Der Tod der Sidaji
Kapitel 1
Seraphia zog die rote Robe, die Zeichen ihres Standes war, fester um sich. Der Flugwind zerrte an ihren schwarzen Haaren und ließ ihre Strähnen durch die Luft peitschen.
»In einer halben Stunde sind wir da«, rief Koorm, der rote Kraindrache, auf dem Seraphia ritt. Sie warf einen Blick nach unten durch die dünnen Wolken. Die beiden Sonnen Kabals standen im Zenith und sie überflogen die unwirtlichen Ausläufer des Idrak-Gebirges, in dem der gleichnamige Tempel des Ordens lag - ihr Zuhause.
Aber wie lange noch?
Seraphia schauderte bei dem Gedanken an das, was sie dort berichten musste. Wie würde Charna darauf reagieren? Die Hohepriesterin war nie ungerecht zu ihr gewesen, aber sie wollte nicht der Überbringer schlechter Nachrichten sein.
Koorm zog die Flügel ein und sie sausten so schnell hinab, dass Seraphia ein wenig übel wurde. Höhenangst drohte sie zu übermannen, während die Erde auf sie zu stürzte. Sie versuchte Luft zu holen, aber der starke Flugwind verhinderte das Atmen. Koorm stieß einen lauten Schrei aus.
Es macht ihm auch noch Spaß!
Seraphia wurde beinahe wütend und lachte dann über sich selbst. Sie überwand die Übelkeit und sog die Luft ein, als Koorm seine roten Schwingen erneut ausbreitete. Sie glitten ruhig über einer breiten Straße dahin, die direkt in den Idrak-Tempel führte. Pilger, Händler und Abgesandte reisten in beide Richtungen, ein endloser Strom bunter Gestalten, der kein Ende nahm. Reittiere aus den fernsten Gegenden Iidrashs liefen, watschelten und rutschten auf dem uralten Pflaster der Tempelstraße dahin. Es war Mittagszeit und viele trugen Schirme, Kopftücher und Turbane, um sich vor den sengenden Strahlen der Sonnen zu schützen. Seraphia blickte nach vorn. Vor ihr lag Idrak, der Berg und Tempel des Ordens des Brennenden Blutes, dessen Gipfel stets Wolken umhüllten. Die Felswände, vor Urzeiten umgestaltet, waren übersät von kunstvoll gemeißelten Treppen, Türmen und Fenstern. Meisterhaft gearbeitete Statuen verwitterten seit so langer Zeit, dass sie allmählich mit dem Felsen verwuchsen, aus dem man sie getrieben hatte. Auf halber Höhe über dem Grund klaffte ein hundert Schritt breites Loch im Berg. Eingerahmt von gigantischen, gedrehten Säulen führte es Hunderte von Metern in das Gebirge hinein. Kroom steuerte direkt darauf zu, denn er kannte den Weg. Aus dem Augenwinkel nahm Seraphia eine Bewegung wahr und sah einen weiteren Kraindrachen aus dem Himmel stürzen. Es war ein goldener Riese mit imposanten Schwingen. Kroom stieß einen Begrüßungsschrei hinaus und Seraphia winkte. Im Sattel des großen Kraindrachen saß Cendrine, die Äbtissin der Flammengrube. Kroom jagte mit einem Satz als Erster in die Felsöffnung und schnellte mit hohem Tempo durch die finsteren Öffnungen und Wege, die ins Innere des Tempels führten. Fackeln der Wachen und Krieger blitzten im Dunkel auf. Seraphia sah die Geschosswerfer und Blitzfallen der Kampfmagier im Halbdunkel vorüberhuschen. Einer schwenkte seinen Turm mit und schien eine Zielübung auf Seraphia durchzuführen.
Ja, übt nur. Wir brauchen euch womöglich eher, als ihr denkt.
Kroom schmetterte seine Flügel in rascher Folge durch die Luft und ließ sich dann fallen. Sie hatten den Eingang zum Tempel erreicht. Das Rauschen der Schwingen von Cendrines goldenem Kraindrachen Sora schallte von den Felswänden zurück und Seraphia sprang von Kroom herab. Der Gurt ihrer Robe löste sich und die von Sora aufgepeitschte Luft warf den Stoff zurück. Wie es für die Priesterinnen üblich war, trug sie nur das Pentacut-Geschmeide darunter. Der Junge, der sich um Kroom kümmerte, sah ihren unbedeckten Körper und riss überrascht die Augen auf. Seraphia schloss ihre Robe hastig. Er war nur einige Jahre jünger als sie, aber er kam ihr vor wie Kind.
Der Bursche neigte das Haupt. »Verzeiht, bitte verzeiht!«
»Kümmer dich gut um Krooms Bedürfnisse, er hat einen langen Flug hinter sich.«, sagte sie und wandte sich um.
Cendrine sprang mühelos von Soras hohem Sattel. Sie trug die Sengende Klinge auf dem Rücken, deren brennendes Metall Tropfen heißer Glut verlor, die zischend auf den Boden fielen. Ihre schwarze Haut schimmerte im Schein der Klinge. Seraphia fragte sich erneut, was mit Cendrines Haar geschehen war. Sie hatte nie Haupthaar gehabt, seit Seraphia sie kannte und weiße Zeichen bedeckten ihren Kopf und Teile ihres Körpers. Sie trug ihre schimmernde Rüstung, deren knapper Zuschnitt von der magischen Wirkung zeugte, die dem Metall innewohnte. Einfaches Rüstzeug musste den Körper bedecken, um so Schutz vor Verletzungen zu bieten, doch die besten Panzerungen schützten ihren Träger mit weit mehr als der Dicke ihres Materials. Cendrines Rüstung gehörte dazu. Die Äbtissin war muskulös für eine Frau, aber dennoch sehr weiblich. Seraphia verbeugte sich ihrem Stand entsprechend vor ihr, doch Cendrine schloss sie einfach in ihre Arme. Seraphia berührte dabei aus Versehen die Sengende Klinge, aber ihr Pentacut-Geschmeide schützte sie vor der zerstörerischen Kraft dieser teuflischen Waffe.
»Sera, mein Engel. Du bist noch schöner geworden«, sagte Cendrine und strich eine Strähne aus Seraphias lächelndem Gesicht. Die Äbtissin wirkte müde und abgekämpft. »Es wird Zeit, dass du einen Mann findest, bevor ich das nur noch aus Höflichkeit sagen kann.«
»Das würdest du nie tun. Ich meine, nicht dass du jemals unhöflich sein könntest und das Kompliment war natürlich gerade sehr höflich von dir … Ach, verdammt, du weißt, wie ich das meine«, stammelte Seraphia und rieb sich die Schläfen.
Cendrine sah sie durchdringend an. »Du bringst schlechte Nachrichten aus den Sümpfen. Lass uns gemeinsam zu Charna gehen«, sagte sie und lächelte warm, als sie sich bei Seraphia unterhakte.
Mit Stahl gerüstete Wächter verneigten sich und senkten ihre Hellebarden, als sie den von Säulen flankierten Eingang zum Inneren des Tempels passierten. Auf dem Weg plauderte Cendrine über die Fortschritte der Adeptinnen und das Wetter auf der anderen Seite Iidrashs. Die wichtigen Dinge mussten warten, bis sie das Sanctum betraten, denn hier waren noch zu viele Fremde unterwegs. Seraphia hörte kaum zu und nickte gelegentlich, wenn es angemessen schien, doch die Äbtissin war selbst nicht ganz bei der Sache und sprang von einem Thema zum nächsten. Sie verspürte eine wachsende Angst davor, stotternd vor der Hohepriesterin zu stehen. Es wäre ihr lieber gewesen, sie hätte ihre Zimmer aufsuchen können, denn nach der anstrengenden Reise fühlte sie sich schmutzig und zerzaust. Die Muskeln in ihren Beinen schmerzten bei jedem Schritt vom langen Ritt auf Krooms Rücken. Doch sie musste zunächst die Nachrichten überbringen, dann konnte sie sich ausruhen. Sie folgten dem von Öllampen und Fackeln erleuchteten Gang, an dessen Flanken in regelmäßigen Abständen beleuchtete Durchgänge lagen, die in andere Flure und offene Räume führten. Eine Vielzahl von Reisenden und Tempeldienern eilte vorüber oder stand plaudernd im Weg. Alle machten Platz und verneigten sich höflich, wenn sie Cendrine sahen. Männer und manchmal auch Frauen lächelten Seraphia wohlwollend an. Cendrine war selbst eine begehrenswerte Frau, doch ihre herbe Schönheit, ihr muskulöser Körper und ihre Respekt gebietende Rolle als Erbin der Sengenden Klinge hielten die Menschen auf Abstand. Für eine Priesterin wie Seraphia hingegen war es nicht ungewöhnlich, normale Beziehungen zu pflegen. Sie wusste, dass die Äbtissin ihr vorhin mehr gesagt hatte, als dass sie einen Mann finden sollte. Eigentlich wollte sie sagen: Seraphia, lebe dein Leben, bevor deine Stellung es unmöglich macht! Genieße deine Jugend und Freiheit! Doch Cendrine war zu höflich, um direkter zu werden. Und Seraphia war zu ehrgeizig, um den Rat zu befolgen. Ein kräftiger Mann, dessen Initiation seinen Körper in einen Kentauren verwandelt hatte, klapperte auf seinen Hufen vorüber. Er hielt die Hand einer hübschen Adeptin, die die blaue Robe des ersten Lehrjahrs trug. Beide wirkten glücklich und Cendrine entging Seraphias aufmerksamer Blick nicht.
»Hast Du mal mit einem Kentauren …?«, fragte die Äbtissin.
Seraphia wurde rot. »Nein.«
Cendrine lachte und neigte gedankenverloren den Kopf. Sie seufzte und lächelte sehnsüchtig. Seraphia vertrieb die unwillkürlich aufblitzenden Bilder aus ihren Gedanken und schüttelte den Kopf. Magisch begabte Männer in Kentaurenleibern waren kein ungewöhnlicher Anblick und sie pflegten Liebesverhältnisse wie alle anderen Männer auch. Die Frauen der Kentauren schien es nicht zu stören, doch bestimmte Aspekte solcher Beziehungen waren Seraphia bisher unverständlich geblieben. Sie verließen nun den Hauptgang und nahmen eine Abkürzung zu einem Seiteneingang des Sanctums. Die Wachen ließen sie passieren. Cendrine fuhr mit der Hand durch die Luft und ließ mit einem telekinetischen Befehl das tonnenschwere Tor hinauf in den Torbogen gleiten. Es schien sie nicht mehr Mühe zu kosten, als es Seraphia anstrengte, eine lästige Fliege zu vertreiben. Sie betraten den Innenhof, während Cendrine das Tor wieder herabließ. Seraphia war nur selten diesen Weg gegangen. Sie ließ ihren Blick über die Reliefs an den Wänden gleiten. Öllampen brannten in Nischen und warfen zuckende Schatten auf die Steinmetzarbeiten, die Szenen aus der langen Geschichte des Ordens darstellten. Ein uraltes Relief zeigte Cendrine im Kampf mit gigantischen Biestern. Seraphia fragte sich nicht zum ersten Mal, wie alt die Äbtissin sein mochte.
Hier im Sanctum waren nur noch wenige Menschen unterwegs und alle gehörten zum Orden. Adeptinnen und Priesterinnen eilten ihnen entgegen, als sie sahen, wer da kam. Es wurde eilfertig eine Reihe gebildet. Das unangekündigte Erscheinen der Äbtissin der Flammengrube und der Herrin der Dunklen Flamme sorgte für Aufregung unter den Schwestern. Adeptinnen zupften unruhig an ihren Roben und Echos hastig erteilter Befehle erklangen im Innenhof, der von einer weit entfernten Höhlendecke überspannt wurde. Die ranghöchste Ordensschwester folgte peinlichst genau dem Protokoll und sprach die Worte der Begrüßung.
»Der Tempel der Heiligen Flamme empfängt Euch, oh Äbtissin der Flammengrube, Erbin der Sengenden Klinge. Eure Anwesenheit stärkt unseren Willen, beruhigt unsere Gedanken, erfüllt uns mit Freude …«
»Schon gut, Jassu, ich weiß, dass du die Worte perfekt aus dem Gedächtnis rezitieren kannst, seit du meine Schülerin warst. Du bist deinen Adeptinnen eine gute Lehrerin. Hört auf Jassu und nehmt euch ein Beispiel an ihr! Wir haben es jedoch eilig. Bring uns ins Innere Sanctum!«, sagte Cendrine und meinte den Bereich, der den Ordensschwestern und besonderen geduldeten Personen vorbehalten war.
Jassu wirkte etwas erschrocken. Sie scheuchte die Adeptinnen davon und geleitete Cendrine und Seraphia sogleich in einen Seitengang, der im rechten Winkel vom Innenhof weg führte.
»Verzeiht, Herrin der Dunklen Flamme, ich habe euch nicht angemessen begrüßt!«, sagte Jassu aufgeregt über ihre Schulter hinweg.
»Es ist in Ordnung so. Wir haben es einfach nur sehr eilig, da muss das Protokoll hinten anstehen. Wir holen das bei anderer Gelegenheit nach, dann kannst du deinen Adeptinnen zeigen, wie es läuft«, sagte Seraphia und legte Jassu zur Beruhigung eine Hand auf die Schulter. Jassu lächelte nervös, denn sie schwitzte vor Aufregung. Sie hatte ihre Robe nicht an und war, wie es das Protokoll für das Sanctum verlangte, unbekleidet bis auf ein leichtes Tuch um ihre Lenden. Ihr Pentacut war deutlich sichtbar. Es war aus einer rötlichen Legierung gefertigt und ein sehr filigranes Pentakel hing an Ketten über ihrem Brustbein. Dickere Ketten liefen über Arme, Beine und den Torso und verbanden die Reifen um ihre Oberarme und Handgelenke sowie Oberschenkel und Fußgelenke. Ringe, die über weitere Ketten mit dem Geschmeide verknüpft waren, steckten auf allen Fingern und Zehen. Das magische Metall legte sich um den Körper und war an entscheidenden Stellen sogar fest mit ihm verbunden, um seine volle Wirkung auf die Priesterin zu übertragen. Seraphia erinnerte sich mit leichtem Unbehagen an ihr eigenes Initiationsritual, bei dem das Pentacut-Geschmeide mit ihrem Körper vereint worden war. Nun spürte sie seine Macht immerzu und wollte sie nicht mehr missen. Die Vorstellung das Pentacut zu verlieren, erfüllte sie sogar mit Schrecken. Die Ketten, Armreife und Dornen schützten sie besser als jede Rüstung und konzentrierten ihre Kräfte und nur durch dieses magische Geschmeide war sie imstande, das Feuer-Element vollständig zu beherrschen. Die Shedau‘Kin, die Zwerge aus der Spalte, stellten es her und verschmolzen es mit den Körpern geeigneter Adeptinnen. War die Verbindung zwischen Leib und Pentacut erst hergestellt, war sie nur noch mit magischer Gewalt zu lösen. Ein Vorgang, der unweigerlich den Tod der Pentacut-Trägerin zur Folge hatte. Die Macht und das Ansehen einer Priesterin des Ordens vom Brennenden Blut waren immens. Die magischen Fähigkeiten, die Seraphia erlangt hatte, seit sie diesen außergewöhnlichen Schmuck trug, gingen jedoch noch weit darüber hinaus. Sie warf einen unauffälligen Blick auf Cendrine. Sie hatte nie ein Pentacut getragen, dessen ungeachtet waren ihre Fähigkeiten legendär. Selbst Charna sprach mit großem Respekt von Cendrines magischen Talenten. Womöglich, überlegte Seraphia, wirkten die weißen Zeichen auf ihrer Haut auf ähnliche Weise. Doch keiner wusste genau, woher diese stammten oder wie Cendrine ohne Pentacut zur Äbtissin der Flammengrube werden konnte. Auch erinnerte sich niemand mehr an Cendrines Vorgängerin. Sie war schon immer die Äbtissin gewesen. Manche von den Priesterinnen, die es schafften, ihren Alterungsprozess zu verlangsamen, waren mehr als vierhundert Jahre alt. Selbst diese Frauen erzählten Geschichten, die sie von ihren Großmüttern erfahren hatten und in denen Cendrine eine Rolle spielte. Seraphia hatte einmal in den Chroniken gestöbert, um ihre Neugier zu befriedigen. Eine Beschreibung von Cendrines Person fand sich in den ältesten Schriftrollen und diese stammten noch aus Sarinacas eigener Hand. Sie vermutete, dass Cendrine Jahrtausende alt war. Möglicherweise sogar älter als der Orden selbst.
Sie erreichten eine schwere Pforte aus trockenem Holz, das im Laufe der Zeit von unzähligen Händen blank gerieben worden war. Cendrine machte eine beiläufige Geste und das Tor öffnete sich. Jassu, die bereits eine Hand ausgestreckt hatte, lächelte verlegen und geleitete sie eine lang gezogene und sehr breite Treppe hinauf, die in flachem Winkel Hunderte Schritt höher in das Innere Sanctum führte. Niedrige Schalen standen auf jeder zwanzigsten Stufe jeweils links und rechts und erleuchteten den natürlich belassenen Stein. Die Treppe verlief an einer großen Kammer vorbei, die sich in die Tiefe erstreckte und Seraphia blickte kurz hinab. Weit unter ihnen rauschte Wasser mit beachtlicher Geschwindigkeit dahin. Dampfschwaden stiegen empor und sie spürte die Feuchtigkeit auf der Haut.
»Heute Abend würde ich gern eine Weile in den Thermen bleiben. Aber ich habe den Verdacht, dass die Zeit dazu nicht reichen wird«, sagte Seraphia seufzend.
»Dafür ist doch immer Zeit, oder?«, sagte Cendrine.
»Es heißt, sie haben einen neuen Bader dort. Er soll vier Arme haben«, sagte Jassu kichernd und hielt sich dann erschrocken die Hand vor den Mund, als ob sie etwas Falsches gesagt hätte.
Seraphia und Cendrine mussten lachen und Jassu grinste mädchenhaft. Bald darauf erreichten sie das obere Ende der Treppe und gelangten in die Vorhalle zum Inneren Sanctum. Niemand betrat den heiligsten Ort des Tempels ohne die rituelle Vorbereitung. Am Eingang warteten Adeptinnen, um ihnen mit Wasser und Tüchern Gesicht, Hände und Füße zu reinigen. Man nahm Seraphia die Robe ab und auch Cendrine legte ihre Rüstung ab. Die Klinge legte sie auf einem Ständer ab, der eigens für ihre Waffe geschaffen worden war. Er sah so alt aus, wie der Tempel selbst. Cendrine betrat niemals mit dem Schwert das Innere Sanctum. Es hatte etwas mit den Mächten zu tun, die dem Ort und der Sengenden Klinge innewohnten, doch Seraphia wusste nicht, warum das so war.
Sie bat nach der rituellen Reinigung um ein feuchtes Tuch, und versuchte den Schmutz der Reise, der ihrem restlichen Körper anhaftete, so gut es ging zu tilgen. Sie hatte das Gefühl, immer noch den Geruch der sterbenden Sidaji an sich zu haben. Die Adeptinnen spürten ihr Unbehagen und halfen ihr. Eine zauberte sogar eine Bürste hervor und kämmte ihr das Haar, bis Cendrine dezent hüstelte.
»Es tut mir leid, bin schon fertig. Ich hasse es, wenn ich so vor die Hohepriesterin treten muss«, sagte Seraphia entschuldigend.
»Charna hat dir deine Aufgaben aus gutem Grund gegeben. Sie weiß, dass du nicht wie aus dem Ei gepellt daher kommen kannst, wenn du gerade einen halben Kontinent überflogen hast. Bleib ruhig!«, sagte Cendrine leise.
»Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, mit ihr zu sprechen«, sagte Seraphia nervös und zupfte an ihren Haaren herum, als sie barfuß die warmen Mosaikfliesen überquerten, die den Weg ins Innere Sanctum bedeckten. Der Torbogen vor ihnen spannte sich hundert Schritt in die Höhe und fünfzig in die Breite. Die Halle dahinter war gigantisch. Es schien, als wäre der halbe Berg ausgehöhlt worden. Große Feuer brannten in steinernen Becken. Der Rauch stieg in finstere Höhen und verdunkelte die Sicht nach oben.
Dieser Ort ist für Riesen und Götter gemacht, nicht für kleine Menschen.
Jassu führte sie bis zum Tor und verabschiedete sich dann förmlich. Cendrine zögerte nicht und forderte Seraphia mit einem Lächeln auf, ihr zu folgen. Säulen, so dick wie ein Haus und höher als der Blick reichte, flankierten den Weg, der sie tiefer in das Innere Sanctum führte. Die Wärme nahm zu, als sie sich dem lavagefüllten Abgrund näherten, vor dem die Statue der Göttin des Feuers, Sarinaca, errichtet worden war. Das Bildnis, welches Charnas Abstammung eindeutig belegte, ragte hundert Schritt in die Höhe. Priesterinnen knieten davor und beteten. Vermutlich erbaten sie Sarinacas Rückkehr. Opfergaben wurden verbrannt, heilige Kräuter verbreiteten wohlriechende Dämpfe, die die Sinne verwirrten. Aus einem auffälligen Portal, das frei im Raum stand und nirgendwohin zu führen schien, schossen plötzlich Flammen hervor und eine Hitzewelle breitete sich im Raum aus. Zwei Priesterinnen eilten herbei und knieten nieder. Eine weibliche Gestalt erschien mitten in den Flammen und schwebte einen Schritt hoch über dem Boden aus dem Portal. Es war Charna. Ihr goldener Teint glomm förmlich und ihre Augen leuchteten in einem tiefen Rot. Das Metall ihres außergewöhnlichen Pentacuts glühte, als wäre es dem Schmelzpunkt nahe und die Blutsteine darin pulsierten leuchtend. Sie musste ungeheure Kräfte gewirkt haben. Seraphia verneigte sich tief vor der Hohepriesterin, die eine weite Reise hinter sich haben mochte. Das Portal führte an viele Orte, auch weit außerhalb Kabals und seines Sternsystems. Seraphia hatte erst als Adeptin erfahren, dass es noch mehr Welten als Kabal gab und dass diese unvorstellbar weit entfernt waren. Die blinkenden Sterne am Nachthimmel waren das Licht ihrer Sonnen. Sie wusste, dass Charna die Portale nutzen konnte, um solche Orte zu erreichen. Andere waren ebenfalls dazu in der Lage und sie hoffte, selbst eines Tages eine fremde Welt zu bereisen. Im Moment mehr als je zuvor, denn sie war nervös genug, um zu zittern. Sie schluckte schwer und wünschte, sie wäre woanders. Charna schwebte zu Boden und schritt leichtfüßig auf Seraphia und Cendrine zu.
»Erhebt euch, meine Schwestern! Ich will heute keine Protokolle mehr befolgen müssen. Mir tun die Knochen weh und ich könnte einen ganzen Eber auffressen«, stöhnte die Hohepriesterin.
Seraphia starrte entsetzt auf Charnas schmutzige Füße, bevor sie aufsah. Die Hohepriesterin bekam nichts davon mit, denn sie warf der Äbtissin einen prüfenden Blick zu. Cendrine sah zu Boden und Charna warf die Stirn eine Sekunde lang in Falten, bevor sie sich Seraphia zuwandte.
»Sera mein Engel, wie schaffst du es nur, immer so ordentlich auszusehen? Sieh mich nur an! Ich schaue schrecklich aus! Lasst uns in meine Gemächer gehen. Dann reden wir.«
Seraphia klappte ihren offenen Mund zu. Die ungewohnt lockere Art der Hohepriesterin schockierte sie. Sie gab sich einen Ruck und folgte Cendrine und Charna, deren zarte Gestalt trotz ihres Gejammers so energiegeladen wirkte, als könnte sie einen Berg versetzen. Sie verließen die Haupthalle des Inneren Sanctums über eine Seitentür, die sie in ein Treppenhaus führte. Eine spiralförmige Treppe war aus dem Felsen getrieben worden und leitete sie zügig nach oben. Schmale Fensterschlitze gewährten Ausblick auf das Innere Sanctum. Diese Treppe war schlicht dekoriert und offensichtlich neu erbaut. Als sie sich dem oberen Ende näherten, waren die Stufen noch grobe Formen. Werkzeuge und Geräte der Steinmetze lagen herum.
»Diese Treppe verkürzt den Weg in die Wohngemächer ganz erheblich. Das war ein guter Einfall von Dir«, sagte Cendrine.
»Ich wünschte, es wäre meine Idee gewesen. Der neue Architekt ist darauf gekommen. Er ist bei den Shedau‘Kin aufgewachsen und hat in den Stollen gearbeitet. Es scheint, die Zwerge haben etwas von ihrem Instinkt auf ihn übertragen.«
Charna dirigierte sie aus dem Treppenhaus durch eine schwere Holztür, die noch etwas nach Harz roch in einen weiteren Gang. Hier war die Decke nicht so hoch. Der Gang selbst war breit genug, aber im Vergleich zur Giganten-Architektur des Inneren Sanctums nahm er sich wie ein Ameisengang aus. Der Korridor war länger und knickte zweimal ab. Türen flankierten die Seiten. Seraphia entdeckte Namensschilder. Die ranghöchsten Schwestern und einige Würdenträger auf Besuch wohnten hier. Dieser private Teil des Tempels war gemütlicher als das Innere Sanctum und sehr viel ruhiger als die öffentlichen Straßen und Wege, die den Berg wie tausendfach verzweigte Adern durchzogen. Seraphia warf neugierige Blicke auf ihre Umgebung. Truhenbänke standen neben den Zimmern. Dicke Wandteppiche dämpften die Geräusche und hier und da stand eine kleine Statue oder eine Vase mit Schnittblumen darin. Zahlreiche Lampen unter der Decke erzeugten ein helles Licht. Seraphia sah die Leitungen zwischen den Lampen und wusste, dass hier kein Öl nachgegossen, keine Flamme entzündet werden musste. Sie rief ihre Aura-Sicht herbei und sah das charakteristische blaue Leuchten des Luft-Elements. Seraphia entging nicht, dass Cendrine ebenfalls einen Blick nach oben warf.
»Gab es schon Beschwerden?«, fragte die Äbtissin und deutete auf die Lampen, als die Hohepriesterin sich mit einem fragenden Blick umwandte.
»Natürlich. Es sei kein echtes Feuer darin, Blah-Blah-Blah. Wir haben Wichtigeres zu tun, als unsere begrenzten Ressourcen damit zu beschäftigen, Öl in die Lampen zu gießen. Es werden mehr Leuchten dieser Art und andere Maschinen installiert. Ich habe einen MA-Reaktor neu aktivieren lassen, also sollten wir genug Energie dafür haben.«
»Charna!«, Cendrine blieb stehen, ein Ausdruck des blanken Entsetzens auf ihrem Gesicht. »Der letzte MA-Reaktor auf Iidrash erlosch vor mehr als achthundert Jahren. Die Reaktoren im Tempel müssen noch älter sein. Das Risiko ist Wahnsinn!«
Charna schaute Cendrine einen Moment ernst an, dann schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Wir hatten Hilfe von außerhalb Kabals. Der Reaktor ist neu und weit besser, als die alten Maschinen in den Eingeweiden dieses Berges. Folgt mir!«
Charna schritt geschwind aus und Cendrine folgte ihr kopfschüttelnd mit einem Blick auf die Lampen. Seraphia hatte sich noch keine Meinung zu den Apparaturen bilden können, von denen die Hohepriesterin sprach. Sie kannte zahlreiche einfache Geräte. Sie wusste, dass es sehr komplizierte Maschinen auf Iidrash gab, aber sie hatte nie welche gesehen.
Im Moment fühlte sie sich einerseits unwohl in ihrer Haut und entdeckte andererseits ein aufgeregtes Prickeln in der Magengrube. Die Hohepriesterin zog sie scheinbar endgültig ins Vertrauen. Der Auftrag, der sie ins Land der Sidaji-Echsen geführt hatte, war nur der Anfang. Ihr Aufstieg in den Reihen verlief schneller, als sie je gehofft hatte. Ein nagender Zweifel keimte bei aller Freude in ihrem Herzen. Sie ahnte, dass es größere Schwierigkeiten zu bewältigen gab.
Und die Sidaji waren erst der Anfang.
Sie erreichten Charnas Gemächer. Vier Wachen standen aufmerksam davor und salutierten zackig mit der Faust auf der Brust. Es waren magisch begabte Männer mit Erfahrung. Ein Kentaur, zwei Minotauren und ein kleiner, außergewöhnlich muskulöser Kerl mit dem Kopf eines Ziegenbockes und genug menschlichen Zügen darin, um sein ursprüngliches Gesicht erkennen zu können. Seine Hörner waren mit komplizierten Mustern und goldenen Ringen verziert. Auffällige Orden schmückten seine Rüstung. Charna nickte ihm zu, denn es war Grond, der Hauptmann der Tempelgarde. Diese Garde der Hohepriesterin war bekannt für die beispiellos harten Aufnahmeprüfungen, die absolviert werden mussten. Die Männer, die hier Wache standen, wiesen eine mehr als nur durchschnittliche Begabung auf, sowohl im Nahkampf als auch in ihrem spezifischen magischen Talent.
Sie waren loyal bis in den Tod.
Die Tür flog vor ihnen auf, ohne dass Charna auch nur die Hand hatte bewegen müssen. Ihre telekinetischen Fähigkeiten lagen außerhalb dessen, was Seraphia jemals zu erreichen hoffte. Aber sie war auch nicht die Tochter der Göttin des Feuers und des Drachenherrschers von Krain. Ihre Eltern waren Händler gewesen. Die Tür schloss sich hinter ihnen.
»Nehmt Platz! Bedient euch! Ich habe die Adeptinnen fortgeschickt, also wartet nicht darauf, dass sich die Becher von alleine füllen«, sagte Charna und deutete auf eine Anrichte, die mit allerlei Obst und Leckereinen gedeckt war. »Ich komme gleich zu euch!«, sagte sie und verließ den Raum durch eine Seitentür.
Wein stand in Krügen bereit und Seraphia schenkte Cendrine einen Becher Rotwein ein, bevor sie sich selbst bediente. Ihr Bauch knurrte beim Anblick des kalten Bratens so laut, dass es ihr peinlich war. Aber die Vorstellung, etwas zu essen, ließ ihren Magen krampfhaft zusammenschrumpfen. Sie war zu aufgeregt. Cendrine nahm auf einem der bequemen Sessel Platz. Sie fühlte sich hier offenbar erheblich wohler als Seraphia, die immer noch nicht glauben konnte, dass sie in den Privatgemächern der Hohepriesterin an einem Becher Wein nippte. Die Äbtissin nahm einen männlichen Schluck und rülpste leise, als sie das halb leere Gefäß absetzte.
»Verdammt, das habe ich jetzt gebraucht!«, murmelte sie und massierte sich den offenbar steifen Nacken, bis sie Seraphia sah, die mit beiden Händen krampfhaft ihren Becher vor sich hielt. »Setz dich hin!«, sagte sie lachend.
Seraphia nickte und setzte sich vorsichtig auf die vorderste Kante eines Stuhls, der an der Wand neben ihr stand. Cendrine sah sie einen Moment an und winkte sie her.
»Möchtest du noch mehr Wein?«, fragte Seraphia und eilte zur Anrichte.
»Kindchen, setz dich hier zu mir in den Sessel und entspann dich endlich! Und Charna beißt nicht. Also …« Die Äbtissin zeigte auf einen der freien Polstersessel gegenüber.
Seraphia schluckte und nahm vorsichtig Platz. Der Sessel war warm und weich auf ihrer Haut. Sie konnte dem Verlangen, sich zurückzulehnen nicht widerstehen. Cendrine lächelte und prostete ihr mit dem Becher zu. Seraphia nahm einen Schluck von dem vorzüglichen Wein. Sie sah sich unauffällig um. Sie saßen in einem mittelgroßen Raum, der neben der Sitzgruppe mit vier Sesseln und der Anrichte einen großen Kamin, einige Truhen und einen breiten Schrank enthielt. Wandteppiche und Bilder verzierten die weitestgehend natürlich belassenen Felswände und erzeugten einen höhlenartigen Charakter. Die kuppelförmige Decke, von der einige kleinere Stalaktite herabhingen, verstärkte diesen Eindruck noch. Seraphia wunderte sich über die Tropfsteine, bis sie sah, dass diese von den Steinmetzen angelegt worden waren. Ein Zierrat, der die Decke ausstaffierte und sich nicht natürlich gebildet hatte. Würde es hier hineintropfen, hätte es Seraphia auch sehr gewundert. Drei fein geschnitzte Türen gingen von dem Raum ab. Hinter einer davon war Charna verschwunden. Auf einem Felssockel stand eine Reliquie oder ein Symbol, ein seltsames Ding aus einem dunklen Metall mit einer Aura des Alters und der Magie, die es wie ein Nebel umgab. Als Seraphia der Wein ein wenig zu Kopf stieg, entspannte sie sich. Ihre verkrampften Muskeln lockerten sich und der Schmerz in ihren Beinen, der von dem langen Ritt auf dem Kraindrachen herrührte, ging zurück. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie bescheiden der Raum wirkte, in dem sie saßen. Insgeheim hatte sie wohl etwas anderes erwartet.
Große Hallen, dutzende Diener, ein Thron auf einem Podest?
Seraphia schüttelte den Kopf und lachte, als sie ihre eigenen Erwartungen mit der Realität verglich.
»Nicht das, was du erwartet hast?«, fragte Cendrine leise und mit einem amüsierten Unterton.
»Nicht ganz, ich meine es ist wunderschön und gemütlich, aber …«, Seraphia gestikulierte hilflos, als ob sie die Worte aus der Luft greifen wollte.
»Dies sind die inoffiziellen privaten Gemächer. Die offiziellen Unterkünfte liegen neben dem Inneren Sanctum auf der rechten Seite.«
»So hatte man es uns erzählt, als wir als Adeptinnen hier unseren Dienst geleistet haben. Hier oben bin ich nie gewesen«, sagte Seraphia.
»Hier kommt auch nur der Innere Kreis zusammen. Nur wenige Adeptinnen erhalten jedes Jahr Zugang«, sagte Cendrine ernst.
Seraphia schluckte.
Und hier sitze ich. Wo der Innere Kreis zusammenkommt. Was hat das zu bedeuten?
Die Tür, hinter der Charna verschwunden war, flog wieder auf und die Hohepriesterin erschien mit feuchten Haaren und einem raffiniert geschwungenen, weißen Tuch um die Hüfte.
»Es ist kühl hier drinnen«, sagte sie und schaute zum Kamin, der mit einigen dicken Scheiten vorbereitet war. Sie schnippte mit den Fingern und sofort verschlangen Flammen das Holz. Wohlige Wärme verbreitete sich einen Augenblick später knisternd im Raum.
»So ist es besser, oder? Ich habe einen Mordshunger! Keine Staatsgeschäfte vor dem Essen. Ich bestehe darauf, dass ihr einen Happen mit mir esst. Und bleib sitzen, Sera, du bist mein Gast und ich bediene euch!«, sagte Charna und nahm drei Teller von einem Stapel. Sie belegte das hauchzarte Porzellan sorgsam mit Braten, Käse, Weintrauben, eingelegtem Trockengemüse, etwas Brot und kleinen kalten Geflügelkeulen, die gebraten und dunkelrot gewürzt worden waren. Seraphia fühlte sich unwohl. Es sollte ihre Aufgabe sein, die Speisen zu servieren, wo kein Diener anwesend war. Sie war entsetzt, als Cendrine völlig unbescheiden um mehr Käse bat. Doch Charna lächelte, entsprach ihrem Wunsch und reichte Cendrine den vollen Teller.
»Danke, das kommt genau richtig!«, sagte Cendrine salopp.
Seraphia blieb der Mund offen stehen. Die Hohepriesterin überreichte ihr einen Teller und sie sprang von ihrem Sessel auf, verneigte sich tief.
»Oh, Sera, lass das! Setz dich, entspann dich und iss bitte mit Genuss! Ich weiß nicht, was du magst, also nimm dir ruhig, was dir schmeckt. Ich muss mich jetzt erst mal setzen und etwas essen«, sagte Charna und ließ sich seufzend in einen Sessel sinken.
Sie murmelte ein paar unverständliche Worte und biss herzhaft in ein imposantes Stück Käse. Laute des Wohlgefallens entstiegen ihrem vollem Mund. Seraphia war der Mangel an Förmlichkeit unangenehm, aber ihr lief ungewollt das Wasser im Mund zusammen. Seit ihrem Aufbruch aus den Sidaji-Sümpfen hatte sie nur etwas Trockenfleisch und Brot aus ihrem Proviant gehabt. Die Hohepriesterin und die Äbtissin schaufelten die Leckereien in sich hinein und schienen dabei kein Bedürfnis zu haben, Tischkonversation zu pflegen. Es war das Essen, das man genoss, wenn man hart gearbeitet hatte und die Mühe des Tages die Glieder schwer werden ließ. Seraphia sah auf ihren Teller und biss vorsichtig in eine der Geflügelkeulen. Das Fleisch war zart und die Würzung eine süßsaure Offenbarung. Sie verschlang die zwei Keulen und schaute sehnsüchtig auf die Platte, die auf der Anrichte stand und noch mehr von diesen Geschmacksjuwelen bereithielt. Sie war aber zu schüchtern, um mehr davon zu holen und aß, was ihr Teller offerierte. Alles war von höchster Güte und frisch, ein Essen, wie gemacht, um dem Körper Kraft und Energie zurückzugeben. Seraphia genoss das Mahl und beruhigte zwischendrin ihr schlechtes Gewissen, indem sie der Hohepriesterin einen Becher Wein brachte und Cendrine nachschenkte. Sie nahm sich selbst auch noch welchen. Das Essen schien die Auswirkungen des Alkohols zu mildern, dennoch entspannte sie sich endlich etwas. Charna war menschlicher, als Seraphia erwartet hatte. Dabei war sie kein Mensch. Sie bemühte sich, das nicht zu vergessen, als sie den letzten Happen von ihrem Teller nahm und sich im Geiste auf das Gespräch vorbereitete, das nun vor ihr lag. Cendrine sammelte währenddessen die Teller und schenkte allen Wein nach.
Die Hohepriesterin richtete ihren ernsten Blick auf Seraphia, die Augen tiefrot leuchtend. »Jetzt berichte mir von deiner Mission bei den Sidaji!«
Seraphia stellte ihren Becher beiseite und räusperte sich. Ihre Kehle schien mit einem Mal trocken zu sein. Sie überlegte einen Moment. »Ich traf vor zwanzig Tagen bei den Sidaji ein. Miirar, die leitende Schwester vor Ort und Grafaar, der Hauptmann der Garde, den ich zu ihrem Schutz und zur militärischen Begutachtung der Situation vorausgeschickt hatte, erwarteten mich im Thronsaal der Sidaji.«
»Im Thronsaal?«, fragte Charna überrascht.
»Ja. Der Herrscher der Sidaji, Slidarin, war nicht anwesend. Eines der Ratsmitglieder war der einzige Sidaji, der mit uns sprechen konnte. Er war schwach und hatte Mühe zu reden. Seine Schuppen fielen ab. Eines seiner Augen war erblindet. Er schluckte Schmerzmittel und zitterte immer wieder unkontrolliert, als wir uns berieten. Außer Miirar und Grafaar waren Joru - ein Botschafter von Gottkaiserin Jenara - und Darl, der Graf von Asla da. Er brachte die hervorragenden Heiler Aslas in die Sümpfe mit. Joru hatte bereits bei Ausbruch der Krankheit Nachrichten an die heilenden Zünfte der Frostreiche geschickt. Sie arbeiten seit sechs Wochen ohne nennenswerte Ergebnisse. Miirar, die selbst eine angesehene Heilerin ist, verpflichtete ebenfalls die besten Heiler Iidrashs. Insgesamt mehr als hundert Heilkräfte schuften jetzt rund um die Uhr, doch kein Mittel und keine Behandlung scheint die Krankheit besiegen zu können. Die Sidaji haben in den letzten vier Wochen jeden Fünften verloren. Alle anderen sind erkrankt. Sie werden ohne ein Heilmittel auch sterben.«
Charna erhob sich und ging unruhig im Zimmer auf und ab. »Ich dachte, das Mittel, das die Heiler Aslas entdeckt hatten, würde nun endlich Erfolg zeigen.«
»Es hat die Auswirkungen gemildert und zögert den Tod hinaus, kann ihn jedoch nicht aufhalten. Der Rat der Sidaji ist zusammengebrochen. Nach den Erfahrungen der Heiler mit dem Verlauf der Sidaji-Seuche hält Tsark, das Ratsmitglied, das ich bereits erwähnte, noch einige Tage durch, bevor er ohnmächtig wird.«
Charna blieb vor dem Kamin stehen. Sie starrte einige Minuten wortlos und unbewegt ins Feuer. »Cendrine! Begib dich mittels Portal zum Orakel von Khuranc. Mikar und Thanasis sollten dort sein. Bring sie schnellstmöglich hierher! Seraphia! Du wirst Faunus suchen, er wartet an der Quelle des Sahm in den Wäldern Garak Pans. Es gibt ein Portal dort. Du wirst sofort aufbrechen und Faunus herholen! Ich entsende augenblicklich einen Botschafter zu Jenara. Wir müssen uns in den Sümpfen treffen und einen Friedensvertrag aushandeln, bevor die Macht der Echsen erlischt. Wir können einen Krieg mit den Völkern der Frostreiche nicht gewinnen, solange meine Mutter verschollen bleibt, noch darf Kabal erneut zerrissen werden. Wir müssen sofort handeln. Wartet einen Augenblick! Ich schicke einen Boten los.«
Charna verließ das Zimmer und Cendrine war tief in Gedanken versunken, sodass Seraphia nicht wagte, sie anzusprechen. Nach ein paar Minuten kehrte die Hohepriesterin zurück.
Ihre Augen sprühten Feuer.
Die Äbtissin stand auf. Seraphia folgte ihrem Beispiel.
»Brecht sofort auf! Seraphia, hast du schon mal eine Portalsreise gemacht?«
Seraphia schluckte. Sie hatte sich vorhin gewünscht, eines der Portale benutzen zu dürfen, um fremde Welten zu bereisen. Jetzt sollte sie lediglich eine Distanz von ein paar Tagen Flugzeit überbrücken, um in die Wälder von Garak Pan zu reisen, doch die Aussicht darauf war beunruhigend. Sie fühlte sich unvorbereitet, müde und zerschlagen.
»Nein.«
»Dann werde ich dich persönlich rüberbringen. Faunus erklärt dir das Portal auf dem Rückweg hierher. Ich selbst werde Seral zu uns holen. Oder zumindest seine offizielle Stellungnahme erbitten.«
Seral?
Cendrine versteifte sich und starrte Charna an. »Seid Ihr sicher, Herrin?«, fragte sie mit übertriebener Förmlichkeit. Es war offensichtlich, dass sie Charnas Entscheidung missbilligte und ihr spöttelnder Tonfall stellte dies deutlich heraus. Charna schaute Cendrine unbewegt in die Augen.
»Wer ist Seral?«, fragte Seraphia leise in die Stille.
»Der neue Herr des Namenlosen Abgrunds. Ich traue ihm nicht«, sagte Cendrine fest.
Charnas Augen verloren ihre Glut, als sie zu Cendrine herüberschritt und ihr lächelnd eine Hand auf den Arm legte. »Dann vertraue wenigstens mir, Cendrine! Ich bin mir sicher, das Richtige zu tun.«
»Du kennst ihn kaum!«
Charna ließ ihre Zähne aufblitzen. Cendrine runzelte die Stirn und riss plötzlich die Augen auf. »Er ist also der geheimnisvolle Fremde, mit dem du vor drei Monaten auf den Rubin-Inseln gewesen bist?«
Charna nickte knapp und verlor ihr Grinsen. »Und wenn es nicht so wäre, müsste ich mir dennoch seinen Beistand sichern. Wir brauchen die Macht des Namenlosen Abgrunds in den Zeiten, die vor uns liegen. Seral und ich haben mit der Entwicklung gerechnet, die die Situation bei den Sidaji nimmt. Er wird den Tempel offiziell unterstützen, sobald er kann.«
»Sei trotzdem vorsichtig!«, sagte Cendrine ernst und die Beiden umarmten sich. Seraphia stand verunsichert daneben, sie fühlte sich unerwünscht in dieser privaten Szene. Charna sah sie an und trat dann vor sie. Plötzlich fühlte sie sich zu der kleinen, zarten Gestalt Charnas gezogen. Die Hohepriesterin drückte sie an sich und streichelte ihr über die Arme. Die Hohepriesterin schien ihre eigene Nacktheit nicht wahrzunehmen, doch Seraphia fühlte sich unwohl angesichts der Berührung ihrer unbedeckten Körper.
»Wir brauchen deine Hilfe, Seraphia. Deine ganze Kraft und Stärke werden jetzt für den Orden des Brennenden Blutes und für Kabal gebraucht! Bist du bereit?«
»Meine Robe ist noch unten«, sagte Seraphia hilflos.
Charna und Cendrine lachten. Charna musterte Seraphia lächelnd. »Du bist so hübsch, du musst dich nicht schämen. Überlass die Roben den Alten!«
Seraphia wurde rot und war sprachlos.
Wieso kann ich mich nicht daran gewöhnen?
Cendrine verabschiedete sich mit einem Lächeln und verließ den Raum eilfertig. Seraphia fühlte, wie ihr der Schweiß vor Aufregung den Rücken hinablief. Sie wusste nicht, was Charna gemeint hatte, als sie sagte, sie würde Seraphia anders nach Garak Pan bringen.
»Reich mir deine Hand!«, sagte die Hohepriesterin. Seraphia schämte sich für ihre vor Nervosität feuchte Hand, kam dem Befehl jedoch augenblicklich nach. Charnas Griff war eisern. Ihre Hand kräftiger, als Seraphia erwartete.
»Was auch passiert, halte dich an meiner Hand fest! Lässt du mich los, bist du verloren! Hast du mich verstanden?«
Seraphia nickte und packte die kleine Hand fester. Charna schloss die Augen und streckte ihre freie Hand mit gespreizten Fingern von sich. Es sah aus, als versuchte sie, etwas zu greifen. Seraphia konzentrierte sich und wechselte in die Aura-Sicht. Sie erschrak so sehr, dass sie beinahe Charnas Hand losließ, doch der Griff der Hohepriesterin war übermenschlich stark. Ihre Aura war eingehüllt in leuchtende Tentakel der Macht. Es war, als würde sie die Energie des Berges anzapfen. Seraphia war außerstande, zu begreifen, wie man derartige Kräfte lenken konnte. Sie fühlte eine Woge der Panik über sich hinwegschwappen, als die Tentakel nach ihr griffen. Sie erstarrte auf der Stelle, doch nicht freiwillig. Es war, als wäre ihr Körper aus dem Innersten heraus eingefroren. Das Leuchten von Charnas Aura wurde so grell, dass Seraphia ihre Aura-Sicht aufgeben wollte, doch sie konnte nicht. Oder war es im Zimmer der Hohepriesterin so hell geworden? Sie hatte Angst zu erblinden, wenn sie noch eine Sekunde länger in das gleißende Licht blicken musste. Sie versuchte, ihre Augen zu schließen, aber ihr Körper verweigerte jeden Befehl, den ihr Geist gab.
Seraphia hatte jetzt das Gefühl, ihrem Leib zu entsteigen. Sie war plötzlich mehr Geist als Materie.
Das fünfte Element! Charna beherrscht es vollständig!
Die Hohepriesterin nutzte die magischen Elemente auf eine Art und Weise, die Seraphia trotz ihrer eigenen Macht völlig unbekannt war. Sie schwebte für einen zeitlosen Moment außerhalb ihres Körpers. Ein Sog stellte sich anschließend ein und das Gefühl der Schwerelosigkeit und Ungebundenheit wich einem Schmerz. Es war, als würde ihr Geist Stück für Stück Verbindung mit jeder einzelnen Zelle ihres Körpers aufnehmen. Der Sog verstärkte sich und ihr Bewusstsein verschmolz erneut mit ihrem Leib. Seraphia schrie, als sie die Kontrolle über ihren Stimmapparat zurück erhielt.
Dann war es vorbei.
Sie brach auf dem Boden zusammen und nahm nur beiläufig war, dass das Gras auf ihrer nackten Haut kitzelte. Sie kämpfte mit einem schweren Brechreiz und schluckte. Charna streichelte ihr sanft über die Wange. Die Übelkeit verflog augenblicklich. Sie hatte auf magische Weise eine Heilung gewirkt und Seraphia war wieder bei Sinnen. Sie erhob sich blinzelnd. Das grelle Licht hatte ihre Sicht getrübt und bunte Punkte flirrten vor ihren Augen.
»Das wird gleich besser. Setz dich lieber einen Moment.«
»Es geht. Ich kann stehen, danke!«, sagte Seraphia und schaute bekräftigend in Charnas rotleuchtende Augen, die sie besorgt ansahen.
»Ich war vielleicht ein bisschen zu schnell bei der Sache. Du wirst dich dran gewöhnen. Die Portale sind angenehmer.«
Seraphia nickte und sah sich neugierig um. Sie waren im Wald von Garak Pan. Das Laub seiner Bäume rauschte in der Brise. Unter Seraphias Fußsohlen war das Gras weich und feucht. Vögel zwitscherten, Wasser plätscherte in der Nähe. Hier und da stießen Felsen durch den Boden und in der Ferne meinte sie, eine Bergspitze über den Kronen der Bäume zu erblicken. Es roch nach Sommer, Blumen und Wasser. Der rasante Wechsel der Umgebung war schwindelerregend.
»Du wirst Faunus hier finden oder er findet dich. Möglicherweise hat er bereits unsere Ankunft bemerkt und ist auf dem Weg hierher. Lauf nicht zu weit fort! Das Portal ist dort«, sagte Charna und wies auf eine Felsformation, die unmöglich natürlichen Ursprungs sein konnte, aber dennoch so aussah. Ein ovaler Bogen von 30 Schritt Höhe ragte in den Himmel, Moos und Flechten waren darüber gewachsen und man konnte hinter dem Portal den Wald sehen. Nichts außer der ungewöhnlichen Form deutete darauf hin, dass es sich um ein magisches Tor handelte. Seraphia fürchtete sich davor, ihre Aura-Sicht auszuprobieren, da ihr das soeben Erlebte einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte.
Charna wandte sich wieder an sie. »Geh! Such Faunus und komm mit ihm so schnell zurück, wie es geht!«
Die Hohepriesterin streckte ihre Hand aus und Seraphia drehte sich sofort um. Sie verließ die Lichtung eilig und schloss die Augen, als ein Lichtblitz die Umgebung erhellte. Ein warmer Wind stieß von der Lichtung aus in ihre Richtung und streichelte über ihre nackte Haut. Das Gefühl war nicht unangenehm, doch sie vermisste ihre Robe. Sie trug nichts außer dem Pentacut und fühlte sich verletzlich, auch wenn sie wusste, dass die schwerste Rüstung ihr nicht mehr Schutz bot, als ihr magischer Schmuck. Seraphia war sich bewusst, dass es die meisten Erwachsenen auf Iidrash nicht verwirrte, eine Priesterin des Ordens nackt zu sehen, obgleich hier nicht der Tempel war. Sie konnte sich einfach nicht daran gewöhnen.
Sie atmete tief ein und wollte augenblicklich mit der Suche nach Faunus, dem Herrn Garak Pans beginnen, doch das Plätschern des Wassers machte sie durstig. Sie kehrte auf die Lichtung zurück und wandte sich dem Felsen zu, dem das Wasser des Flusses Sahm entsprang. Es war klar und plätscherte im Licht der Sonne fröhlich den grauen Stein hinab. Seraphia kniete sich in das feuchte Moos neben der Quelle und ließ die Hände voll Wasser laufen. Sie nahm einen vorsichtigen Schluck und dann gleich noch einen. Das Wasser war süß und köstlich erfrischend. Sie warf sich ein paar Hände voll ins Gesicht. Seit Tagen hatte sie sich nicht im Spiegel gesehen, geschweige denn geschminkt. Dafür war einfach keine Zeit gewesen. Seraphia stand auf und schüttelte die Hände ab. Sie seufzte.
»Wenn es hier einen Teich gäbe, würde ich jetzt baden gehen«, sagte sie halblaut. Sie warf sich noch ein paar Hände voll Wasser ins Gesicht, bevor sie dem Lauf des Baches folgte, der aus anderen Strömen Zulauf erhielt. Nach zweitausend Schritt war er bereits zu einem kleinen Fluss angewachsen. Um die Lichtung herum war der Wald nicht all zu dicht und Seraphia genoss das warme Licht der Sonnen auf ihrer Haut. Sie folgte einem schmalen Tierpfad, der sich am Sahm entlang zog, und hielt die Augen offen. Bisher war keine Spur von Faunus zu sehen. Kein Lager, keine Wachen, keine Fußspuren. Auch roch sie kein Lagerfeuer. Die sanfte Brise strich durch das Laub der sommerlichen Bäume und das flüsternde Plätschern des Flusses, der in seinem Lauf manch einen Felsen überquerte, begleitete sie das Land hinab. Das Gelände fiel weiter ab, dann trat sie in eine Senke mit einer kleinen Lichtung. Vor einem bescheidenen Wasserfall hatte sich ein Teich gebildet.
»Dafür ist immer Zeit«, zitierte Seraphia die Äbtissin schulterzuckend und stieg, ohne zu zögern in das kristallklare und von der Sonne erwärmte Wasser. Sie tauchte unter und wusch den Schmutz, der seit ihrem Aufbruch in den Sümpfen der Sidaji in jede ihrer Poren gedrungen war, von ihrer Haut. Sie spülte mit dem weichen Wasser des Flusses ihr schwarzes Haar so gut es ging. Sie fühlte sich unbeobachtet und genoss es seufzend, ein gründliches Bad zu nehmen. Sie vermisste nur die Seife.
Jemand räusperte sich.
Seraphia fuhr erschrocken auf und sah einen Schatten über das Wasser fallen. Sie wirbelte herum. Ihr Herz klopfte wie wild, als ein Mann in weißer Tunika auftauchte. Mit den Muskeln eines Meisterwerkes aus Alabaster ausgerüstet stand er mit verschränkten Armen am Rand des Teichs und sah belustigt auf sie hinab. Er verneigte sich höflich und hielt das goldene Amulett auf seiner Brust fest, das an einer schweren Kette herunterbaumelte. Sein dunkles Haar fiel in dicken Locken herab.
»Charna hat Euch geschickt? Ich bin Faunus …«
»… der Herr von Garak Pan!«, rief Seraphia entsetzt und tauchte erschrocken ins Wasser, bis nur noch ihr Kopf herausschaute.
Hat er mich etwa beobachtet? Verdammt ist das peinlich!
Seraphia spürte die Röte ihre Wangen hinaufsteigen. Faunus lächelte vergnügt. Sie riss sich zusammen und stand auf, durchquerte den flachen Teich mit raschen Schritten.
»Ich soll Euch augenblicklich nach Idrak bringen. Charna befiehlt, dass wir das Tor benutzen.«
»Charna befiehlt …«, Faunus kostete das letzte Wort und ließ es sich scheinbar auf der Zunge zergehen. Er sah ganz normal aus, aber es war bekannt, dass er magisch sehr begabt war und solche Männer zeigten immer eine körperliche Veränderung. Was war mit ihm geschehen, dass er so normal aussah?
»Nun, sie hat mir befohlen, das Tor zu nutzen. Ich soll Euch zum Tempel bringen … so schnell es geht. Ich war bei den Sidaji. Sie sterben«, stotterte Seraphia und widerstand der Versuchung, ihre Blöße mit den Händen zu bedecken. Sie wollte nicht so verunsichert erscheinen, wie sie sich fühlte.
Faunus veränderte seine Haltung. Sein vergnügtes Lächeln wich einem Ausdruck der Sorge und Anspannung. »Kommt! Wir brechen am Besten sofort auf. Es sei denn, Ihr habt hier noch etwas Dringendes zu erledigen.«
Da war es wieder, das verdammte spitzbübische Lächeln. Seraphia wünschte sich, der Boden möge sie verschlingen. Faunus reichte ihr die Hand, doch sie stieg an ihm vorbei aus dem Teich und folgte dem Pfad zurück zur Lichtung mit dem Portal. Faunus kam ihr einen Moment später nach und holte sie ein.
»Warum so missgelaunt? Wie lautet Euer Name? Oder hat man im Tempel keine Manieren mehr?«, sagte Faunus mit einem Ton der Entrüstung. Es klang nicht besonders überzeugend in Seraphias Ohren.
»Manieren? Gehört es zum guten Ton im Wald von Garak Pan, Priesterinnen aufzulauern?«
»Aufzulauern? Ihr seid im Sahm nahe seiner Quelle baden gegangen. Die Priester Garak Pans erachten das als Sakrileg«, sagte Faunus und ein warnender Unterton mischte sich in seine Worte.
Seraphia erschrak. Unter Umständen hatte sie unwissentlich etwas verbrochen, als sie in das Wasser gestiegen war. »Ich … ich hatte nicht vor … Verzeiht mir bitte!«, sagte Seraphia und neigte das Haupt. »Mein Name ist Seraphia.«
Faunus musterte sie überrascht. »Ich habe von Euch gehört! Ihr seid die Herrin der Dunklen Flamme. Die Gerüchte haben nicht übertrieben«, sagte er und warf einen wohlwollenden Blick auf Seraphias tropfnasse Rundungen, bevor er mit einer Hand zur Lichtung wies. Seraphia wünschte sich sehnlichst ihre Robe herbei und war wütend auf Charna, weil diese sie ohne Kleidung hatte gehen lassen. Dennoch riss sie sich zusammen und bemühte sich um einen höflichen Tonfall, als sie wohl überlegt antwortete. »Es tut mir leid, dass ich ein Sakrileg begangen habe. Die letzten Tage waren sehr anstrengend und ich hatte keine Zeit für ein Bad. Ich werde Buße leisten, wenn Ihr es verlangt«, sagte Seraphia und folgte wieder dem Pfad.
»Buße leisten … Oh!« Faunus ließ es klingen, als hätte er dabei etwas Unanständiges im Sinne und Seraphia versuchte, einmal nicht rot zu werden. Es gelang ihr nicht.
Warum passiert mir das andauernd!
Faunus trat etwas näher an sie heran. »Welche Form der Buße habt Ihr im Sinn?«
»Schluss damit, egal was es ist!«
Seraphia fuhr erschrocken herum. Sie sah Faunus hinter sich stehen. Sie drehte sich um. Faunus stand vor ihr. Sie lief ein paar Schritte zur Seite und schaute sich ungläubig um. Es war Faunus.
Zweimal.
»Faunus der Tausendfache! Das ist wortwörtlich gemeint?«, rief sie und schüttelte den Kopf.
»Was hat er wieder angestellt?«, fragte der zweite Faunus. Er wirkte wie der ernste, verantwortungsbewusste Bruder des Ersten.
»Nichts!«, riefen der erste Faunus und Seraphia unisono. Sie warf einen Blick aus dem Augenwinkel zu dem ersten Faunus, der schuldbewusst zu Boden blickte.
»Na, was auch immer! Verschwinde!«, sagte der zweite Faunus und weg war der erste Faunus. Seraphia drehte sich zu allen Seiten um, doch er war nicht mehr zu sehen. Sie sah den zweiten Faunus skeptisch an.
»Das ist ein Trick, oder?«
»Ein Trick? Ich bin Legion. Das weiß hier jedes Kind. Ich nehme an, Charna schickt Euch. Oder habt Ihr Euch bloß verlaufen?«
Seraphia hatte das Gefühl, dass dieser Faunus keinen Humor hatte. Aber wo war der erste Faunus geblieben? Nahm er sie auf den Arm? Die magische Macht der Männer hatte sie nie richtig verstanden.
»Charna schickt mich. Mein Name ist Seraphia.«
Faunus blickte überrascht auf. »Die Herrin der Dunklen Flamme. Zumindest in einem Punkt haben die Gerüchte nicht übertrieben. Ihr seid der neue Aufsteiger im Tempel.«
Seraphia schaute diesen Faunus misstrauisch an, aber er sah ihr nur in die Augen. Mit Respekt. Er schien mehr an ihrer Rolle als Botschafterin Charnas interessiert zu sein, als an ihrem Körper. Der erste Faunus hatte entweder ein anderes Gerücht gehört oder die Gerüchte um sie enthielten zu viele Details zu ihrer Person. Auch wenn diese Details ihr schmeichelten.
»Charna befahl mir, Euch durch das Portal zu geleiten. Die Lage in den Sümpfen der Sidaji ist bedrohlich. Sie scheinen alle zu sterben.«
Faunus blickte gedankenverloren in die Ferne. Seine Stirn lag in tiefen Falten. »Wir brechen sofort auf. Seid Ihr durch das Portal gekommen?«
»Charna brachte mich direkt hierher.«
Faunus lachte freudlos und schüttelte den Kopf. »Das erste Mal mit ihr gesprungen?«
Seraphia nickte und strich sich ihr nasses Haar aus dem Gesicht. Sie wrang es aus und strich es glatt.
Faunus beobachtete sie. »Habt Ihr eure Robe verloren?«
Seraphia schüttelte sich energisch die nassen Hände aus und enthielt sich eines Kommentars.
»Ihr habt doch nicht etwa im Sahm gebadet, oder?«, fragte Faunus und hielt inne. Er musterte ihre nasse Haut mit ernstem Blick.
Oh, bitte nicht! Bei Sarinaca!
Seraphia schluckte. »Ich hatte seit Tagen nicht baden können und …«
»Ihr seid auch noch schmutzig! Das ist ein Sakrileg sondergleichen!«
Faunus schien ehrlich wütend und Seraphia wurde unsicher. Beim Orden wurde ein Sakrileg nicht als Kleinigkeit abgetan. Plötzlich wünschte sie sich den ersten Faunus herbei. Er war bei der Sache womöglich etwas toleranter.
»Ich habe Euch gesucht. Nachdem ich Euch nicht sofort finden konnte, habe ich, äh, ich - der erste Faunus hat mich jedoch über meinen Irrtum aufgeklärt und ich entschuldige meinen Fehler. Ich wusste nicht, dass man nicht … ich wollte sicher kein Sakrileg begehen!«
Faunus sah ihr streng in die Augen und schüttelte dann den Kopf. »Der alte Lüstling ist Euch bis zum Wasser gefolgt und hat Euch minutenlang zugesehen, bevor er sich zu erkennen gab. Ich muss mich entschuldigen. Betrachten wir die Angelegenheit als vergessen.«
Faunus folgte dem Pfad und bedeutete Seraphia, sich zu beeilen. Er beschleunigte seine Schritte. Die Sache schien für ihn abgehakt. Seraphia schaute peinlich berührt zu Boden und zwang sich wütend, ihm zu folgen.
»Die Situation ist pikant«, sagte er.
Seraphia schaute ihn verwirrt an. »Ich weiß, ich …«, sie blickte Faunus an und begriff, dass es nicht mehr um sie ging.
Ich muss mich zusammenreißen! Wenn ich nur nicht so müde wäre.
Sie atmete tief ein. »Die Sidaji sind beinahe handlungsunfähig. Nur eines der Ratsmitglieder scheint noch halbwegs bei Sinnen zu sein und es geht stetig bergab mit ihm. Die Heiler geben ihm noch ein paar Tage.«
»Ich dachte, die Heiler von Asla hätten ein Gegenmittel gefunden?«
»Das dachten wir auch, aber dann starben die Erkrankten doch plötzlich. Das Mittel scheint die Krankheit nur zu verlangsamen.«
»Verdammt!«, fluchte Faunus zwischen den Zähnen hervor und blieb stehen. »Ich muss mich auf diese Sache konzentrieren!«, rief er aus und schritt energisch aus. Sie erreichten die Lichtung in der Dämmerung. Faunus machte ihr mit ungeduldigen Handzeichen klar, sich zu setzen.
»Wir sollten nicht zögern, sondern gleich …«
»Ich weiß! Setzt Euch und wartet ab! Das hier ist wichtig.«
Seraphia ließ sich nieder und spürte das kühle Gras auf der Haut. Faunus trat in das Zentrum der Lichtung und vollführte eine Art langsamen Tanz. Dann blieb er regungslos minutenlang stehen, mitten in der Bewegung erstarrt. Seraphia stand zögernd auf und rief ihre Aura-Sicht herbei. Faunus glühte intensiv. Tausende von Fäden gleißender Energie entströmten ihm und flossen zu ihm zurück. Er wirkte wie in Trance. So eine Form von Magie hatte Seraphia nie zuvor gesehen. Etwas Unheimliches ging von der Stille aus, die sich nun im Wald verbreitete. Die Vögel, die eben noch laut zwitschernd die Abendstunden einleiteten, verstummten. Das Plätschern des Sahm erklang unnatürlich laut und schnell. Zwielicht senkte sich rascher als natürlich über die Lichtung und Obol, der zweite Mond Kabals ging in einer schmalen Sichel auf. Sterne blinkten millionenfach am Nachthimmel. Noch nie hatte Seraphia so viele Sterne gesehen. Etwas stimmte nicht mit der Zeit. Der Mond bewegte sich sichtbar geschwind über den Nachthimmel und Nebel stieg in Sekundenschnelle aus dem Waldboden auf. Dann verlangsamte sich der Fluss der Zeit zurück auf ein normales Maß. Der Mond schien fest am Himmel zu stehen, das Licht der Sterne wurde schwächer. Der Nebel hing in der Luft und waberte nicht mehr umher. Auch das Wasser des Sahm flüsterte jetzt leise vor sich hin.
In den finsteren Schatten des Waldes knackte es hier und da. Seraphia sah etwas im Augenwinkel aufblitzen und blickte sich aufgeregt um.
»Faunus?«, fragte sie leise, doch der Herr der Wälder von Garak Pan stand unbewegt und mit erstarrten Gliedern in der Mitte der Lichtung. Er sah aus wie eine Statue. Seraphia suchte seine Nähe, als sich Lichtquellen aus allen Richtungen näherten. Sie erkannte Fackeln. Tausende Fackeln. Unzählige Gestalten traten schweigend zwischen den Bäumen hervor und ihre Gesichter glichen gemeißelten Fratzen im Schein der Flammen. Tausend unterschiedliche Ausdrücke und Gefühle waren in die maskenhaften Gesichter gehämmert - und doch war es nur ein Mann!
Es war Faunus. Der Tausendfache.
Seraphias Herz klopfte wild und sie bemühte sich, Ruhe zu bewahren. Die Macht der Dunklen Flamme regte sich in ihrem angsterfüllten Herzen. Sie versuchte, sich zu beruhigen.
Tausendmal Faunus näherte sich ihr.
Alle strebten in die Mitte der Lichtung, wo sie sich neben dem erstarrten Faunus hektisch in alle Richtungen umdrehte.
»Faunus?«, fragte sie noch einmal lauter.
Ein Chor aus tausend Mündern antwortete ihr.
»HIER BIN ICH!«
Seraphia zuckte zusammen.
Die Stimmen redeten plötzlich auf sie ein, stellten Fragen, lachten, weinten, schrien, wisperten. Sie hörte immer wieder ihren Namen. Der Chor wurde drängender. Die Männer, die Faunus waren, riefen in einer Stimme und tausend unterschiedlichen Betonungen ein einziges Wort:
»SERAPHIA!«
»Hört auf!«, schrie sie und hielt sich die Ohren zu.
Der Lärm endete abrupt.
Im Gras lagen tausend Fackeln.
Seraphia nahm die Hände von den Ohren. Sie drehte sich um. Hinter ihr stand Faunus. Er lächelte sie an. Seine Aura glühte machtvoll.
»Seraphia! Ich danke Euch für euer Kommen! Der Grund Eures Besuchs ist denkbar schlecht, aber Ihr habt mir geholfen, mein Selbst wiederzufinden. Ich schulde Euch etwas.«
Seraphia beruhigte sich und schaute sich noch einmal ungläubig um. Sie blickte diesen neuen Faunus an. Etwas war grundlegend anders an ihm. Dies war ein Mensch, mit einem komplexen Charakter, keine einzelne Facette einer Persönlichkeit. Faunus der Tausendfache, vereint in einem Körper und einem Geist.
»In dem Zusammenhang fällt mir etwas ein. Teilt Ihr euch ein Gedächtnis mit allen Euren Inkarnationen?«
Faunus warf seine Stirn in Falten und nickte, dann hielt er sich plötzlich die Hand vor den Mund. Er straffte sich. Er verneigte sich tief. »Verzeiht, Seraphia. Ein Mann besteht aus vielen Facetten. Nicht alle davon sind es Wert, ein eigenes Leben zu führen. Bitte behaltet mein Verhalten am Teich für euch. Es liegt mir nicht daran, dieses Geschehnis mit anderen zu teilen.«
Er hat mich tatsächlich heimlich beobachtet!
Seraphia holte tief Luft. Das war definitiv eine der seltsamsten Situationen, die sie je erlebt hatte. »Mir liegt auch nicht daran. Versuchen wir, es zu vergessen«, sagte sie und verneigte sich ebenfalls tief. »Ihr seid der bemerkenswerteste Mann, der mir je über den Weg gelaufen ist.«
»Und Ihr seid die mit Abstand schönste Frau, die mir je begegnet ist«, sagte Faunus lächelnd.
Seraphia wurde abermals rot, aber nur ein bisschen. Faunus sah es nicht im Dunkeln. Sie wollte endlich ihre Robe zurück. »Lasst uns aufbrechen! Und ihr könnt mich Sera nennen. Nach allem, was wir erlebt haben.«
»Sehr gern!«, sagte Faunus lachend und wies auf das Portal, zu dem sie nun gingen. Er schaute sich besorgt um und kratzte sich ratlos am Kopf. »Ich sollte mich um die Fackeln kümmern, sonst fängt es noch an, zu brennen.«
»Ich kümmere mich darum«, sagte Seraphia. Sie erhob die Hände und bewegte sich tanzend im Kreis. Die Aura-Sicht offenbarte die Energiepünktchen, die jeweils eine Fackel zeigten. Sie sog die Energie ein und drehte sich weiter im Kreis. Tausend Flämmchen flogen auf sie zu. Ein jedes abgelöst von den Fackeln, die harmlos erloschen. Als sie jede Flamme eingesogen hatte, wirbelte ein kleiner Feuerorkan um Seraphia herum. Sie stieß das wirbelnde Feuer in den Himmel. Ein brennender Kreisel stieg über der Lichtung auf und ließ den Nebel orangerot aufleuchten, bis das Feuer endlich erlosch. Seraphia trat zu Faunus, der sie fasziniert ansah.
»Deine Magie ist das Anmutigste, was ich je sah.«
Seraphia wurde verlegen und wusste nicht, was sie sagen sollte. »Danke. Wir brechen besser auf. Vorhin ist irgendetwas mit der Zeit geschehen und mittlerweile ist es bereits Nacht. Wir verlieren wertvolle Stunden und ich bin todmüde.«
Faunus nickte lächelnd. »Ruf du das Portal, Sera, ich ebne den Weg!«
»Was?«
»Oder sollen wir es umgedreht machen? Ich finde den Teil mit dem Weg immer etwas anstrengender, deswegen wollte ich dir die Mühe ersparen.«
»Ich bin noch nie mit dem Portal gereist. Charna sagte, du würdest mir das zeigen.«
»Oh.« Faunus holte tief Luft und seufzte dann. »Nun gut. Die Reise besteht aus zwei Teilen. Dem Portal diesseits und dem Weg. Das Portal muss zunächst geöffnet werden. Das geht so.«
Faunus streckte seine Hand aus. Seraphia wechselte in die Aura-Sicht und erkannte die magischen Ströme, die wie wilde Schlangen aus dem Torbogen nach Faunus Hand ausschlugen und sich darin verbissen. Eine schillernde Wasseroberfläche erschien senkrecht im Torbogen und trotzte der Schwerkraft. Faunus schüttelte seine Hand und die Energieströme wurden zurück in das Tor gezogen. Die Wasseroberfläche verschwand.
»Jetzt du. Versuch es!«
Seraphia streckte die Hand aus und konzentrierte sich auf das Sammeln von Energie, wie sie es gelernt hatte. Denn das war es scheinbar, was Faunus getan hatte. Sein Element war das Wasser, ihres das Feuer. Sie fragte sich, ob das einen Unterschied machte. Energie-Tentakel peitschten aus dem Torbogen und wickelten sich um Seraphias Arm. Flammen schossen hervor und eine Feuersbrunst loderte in seiner Mitte auf.
»So geht es natürlich auch. Sieht aus wie bei Charna. Du musst jetzt das Portal halten, während ich den Weg ebne.« Faunus zapfte Energie aus dem Inneren des Portals. Er verwob die Stränge in einem spezifischen Muster. »Merke dir dieses Muster! Es ist das Portal in Idrak. Jedes Portal hat sein eigenes Muster. Wenn du ein willkürliches Muster webst, wird entweder kein begehbarer Weg entstehen und du verlierst dich im Limbus, oder du kommst an einem Ort heraus, der verdammt weit weg sein kann.«
Als Faunus das Muster abgeschlossen hatte, wurden die Flammen am Rande des Torbogens nach innen gezogen und ein Tunnel mit Feuerwänden tauchte auf. Er führte etwa fünfzig Schritt weiter in ein Tor, hinter dem Seraphia das Innere Sanctum erkennen konnte.
Faunus lächelte und streckte seine Hand aus. »Der Weg durch den Tunnel kann länger sein, wenn das Ziel weiter entfernt ist. Komm!«
Seraphia griff nach seiner Hand. Faunus wies auf das Portal, das verwobene Muster der Energie in seiner anderen Hand haltend. Sie wurden vom Boden gehoben und schwebten auf das Portal zu. Seraphia erschrak und klammerte sich an Faunus breiter Brust fest. Sie war nervös, doch diese Reise war ganz anders als der Sprung, den Charna mit ihr gemacht hatte. Sie glitten langsam durch den Tunnel, kaum schneller als bei einem gelassenen Spaziergang. Seraphia hatte den Eindruck, dass man das auch beschleunigen konnte, wenn man wollte. Womöglich nahm Faunus Rücksicht auf sie. Plötzlich wurde sie sich ihrer nackten Haut, ihrer Brüste bewusst, die die Haut des Mannes berührten, der sie sicher hielt. Er roch gut.
Zu gut.
Sie stieß sich vorsichtig von ihm ab. Er hielt sie fest in seiner Hand und lächelte ihr zu. Seraphia erwiderte unsicher sein Lächeln.
Verdammt! Er sieht gut aus!
Sie erreichten das andere Portal. Sie stießen in einem brüllenden Flammeninferno daraus hervor, dessen Hitze sie nicht verletzte, sondern kaum mehr war als ein warmer Wind. Faunus ließ den Weg verschwinden und Seraphia spürte die Energietentakel, die nach ihr griffen. Es war, als ob das Tor sie festhielt. Sie schüttelte die Energie ab und es verschwand. Ihre Füße berührten den steinernen Boden des Inneren Sanctums in Idrak.
»Danke Faunus! Jetzt kann ich durch Portale reisen!«
Seraphia war trotz ihrer Müdigkeit begeistert. Dieses Erlebnis war für sie das Beste am ganzen Tag gewesen. Gegebenenfalls auch das Zweitbeste dachte sie, als Faunus ihre Hand küsste, bevor er diese entließ. Sie lachte ihn an und strich über seinen muskulösen Arm.
»Ich freue mich, dass du es warst, der mich vereint hat. Ich danke dir!«, sagte Faunus ernst.
Seraphia verbeugte sich und Faunus tat es ihr gleich. Sie sah sich um und überlegte, was sie nun tun sollte. Ihre Anweisungen waren nicht sehr spezifisch gewesen. Sie winkte eine der Schwestern herbei, die ihre Ankunft beobachtet hatten.
»Herrin der Dunklen Flamme! Wie kann ich Euch zu Diensten sein?«
»Ist die Hohepriesterin zurück?«
»Nein, aber es sind auf ihre Anweisung hin Quartiere für die erwarteten Gäste bereitgestellt worden. Wenn ihr möchtet, begleite ich den Herrn der Wälder zu seiner Unterkunft.«
Seraphia blickte Faunus an, der zustimmend nickte.
»Ich denke, wir sehen uns in Kürze wieder.«
»Begleitet Faunus zu seinem Quartier. Ich werde mein Eigenes aufsuchen.«
»Oh. Eure Gemächer sind auf Befehl der Hohepriesterin verlegt worden. Eure neuen Zimmer befinden sich ab sofort hier im Sanctum in unmittelbarer Nähe der Gemächer der Hohepriesterin.«
Seraphia war fassungslos. »Was ist mit meinen ganzen Sachen?«
»Es ist bereits alles in Eure neuen Räume verbracht worden.«
Die Schwester lächelte verschwörerisch. »Verzeiht mir, aber ich glaube sagen zu dürfen, dass Ihr Eure neuen Räumlichkeiten sehr ansprechend finden werdet. Wenn Ihr möchtet, geleite ich Euch persönlich dahin.«
Seraphia nickte und fühlte sich schwindelig. Sie wohnte nun im Inneren Sanctum! In der Nähe der Hohepriesterin! Dieser Tag war eindeutig der Wildeste, den sie je erlebt hatte. Es war zu viel, um es auf einmal zu erfassen.
»Lasst uns zunächst unseren Gast zu seinem Zimmer begleiten.«
Die Schwester verbeugte sich. Faunus und Seraphia folgten ihr schweigend die neue Treppe hinauf bis in die Wohngemächer. Faunus Unterkunft war am Ende des Ganges, wo die Gemächer für besondere Ehrengäste lagen. Eine Adeptin wurde angewiesen, sich um sein Wohlbefinden zu kümmern.
»Versuch dich etwas auszuruhen! Wer weiß, wann wir wieder dazu kommen!«, sagte Faunus und verabschiedete sich.
Die Priesterin, die sie hergeführt hatte, geleitete Seraphia den Gang hinab. Sie wurde immer nervöser, als sie beinahe die Gemächer der Hohepriesterin erreicht hatten.
Hier bei ihr soll ich jetzt wohnen?
Die Ordensschwester öffnete eine breite Tür zur Linken und überreichte ihr den Schlüssel. »Es steht alles bereit. Habt Ihr einen Wunsch? Kann ich Euch bei irgendetwas behilflich sein?«
»Vielen Dank, aber ich komme schon zurecht. Ihr habt sicher wichtigere Verpflichtungen. Ich danke Euch für alles!«
Die Priesterin verneigte sich und ging. Seraphia betrat ihre neuen Zimmer.
Alles war fremd.
Sie entdeckte ihre persönlichen Sachen in drei großen Truhen. Ein Stapel daneben enthielt ihre Wandteppiche und das Übrige aus ihrer alten Wohnung. Sie sah sich im Raum um. Auch hier brannte das ungewöhnliche Licht, das den Gang draußen erhellte. Sie entdeckte aber auch Kerzenleuchter und Öllampen. Es sah ähnlich aus wie bei der Hohepriesterin. Ein Kamin, ein Schrank, einige Truhen, vier Sessel, ein Tisch, eine Anrichte mit feinem Porzellan und Kristallglas. Die gleichen hochwertigen Möbel. Die Decke wölbte sich hoch und Tropfsteine hingen herab. Beruhigt stellte sie fest, dass es sich auch hier nur um Verzierungen handelte, die die Steinmetze angebracht hatten. Auf der Anrichte stand sogar Brot, Obst, Wasser und Wein bereit. Seraphia goss sich einen Becher Rotwein ein und leerte diesen in zwei durstigen Zügen. Es war der gleiche köstliche Wein, den sie in den Gemächern der Hohepriesterin genossen hatte.
Sie lachte vergnügt.
Es waren drei Türen zu erkunden. Seraphia stellte den Becher ab und öffnete die erste Tür auf der rechten Seite. Dahinter lag ein Raum mit Kamin, der einen Schreibtisch, einen großen Schrank und zwei mit Büchern und Schriftrollen gefüllte Regale enthielt.
Ein riesiges Arbeitszimmer nur für mich!
Sie kehrte in das Wohnzimmer zurück und öffnete die Tür, die dem Eingang gegenüberlag. Ein Bett mit vier hohen Säulen und weichen Fellen darauf stand in der Mitte des Raums. Ein Kleiderschrank, zwei Truhen und ein Schminktisch mit Spiegel und einem Hocker davor ließen sie vergnügt quieken.
Der Kamin ist groß genug für ein ganzes Haus!
Eine weitere Tür führte aus dem Raum heraus. Seraphia trat hindurch und hielt sich die Hände vor den Mund. In den Boden eingelassen war ein Becken, kunstvoll gearbeitet, wirkte es wie ein natürlicher Teich. Es war ungefähr oval geformt und maß fünf Schritt in der Breite. Das Wasser war klar und Luftblasen stiegen von einem Zulauf aus an die Oberfläche. Aus gläsernen Kugeln unterhalb des Wasserspiegels erleuchtete ein fluoreszierendes Licht sanft den Raum. Man konnte in das Becken über ein paar Stufen bequem hinabsteigen. Auf einem Regal lagen Handtücher bereit, ein Kamin war in einer wie natürlich aussehenden Nische der Wand eingelassen. Seraphia fühlte sich wie in einem Traum. Sie hatte zuvor zwei Zimmer gehabt, die sie immerhin mit niemandem teilen musste, was ein Privileg ihrer Stellung war. Jetzt fühlte sie sich wie eine Märchenprinzessin! Sie tanzte durch den Raum und lachte kindisch, bis sie einen zweiten Ausgang erreichte.
Noch mehr Zimmer?
Ein kleiner Flur führte zu zwei anderen Durchgängen, wovon einer Zugang zum Empfangsraum gewährte. Die nächste Tür im Flur öffnete sich zu einem kleinen Zimmer mit Bett, Schrank, Truhe, einem Schreibtisch und einer Sitzecke. Auch hier war ein Kamin eingelassen.
Ein Gästezimmer?
Sie stand eine Weile im Türrahmen und lachte zum hundertsten Mal. Noch heute Morgen hatte sie solch ein Zimmer als Zuhause bezeichnet. Sie setzte sich auf die Bettkante und rieb sich müde über die Augen, als die Aufregung von ihr wich. Bilder blitzten auf. Dieser Tag war einfach zu ereignisreich gewesen. Ihre Beine taten weh und sie hatte schmutzige Füße. Sie strich sich über die Fußsohlen. Sie hatte seit Jahren so weiche Füße wie ein Neugeborenes. Das Pentacut schützte sie vor jeder Verletzung besser als ein paar Lederstiefel. Eigentlich hatte sie Schuhe in den letzten Jahren nur aus Gewohnheit getragen. Sie rieb sich die schmerzenden Waden und überlegte, wo ihre Kleidung sein mochte. Zurück im Wohnzimmer entdeckte sie ihre Sammlung aus Roben, Tüchern und Sandalen bei den Habseligkeiten, die man hierher gebracht hatte.
Nicht viel.
Seraphia strich mit den Fingern über das Pentacut. Sie spürte seine Macht unter den Fingerspitzen vibrieren. Vor ein paar Jahren war sie als Mädchen mit neidischen Blicken an den Frauen vorbeigegangen, die sich in teures Tuch und edle Schnitte gewanden konnten. Sie hatte sich gewünscht, für jeden Tag ein anderes Kleid zu besitzen. Sie lachte.
Was für ein törichter Wunsch!
Sie legte sich eine frische Robe aus rotem Stoff mit einer großen Kapuze bereit und ließ die Sandalen an ihrem Ort.
Zeit für ein richtiges Bad!
Sie kehrte in den Raum mit dem Becken zurück und fand ein Stück Seife und einen Schwamm in dem Regal mit den Handtüchern. Sie setzte vorsichtig einen Fuß in das Becken und erwartete das übliche Prickeln kalten Wassers.
Es ist warm!
Sie stieg hinab und ließ sich treiben. Ein polierter Vorsprung unter der Oberfläche war wie dazu gemacht, sich hineinzusetzen. Sie nahm Wasser und Seife und ließ sich Zeit mit der Körperpflege. Eine geraume Weile später legte sie den Schwamm und die Seife an den Rand und lehnte sich zurück. Das warme Wasser umfing sie wie eine Decke und nach wenigen Minuten fielen ihr allmählich die Augen zu. Die vielen Eindrücke des Tages blitzten erneut auf. Die sterbenden Sidaji, der Flug auf Koorms Rücken, die Begegnung mit der Äbtissin und der Hohepriesterin. Ihre Reise nach Garak Pan. Und Faunus. Sein Gesicht und sein Lächeln ließen sie seufzend die Augen öffnen.
Endlich schlafen …
Seraphia kletterte müde aus dem Becken und trocknete sich ab. Sie schlang sich ein Handtuch um die nassen Haare und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Das weiche Bettzeug empfing sie schmeichelnd und sie schob die Beine seufzend unter die Decke. Drei Atemzüge später war sie eingeschlafen.