Kapitel 6
Thanasis hörte der Priesterin aufmerksam zu.
»Dieser Mehmood kam hereingestürzt, in großer Eile und sehr aufgebracht, wie es schien. Die Äbtissin der Flammengrube nahm sich der Sache persönlich an. Serals Gesandter sprach von einer Gruft und einer Krone«, sagte die Priesterin überlegend.
Kassandra nickte. »Die Gruft der Sidaji-Herrscher. Ich war bereits einmal dort. Ich denke, ich kann es finden!«
Sie eilte aus dem Raum und Thanasis folgte ihr augenblicklich. Irian, der zweite Mond Kabals, ging langsam unter und sein Licht wurde schwächer. Die Morgendämmerung war nur eine blasse Ahnung am fernsten Horizont, doch Kassandra sah im Dunkeln ebenso gut wie er. Sie hetzten durch die Schatten der Wandelgänge und an den flachen Bauten der Sidaji vorbei, deren Fenster und Eingänge in der Finsternis verborgen lagen. Als Thanasis eine Bewegung und ein Geräusch aus einem Torbogen vernahm, hielt er inne.
»Pst!«, raunte er Kassandra zu, die sofort innehielt. Thanasis trat in den Hauseingang und fand eine gefesselte Wache aus Jenaras persönlicher Garde. Der Mann hatte eine blutende Wunde am Hinterkopf und wirkte benommen.
»Lass ihn liegen! Die Gruft ist gleich hier vorn«, sagte Kassandra und sie näherten sich dem Gebäude leise und mit großer Vorsicht.
Thanasis ließ sich unsichtbar werden, Kassandra wartete am Eingang. Er schlich die Treppe hinunter, betrat eine ausgedehnte, unterirdische Begräbniskammer mit künstlicher Beleuchtung und sah am Ende eine zerstörte Tür, deren Trümmer den Boden vor einer Gruft bedeckten. Er eilte dorthin und achtete auf einen möglichen Hinterhalt, doch außer ihm war niemand zugegen. Er lugte aus einiger Entfernung in die Totenkammer und sah das Bein eines Mannes in schwarzer Kleidung neben einer Lache Blut, in der etwas lag.
Es war eine Krone.
Er trat vorsichtig ein und sah, dass keine Feinde anwesend waren. Nur Mehmood lag vor ihm, eine Wunde im Unterleib, die heftig blutete. Thanasis ging zu ihm und überprüfte mit wenig Hoffnung den Puls.
Der Junge lebt noch!
»Kassandra! Schnell!«, rief er nach draußen. Er riss Mehmoods weite Kleidung in Fetzen und improvisierte einen Druckverband daraus.
Kassandra lief in die Gruft und kniete sich sofort neben den Verletzten. Sie legte eine Hand auf seine Stirn und schloss die Augen einen Moment.
»Er schwindet. Lass mich das machen!«, sagte sie und zerriss den Stoff über der Wunde. Der Einstich war an den Rändern eingerissen. Der Angreifer hatte den Stahl in der Wunde gedreht. Sie schob erst einen Finger, dann mehrere in den Schnitt und schließlich die ganze Hand. Blut sickerte aus Mehmoods Mund und er röchelte wie ein Erstickender. Thanasis ließ Kassandra unbehelligt, er hatte sie so oft das Leben Todgeweihter retten sehen, dass er gelernt hatte, schweigend abzuwarten, egal was er bei dem empfand, was sie tat.
Sie legte ihre andere Hand auf Mehmoods Brust und Blut spritzte mit hohem Druck aus Mund und Nase. Thanasis wischte mit dem Stück Stoff, das er als Verband gedacht hatte, über Mehmoods Gesicht. Kassandra zog ihre Hand langsam aus der Wunde. Die Blutung hörte auf, aber Mehmood sah schrecklich aus.
»Er hat sehr viel Blut verloren«, sagte Thanasis leise.
Kassandra schwieg, legte ihre Hand einen Augenblick auf die Wunde und die Ränder schlossen sich. Eine frische Narbe trat an ihre Stelle.
Sie öffnete eine eingerollte Tasche, die sie an der Rückseite ihres Gürtels befestigt hatte. Eine Reihe von Utensilien aus Silber, verziert mit roten Rubinen lag darin. Sie entnahm zwei Kanülen und einige Schläuche, die sie an einer kleinen Glasphiole festmachte, in der ein silbernes Geflecht und unzählige der roten Edelsteine glitzerten.
»Bist du sicher, dass du das machen willst? Er steht in Serals Diensten«, sagte Thanasis.
»Wenn ich es nicht tue, steht er in niemandes Diensten mehr.«
Kassandra suchte mit tastenden Fingern die richtige Stelle und rammte die Kanüle in Mehmoods Arm. Sie nahm die andere Hohlnadel und stach sie sich ohne Zögern in ihren eigenen Arm. Flammen schossen durch den Schlauch von Kassandras Arm in die Phiole und die Rubine darin leuchteten hell im Rhythmus ihres Herzschlags auf. Die Flammen verwandelten sich in der Phiole in Blut, das in Mehmoods Körper floss.
Kassandra schloss die Augen erneut für einige Sekunden. »Er ist beinahe fort.«
Thanasis prüfte Mehmoods Puls und konnte ihn kaum noch fühlen. Er schüttelte den Kopf, als Mehmoods Herz das letzte Mal schlug.
Kassandra fluchte. »Ich hole ihn zurück!«
»Nein, Kassandra! Das ist viel zu gefährlich, hier und jetzt, an einem Ort wie diesem.«
Kassandra lächelte. »Du passt auf mich auf, was soll da geschehen?«
Thanasis stand auf und trat in den Eingang der Gruft. Er atmete tief ein. Keine Zeit für lange Überlegungen.
»Na gut. Leg los!«
Kassandra setzte sich mit überkreuzten Beinen und legte eine Handfläche auf Mehmoods Stirn. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Als Thanasis sah, das sich die Augen-Zeichnung auf ihrer Stirn veränderte, wusste er, dass sie in die Unterwelt eindrang. Ihr physischer Körper verblieb hier, doch mithilfe des fünften Elementes, welches Kassandra in besonderer Weise beherrschte, drang ihr Geist in die Welt der Toten, wo Mehmoods Essenz bereits erwacht sein musste.
Kassandra öffnete die Augen. Das fahle Silberlicht sickerte von einem Himmel herab, der von Sturmwolken bedeckt war.
»Immer ein Sturm.«
Es war die Unterwelt, der Ort, an dem der Geist, die Essenz eines Wesens verblieb, wenn es starb. Kassandra erhob sich. Sie ließ ihren Blick umherwandern. Dunkle Felsen, Wasserfälle und Nebel dominierten diese Stätte, den es war das Ufer, an dem die soeben Verstorbenen ins Reich der Toten gelangten. Im Festland hinter ihr beherrschte eine Stadt das Panorama. Sie glich dem Stil der Sidaji-Siedlungen, die sie kannte. So viele Sidaji waren hier vom Tode ereilt worden, dass ihre Präsenz eine Siedlung hatte entstehen lassen. Mehmoods Geist war kurz vor ihr in die Unterwelt gelangt, also würde sie ihn in der Nähe finden. Da er nicht am Ufer war, folgte sie einem Pfad, der die Böschung hinaufführte und sie zur Siedlung der Sidaji leitete. Die Essenzen der Echsenwesen wandelten durch die Stadt, gefangen in endlosen Wiederholungen ihrer Erinnerungen. Traumgestalten ohne Bewusstsein.
Sie sah an sich herab. Wie immer leuchtete ihr durchscheinender Körper in den orangeroten Flammen der Macht des Brennenden Blutes, die ihr der Orden verliehen hatte. Etwas davon war in Mehmoods Leib gelangt, kurz bevor er gestorben war. Mit etwas Glück gelang es ihr, die Fährte zu finden, die zu Mehmoods Essenz führte. Sie konzentrierte sich und passte ihre Wahrnehmung dem Wunsch an, Mehmood zu folgen. Einen Augenblick später erkannte sie eine schwach rötlich leuchtende Spur, die sich durch die Luft vor ihr zog und allmählich verblasste. Sie folgte der Spur und drang in die Siedlung vor. Tausende von Sidaji waren hier unterwegs, doch sie waren abwesend, erlebten nur das, was ihre Träume ihnen gaben.
Kassandra lief der leuchtenden Fährte hinterher und hörte eine geflüsterte Frage hinter sich. Sie drehte sich um und nahm einen Schatten war, der sich aus einem dunklen Torbogen in ihre Richtung wandte.
Ein Wächter.
Sie rannte los.
Thanasis beobachtete angestrengt seine Umgebung. Die Temperatur war trotz der schwülen Hitze des Sumpflandes weit unter den Gefrierpunkt abgesunken. Ein kalter Nebel breitete sich in der Gruft aus und verteilte sich in der unterirdischen Begräbnisstätte. Er bekam eine Gänsehaut. Es würde nicht mehr lange dauern.
Kassandra eilte um eine Gebäudeecke und spürte die Präsenz des Wächters hinter sich. Mehmood war vorangeeilt, was ungewöhnlich war, aber bei gewaltsamen Todesfällen vorkommen konnte. Gewiss hatte er eine unerledigte Aufgabe zurückgelassen. Das konnte Kassandra dabei helfen, ihn zurückzubringen, weil es die Verbindung in die Welt der Lebenden aufrechterhielt. Sie hetzte weiter durch die Gassen und gelangte auf einen offenen Platz. Mehmoods rötlich leuchtende Essenz stand in der Mitte vor einem runden Schacht, der vor ihm in die Tiefe fiel.
Es war ein Ausgang. Mehmood hatte ihn selbst gefunden, was außergewöhnlich war. Kassandra ahnte nun, warum der Herrscher des Namenlosen Abgrunds einen Mann wie ihn ausgewählt hatte, um über den Zugang zu seinem Reich zu wachen. Er wäre anscheinend von selbst aus dem Totenreich entflohen.
Sie trat auf ihn zu und legte ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter. Er drehte sich zu ihr um und starrte sie mit leerem Blick an. Kassandra sprach seinen Namen und seine Essenz flackerte auf.
»Kassandra? Wo bin ich? Was … ich muss zurück! Cendrine! Sie haben Cendrine!«
Kassandra erschrak. Das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein! Sie fühlte eine Kälte über ihren Rücken streichen und wirbelte herum. Mehmood erstarrte ebenfalls vor Schreck neben ihr.
Von allen Seiten des Platzes näherten sich die Wächter der Unterwelt. Geistlose Schatten, die die Lebenden verfolgten, die diesen Ort unberechtigt aufsuchten. Es waren sieben an der Zahl, weit mehr als üblich.
Thanasis wurde unruhig und zog das Elfenbeinmesser aus seiner Gürtelscheide. Es trug die Zeichen alter Götter in sich und konnte die Wächter der Unterwelt aus dem Diesseits verbannen. Die Gruft war eiskalt geworden und Kassandra hatte Mehmood scheinbar noch nicht gefunden.
Beeil dich, Sandra!
Ein Schatten zwischen den Sarkophagen regte sich. Thanasis war sofort zur Stelle und packte den Wächter am Hals. Die Beinahe-Form des Wesens wollte seinen Fingern entgleiten, doch Thanasis war der Herr des Schwarzen Labyrinths. Er zog die Elfenbeinklinge mit einer blitzschnellen Bewegung durch die schattenhafte Kehle des Wesens. Mit einem dumpfen Aufschrei verschwand er in einer Wolke silbrigen Dampfes.
Er wirbelte herum und sah drei weitere der Wächter auf Kassandra zueilen. Sie würden die Seherin ergreifen und unwiderruflich ins Totenreich hinüberzerren. Thanasis würde dies jedoch nicht zulassen. Er hieb nach einem Wächter und stieß dem Zweiten die Klinge in die Gurgel. Sofort erfasste er den Dritten und rammte ihm das Messer in die Kehle. Der verbleibenden Unterwelt-Wächter griff nach Kassandras Hals …
… sie stieß Mehmood in den Schacht und fühlte, wie die kalte Hand eines Wächters sie ergriff. Sie erstarrte sofort. Die Farbe ihrer Essenz fing an, zu verblassen. Kassandra wand sich, doch der Griff des Wächters war eisern und nicht zu brechen. Sie spürte, wie ihr Wille schwächer wurde.
So oft war sie in der Unterwelt gewesen. Sie hatte lange genug gelebt, sie wusste das und sie wusste nun auch, dass loslassen musste. Die Farbe wich aus ihrer Essenz.
»Zeit zu gehen …«
Thanasis erreichte den Wächter und riss die Klinge durch seinen Hals. Das Geistwesen verging in einem gequälten Todesschrei, doch Kassandra sackte in sich zusammen.
»Nein! Sandra! Komm zurück!«
Bevor er sich um sie kümmern konnte, erschienen drei weitere der Wächter. Er trat den Ersten beiseite, packte den Zweiten am Hals und machte ihm den Garaus. Der Dritte schnellte an ihm vorbei und umarmte Kassandra, während sich der Zweite erneut auf Thanasis warf.
»NEIN!«
Thanasis brüllte, ließ die Klinge durch den Wächter vor sich schnellen und machte einen Satz voran doch der Unterwelt-Wächter, der Kassandra umarmt hatte, löste sich auf, bevor er ihn erreichen konnte. Kassandra sank kraftlos auf den Boden. Thanasis schrie auf vor Wut und Zorn. Er packte den Griff des Elfenbeinmessers und rammte es sich in den Bauch.
Kassandra freute sich über die Farbe, die in ihre Welt drang.
Es war Tag.
Die Sonne schien auf den Hof ihres Familiensitzes. Ihre Mutter und ihr Vater waren da. Ihre Tanten und Onkel. Sie hatte sich auf ein Fest wie dieses gefreut. Aber sie war unruhig. Sie wartete auf Thanasis. Er war lange fort gewesen und sie vermisste ihn. Sie vermisste ihn so schrecklich.
Sa‘Ida trat an ihre Seite. Ihre Schwester trug ein weißes Kleid und lächelte sie an.
»Schon wieder in Gedanken bei ihm?«
Kassandra lachte.
»Ihr beiden seid unzertrennlich.«
Sie sah das Kleid ihrer Schwester und hatte das Gefühl, es bereits einmal gesehen zu haben. Es war an einem Tag, der ihr großen Schmerz gebracht hatte.
»Er liebt dich so sehr, er würde in die Unterwelt kommen und dich retten, weißt du das?«
Kassandra sah ihre Schwester erschrocken an. Etwas stimmte nicht an diesem Bild. Sa‘Ida hatte eine Stichwunde in der Brust. Sie blutete.
»Was ist passiert? Du musst sofort …«
Sa‘Ida blickte sie traurig an und die Farben schwanden aus Kassandras Welt. Sie sah sich um, ein Schwindelgefühl bekämpfend, das sich in ihrem Kopf ausbreitete. Ihre Schwester stützte sie und flüsterte ihr ins Ohr.
»Warte noch einen Augenblick. Er ist auf dem Weg.«
Sie lächelte und löste sich auf, war nur noch ein rauchfarbener Schattenriss und Kassandra strauchelte haltlos zu Boden.
»Sa‘Ida!«
Ein rotglühender Feuerdämon trat an ihre Stelle. Seine mächtige Gestalt stürzte auf Kassandra zu. Brennende Hörner entwuchsen seinem Schädel und seine Hufe schlugen Funken, als er rannte.
»Sandra!«
»Thanasis?«
Ein Unterwelt-Wächter griff an, doch Thanasis versetzte ihm einen Hieb, der ihn davonfliegen ließ, bis er außer Sichtweite war. Er war jetzt bei ihr und nahm Kassandra unverzüglich auf die Arme.
»Du musst dich in den Schacht stürzen, sofort!«, rief sie.
Hinter ihnen erschien ein größerer Schemen am anderen Ende des Platzes. Es war ein schwarzer Hund von titanischen Ausmaßen. Seine silberfarbenen Krallen kratzten Rillen in den Stein des Bodens. Seine roten Augen fixierten sie. Er grollte aus den Tiefen seines riesenhaften Körpers, ließ mit dem Laut die Gebäude erzittern. Die sonst teilnahmslosen Toten ergriffen plötzlich die Flucht.
»Spring!«
Thanasis tat, wie ihm geheißen und stürzte in die Dunkelheit hinab. Das Geräusch mächtiger Pfoten und messerscharfer Krallen, die im Sprint auf den Stein schlugen, hallte als Echo den Schacht herunter. Dann verschluckte die Schwärze sie.