der Tross strebte einem Ausgang entgegen. Die Hohepriesterin reichte ihr erneut die Hand. »Komm!«
Seraphia bekämpfte ihre Wut und Enttäuschung mit einiger Anstrengung und ergriff zögernd Charnas Hand, die lächelte und ihr vertrauensvoll zunickte.
Sie versteht mich. Ich will ihr einfach vertrauen und wahrscheinlich kann ich es auch. Man hat sie in dieser Situation genauso wie ein unmündiges Kind behandelt, wie mich. Das ist falsch. Wir müssen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen!
Sie folgten Kujaan hinaus in die Nacht Kitauns. Sie hörten einige Zeit später die Meldung eines Spähtrupps. Der Soldat sprach von verbrannten Leibern und toten Kindern.
»Das sind die Folgen des Einsatzes der Dunklen Flamme. Der Feind hat sie benutzt, um den Widerstand vor Ort zu bekämpfen«, sagte Seraphia.
»Wie kann es sein, dass ein Feind, der aus weiter Ferne kommt, die Macht der Flammengrube nutzt und das Mish‘Ka‘Tan kennt? Was steckt hinter dieser ganzen Sache in Wirklichkeit? Es muss eine Verbindung zwischen dem Orden, der Flammengrube und ihrer Macht und unserem unbekannten Feind geben. Ich sehe sie nur nicht.«
Seraphia schluckte. »Du musst erleben, was die Macht der Dunklen Flamme bewirken kann.«
Charna nickte entschlossen. Sie marschierten durch die Wüste dieser fremden Welt und Seraphia hing ihren Gedanken nach. Sie hatte mehr Fragen als Antworten, aber sie vertraute im Moment darauf, dass Charna ihr helfen würde. Sie war wütend auf Cendrine. Wütend und enttäuscht. Sie hatte der Äbtissin der Flammengrube eine große Achtung entgegengebracht. Doch mittlerweile stellte sich heraus, dass Cendrine sie manipuliert hatte. Alles wurde schlimmer, wenn sie bedachte, dass die Äbtissin genau wusste, was mit Kujaan hier geschehen war. Sie wurde so wütend, dass sie die Stimme flüstern hörte. Die Worte waren zu leise, um verstanden zu werden, doch die Macht der Dunklen Flamme regte sich bereits in ihr.
Charna hielt inne und sah sich um. »Hast du das gehört? Seraphia? Was ist los mit dir?«
Seraphia blinzelte, als die Hohepriesterin ihre Schultern packte.
»Seraphia! Was war das?«
»Ich habe an Cendrine gedacht. Ich bin so wütend geworden, dass die Macht der Dunklen Flamme aufflackerte. Ihre Stimme spricht zu mir, wenn ich drohe, die Kontrolle zu verlieren.«
Charna sah sie ernst an. »Wir werden einen Weg für dich finden müssen, damit umzugehen. Ich werde darüber nachdenken, wenn wir zurück sind. Du solltest dich mit Kassandra beraten.«
Seraphia schüttelte widerwillig den Kopf. »Was, wenn sie mit Cendrine unter einer Decke steckt?«
»Das werde ich in Erfahrung bringen«, sagte Charna entschlossen.
Sie erreichten geraume Zeit später das Kloster der Flammenden Verkündung. Seraphia hielt Charna zurück.
»Hier entbrennt gleich eine Schlacht. Ich werde … Kujaan wird sich in die Luft erheben und gegen eine Frau kämpfen, die sich ebenfalls der Dunklen Flamme bedient. Etwa dort!«
Seraphia zeigte in die entsprechende Richtung und ging voran, doch sie konnten sich nicht weiter von Kujaan entfernen, ohne dass das Traumbild verblasste.
Charna winkte sie eilig zurück. »Wir müssen in ihrer Nähe bleiben. Der Traum gewährt nur diese Möglichkeit.« Als die Auseinandersetzung begann, blieb sie einen Augenblick stehen und musterte die feindlichen Kämpfer. Ihr Bild war verschwommen. Die Flugmaschinen jagten über ihre Köpfe, waren aber nur schemenhafte Lichtreflexe. »Was ist das? Wieso erkennen wir den Feind nicht?«
»Wer auch immer mir diese Spritze gegeben hat, muss dafür verantwortlich sein.«
Charna schüttelte den Kopf, dann erhob sich Kujaan in die Luft. Die Hohepriesterin ergriff Seraphias Hüfte und flog Kujaan mühelos hinterher. Sie erreichten jenen Ort, wo Kujaan gegen die andere Trägerin der Dunklen Flamme gekämpft hatte. Das Bild dieser Frau war jedoch messerscharf.
»Minora?«, flüsterte Charna und sank zu Boden. Sie erhob die Hand und Seraphia fühlte sich etwas schwindelig, als die Zeit im Traum langsamer verlief. Die Frau, die Charna Minora genannt hatte, verharrte mitten im Fall. Die Hohepriesterin schaute ihr lange ins Gesicht. Seraphia wurde immer schummriger, bis Charna die Hand sinken ließ und die Zeit im Traum wieder normal verlief.
»Wer ist sie?«
»Eine Priesterin aus dem Orden. Ich kenne sie aus meiner Kindheit. Sie hat gelegentlich auf mich aufgepasst, wenn meine Mutter auf Reisen war. Ich verstehe immer weniger, was hier vor sich geht.«
Seraphia fühlte sich der Hohepriesterin auf eigenartige Weise verbunden. Es schien, dass ihr beider Leben durch die gleichen Geheimnisse belastet wurde. Jemand, womöglich nicht nur Cendrine, sondern sogar die Göttin des Feuers selbst verfolgte bestimmte Absichten mit allem, was geschehen war.
Seraphia trat zu Charna und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie nickte zu Kujaan, die in der Luft über ihnen schwebte. Sie hielten sich fest umklammert und folgten ihr erneut in die Höhe. Von hier oben hatten sie einen guten Überblick über das Kampfgeschehen und Seraphia deutete auf Kujaans Gesicht. Ihre Augen waren schwarz geworden, ihr Antlitz gleichermaßen entstellt vor Lachen und vor Wollust, während ihre Gegnerin von der Macht der Dunklen Flamme vernichtet wurde.
»Geschah das mit dir, als du die Eishexe getötet hast?«, fragte Charna entsetzt.
Seraphia nickte beschämt. Die Hohepriesterin legte ihre freie Hand auf Seraphias Arm und drückte sie.
»Das ist noch nicht alles. Sieh genau hin!«, schluchzte Seraphia, die mit ihren Gefühlen zu kämpfen hatte.
»Beim Brennenden Blute!«, murmelte Charna und verfolgte Kujaan, die Dutzende von Gegnern ihrer Lebenskraft beraubte und dabei immer gieriger wurde. Die Schreie ihrer Lust und ihr irres Lachen schallten über das Schlachtfeld. Seraphia schloss die Augen und krallte sich an der Hohepriesterin fest. Charna hielt sie fest und verschränkte ihre Finger mit Seraphias.
Ich halte das nicht aus! Nicht noch einmal!
Unter ihnen verbrannten unzählige Menschen und es waren nicht nur die Feinde des Ordens darunter. Cendrine tauchte plötzlich neben Kujaan auf und wirkte einen Zauber auf sie.
»Sera! Was macht Cendrine da?«
Seraphia blinzelte die Tränen fort. Sie hatte den Augenblick verpasst.
»Ich weiß nicht. Was ist geschehen?«
»Cendrine hat einen Zauber gewirkt und Kujaan wurde wieder normal.«
»Cendrine kontrolliert Kujaan?«
»Das weiß ich nicht. Es könnte auch eine Anwendung des Geist-Elementes sein, um sie zu beruhigen.«
Seraphia war skeptisch. »Das sollten wir jedenfalls versuchen, in Erfahrung zu bringen.«
Charna nickte.
In den nächsten Tagen des Traums folgten sie Kujaan und Cendrine. Die Hohepriesterin erklärte ihr, dass die Zeit im Traum anders verliefe als in der realen Welt. Wenn sie zurückkehrten, würden in Wirklichkeit nur wenige Minuten verstrichen sein. Wann immer es möglich war, veränderte Charna von nun an den Zeitfluss. Der Vorgang zerrte an Seraphias Kraft und Nerven, aber das war ihr lieber, als noch einmal vollständig die Zeit auf Kitaun zu durchleben. Sie beobachteten zahlreiche Kämpfe gegen feindliche Truppen, die mit der Macht Kujaans spielend geschlagen wurden. Kujaans Tage waren eine Abfolge aus grellen Gefechten und dunklen Stunden, in denen die junge Priesterin fiebernd in einer Kammer oder einem Zelt saß. Sie umklammerte den Haarkamm, den sie stets mit sich führte wie einen Rettungsanker.
»Sie hat überhaupt keinen Halt. Sie denkt an den jungen Mann, der ihr den Kamm geschenkt hat«, sagte Charna voller Mitleid und hielt sich die Hand vor den Mund.
»Sein Name ist Sewenas … sie kannte ihn kaum.«
Charna schüttelte den Kopf. »Sie verbringt all diese Zeit allein. Wir können Thanasis und Cendrine ihr das antun?«
»Weiß Thanasis, was hier vor sich geht?«, fragte Seraphia widerwillig, denn einerseits war sie wütend über die Art, wie man Kujaan ausnutzte und andererseits wollte sie nicht ungerecht sein.
Charna seufzte. »Womöglich nicht. Aber auch das werde ich in Erfahrung bringen, sobald wir zurück sind.«
In den Phasen, in denen Kujaan in den Schlaf fiel, wurde das Traumbild verzerrt. Wilde Bilder aus dem Leben der jungen Frau blitzten in schneller Folge auf und verwirrten die Sinne.
»Das ist kaum auszuhalten. Was passiert?«, ächzte Seraphia.
»Ein Traum im Traum. Das ist in der Tat sehr schwer erträglich. Wir sind tief in Kujaans Unbewusstem. Ich frage mich, wie man dir diese Erinnerung eingepflanzt hat.«
»Im Moment will ich nur, dass es aufhört.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Die Hohepriesterin hob die Hand und schloss die Augen. Die Geschwindigkeit der Ereignisse nahm zu und Seraphia kniff die Augen zu. Ihr wurde schwindlig und übel, als Zeit und Raum in ihrer Wahrnehmung auseinander gerissen wurden.
»Hör auf, ich halte das nicht mehr aus!«, stöhnte sie.
Charna nahm die Hand herab und der Traum verlangsamte sich. Cendrine erschien in einem Zimmer, das Kujaan als Schlafkammer gedient haben musste.
Sie folgten ihr hinaus auf eine Reise, die sie in eine verlassene Stadt in den Felsen brachte. Ein feindliches Heer erwartete sie.
»Das ist das Gaar«, sagte Seraphia und deutete auf das titanische Juwel, das rhythmisch pulsierte und vor ihnen in die Höhe ragte.
Charna nickte. »Das Artefakt, das die Verbindung zwischen den Welten stört.«
Seraphia und ergriff ihre Hand. »Hier passiert es …«
Eine Schlacht entbrannte um sie. Die wenigen verbliebenen Mikarianer und Priesterinnen waren den Gegnern hoffnungslos unterlegen. Sie kämpften mit dem Mut der Verzweiflung und erwirkten Erstaunliches, doch kurz bevor Cendrine und Thanasis das Gaar erreichen konnten, war der Feind im Begriff die Oberhand zu gewinnen.
Kujaan erkannte die Situation ebenfalls und handelte.
Charna und Seraphia wurden voll Entsetzen Zeugen, wie sie die Essenzen von Tausenden Kämpfern in sich aufsaugte. Ihr Gesicht veränderte und deformierte sich, während ihr Körper in gleichem Maße einer schrecklichen Verwandlung unterworfen wurde. Seraphia schrie auf, als sie sich daran erinnerte, wie der Irrsinn in Kujaan brannte.
Seraphia schlug die Augen auf und spürte die Wärme der Hohepriesterin. Charna drückte sie fest an sich und flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr. Sie saßen auf dem kalten Steinboden der Halle, die Hohepriesterin hatte Charnas Haupt in ihren Schoss gebettet und streichelte ihre Stirn. Sie setzte sich auf und klammerte sich an Charna fest. Sie weinte minutenlang, während allmählich die Anspannung aus ihr wich. Charna wiegte sie wie ein Kind in den Armen. Seraphia beruhigte sich endlich und hob schließlich den Kopf. Behutsam wischte Charna die Tränen von ihren Wangen und sah sie besorgt an.
»Ich werde dich nicht allein lassen. Wir werden gemeinsam das Rätsel lösen, das hinter dieser ganzen Sache steckt. Wir werden einen Weg finden, dir diese schreckliche Bürde von den Schultern zu nehmen, oder sie zumindest so erträglich zu machen, dass du nicht verzweifeln musst.«
Seraphia kniff die Lippen zusammen und sah Charna nickend in die Augen.
Die Hohepriesterin atmete tief ein küsste sie auf die Stirn. »Wo soll ich anfangen, Sera? Ganz Kabal ist im Chaos und die Probleme wachsen mir über den Kopf. Etwas Hilfe wäre jetzt nicht schlecht.«
Seraphia seufzte und wischte sich mit einem Ärmel über die feuchte Nase. Sie lächelte entschuldigend. »Was kann ich tun?«
Charna lachte leise und strich ihr durch die Haare. »Du bist ein liebes Wesen, Sera. Im Moment kannst du mir vertrauen und in meiner Nähe bleiben. Zögere nicht, mich an mein Versprechen zu erinnern. Ich bin nicht ganz ich selbst gewesen, in den letzten Tagen. Wer weiß, was noch geschehen mag. Wir müssen jetzt die Probleme begreifen, die unmittelbar vor uns liegen und sehen, wie sich diese lösen lassen. Ich bin mir sicher, dass einige unserer Sorgen miteinander verknüpft sind.«
Ein Klopfen an der Bronzetür ertönte.
Charna lächelte Seraphia an und sie standen beide auf.
»Herein!«
Grond steckte seinen Kopf durch die Tür und schluckte.
»Verzeiht die Störung, Hohepriesterin. Aber Seral besteht darauf, dass …«
Die Tür wurde ganz aufgestoßen und der geflügelte Herr des Namenlosen Abgrunds trat in die Halle des Feuers. Seraphia musterte Seral. Seine weiße Haut mit den Zeichen darin und die schwarzen Flügel waren eine eigenartige Erscheinung. Sie hatte noch nie einen Mann wie ihn gesehen.
»Du hast hoffentlich eine Erklärung für das, was du mit Mehmood anstellen ließest.«
Charna seufzte. »Auch dir einen schönen Tag, mein Geliebter.«
Seral stemmte die Fäuste in die Hüften. »Ich bin nicht zu Späßen aufgelegt, verdammt.«
Charnas Augen flammten auf und ihre Präsenz füllte mit einem Mal die Halle aus. Seral und Seraphia wichen zurück.
»VERGISS NICHT, MIT WEM DU SPRICHST!«, rief Charna mit einer Lautstärke, die loses Gestein von der Decke fallen ließ.
Seral hob die Augenbrauen und verneigte sich. »Entschuldige meine Respektlosigkeit. Ich habe eine Woche lang mit den Ausgeburten des Namenlosen Abgrunds gekämpft, um dir zur Hilfe zu eilen, und dann erfahre ich bei meiner Ankunft von Mehmoods Situation und dem Aufruhr in ganz Kabal. Ich bin etwas … angespannt.«
Charna seufzte. »Wir sind alle etwas angespannt, nehme ich an. Verzeih meinen Ausbruch. Ich … wir haben eine anstrengende Reise in Seraphias Erinnerungen hinter uns.«
Seral kam zu ihr und schaute sie an.
»Ich habe dich davor gewarnt, diese Methode anzuwenden, bevor ich dir mehr beigebracht habe. Kein Wunder, dass du so … aufgebracht bist.«
Charna lachte und gab ihm einen Kuss. »Tut mir leid, dass ich so laut geworden bin.«
»Macht nichts. Du wirst immer laut, wenn du erregt bist.«
»Seral!«, flüsterte Charna und zog eine Grimasse.
Seraphias Kinnlade klappte auf und die Hohepriesterin lachte so laut, dass es ansteckend war. Die Spannung wich endgültig aus dem Raum und alle atmeten auf.
»Ich hab dich vermisst. Es ist gut, dass du gekommen bist«, flüsterte Charna und ergriff Serals Hand. Sie fuhr lauter fort. »Ich möchte dir Seraphia vorstellen.«
Er verneigte sich vor ihr und sie erwiderte seine Begrüßung höflich. Sie fühlte sich erschöpft und wusste, dass sie schrecklich aussehen musste.
»Soll ich mich zurückziehen?«, fragte Seral leise, als er einen Blick in Seraphias Augen geworfen hatte.
»Nein. In der Tat kommst du genau zur rechten Zeit. Wir haben einiges zu besprechen. Ich brauche deine Hilfe.«