Kapitel 3
Thanasis verließ die Siedlung, warf noch einen letzten Blick zurück zu Mehmood und der Sjögadrun.
Sie hat einiges durchgemacht. Es macht Mehmood betroffen, sie in diesem Zustand zu sehen. Offenbar hat er mehr Verantwortungsbewusstsein, als ich ihm bisher zugetraut hatte. Oder, er versucht eine Schuld zu begleichen, die älter ist, als seine Bekanntschaft mit dieser Eishexe.
Er warf einen Blick auf die Karte, orientierte sich und lief los. Sein massiger Körper bahnte sich seinen eigenen Weg, wo nicht, half er mit einem Griff seiner großen Hände, einem gezielten Tritt seiner Hufe oder einem weiten Sprung nach. Binnen weniger Stunden erreichte Thanasis den Zielort. Er hatte einen ähnlich gestalteten Eingang wie beim Unterschlupf nahe der Küste erwartet, doch hier, inmitten des schwülen Dschungeldickichts lag nur ein schmuckloser, wenn auch monumentaler Bau. Es handelte sich um eine Stufenpyramide, die aus gegossenem Stein bestand und vollkommen fugenlos und glatt jedem Versuch der geduldig wuchernden Grünpflanzen trotzte, Halt auf ihr zu finden. Lediglich am Fuß des großen Bauwerks waren einige Gewächse an das Fundament gewuchert. Alles oberhalb davon war poliert und sauber, als wäre es gestern erbaut worden.
Dieser Ort ist eigenartig. Ich bin nicht mal sicher, ob diese Zikkurat von den Sidaji stammt.
Thanasis umrundete das Gebäude und fand auf der Nordseite einen verschlossenen Eingang. Als er darauf zu ging, öffnete sich die Tür selbsttätig, indem sie sich in viele tausend kleine Teile auflöste, die übereinander polterten und nach innen fielen. Statt jedoch auf den Boden zu fallen, wurden sie zur Decke hin gezogen und verschwanden dort auf unerklärliche Weise. Der kunstvolle Vorgang erweckte den Eindruck, in dieser Form von den Erbauern erdacht worden zu sein. Er ging hinein, betrat eine kleine Halle mit kuppelförmigem Dach, das indirekt erleuchtet wurde. In der Mitte des peinlich sauberen und ansonsten leeren Raums lag ein kreisförmiges Mosaik mit einem fremdartigen Symbol in den Boden eingebettet. Schriftzeichen, die von den Sidaji stammten, liefen im Kreis um seinen Rand.
Es sieht aus wie eine Warnung, doch ich kann es nicht lesen.
Nach einer Weile zuckte er die Schultern und trat auf das Mosaik. Ein kaum hörbarer Laut ertönte, während die Geräusche des Dschungels erstarben. Die Tür zur Pyramide schloss sich selbsttätig. Das Mosaik entpuppte sich als eine Plattform, die sich lautlos in den Boden absenkte. Er erreichte eine größere Halle darunter und blieb wie angewurzelt stehen.
Damit hatte er nicht gerechnet.
Ein Gitterkäfig aus beindicken Metallstreben umschloss den Portalbogen zu einer anderen Welt - und er war geöffnet. Blitze zuckten um die Ränder des steinernen Portals herum und eine blauschwarze Finsternis lag in seinen Tiefen. Thanasis umrundete den Käfig, betrachtete das Portal in seinem Inneren. Die Luft roch wie bei einem Gewitter und die Härchen auf seinen Armen stellten sich auf, wobei die Geräusche der Entladungen ihn nervös machten. Die indirekte Beleuchtung an den Wänden warf ein blaues Licht in den Raum, das ein eigenartiges Leuchten auf allen weißen Gegenständen erzeugte.
Was auch immer hinter diesem Portal liegt, ich habe nicht den Eindruck, dass es seinen Weg in diese Welt finden sollte. Wer hat diese Kammer errichtet? Sicher nicht die Sidaji. Nichts hier deutet darauf hin.
Er hatte das Gitter einmal umrundet, jedoch keinen Eingang erkennen können. Es gab keine Vorrichtungen im Raum, die einen Öffnungsmechanismus in Gang setzen konnten, jedenfalls keine, die er sehen konnte. Thanasis nutzte seine Aura-Sicht und sah ein grell leuchtendes Energiemuster, das zusätzlich zum massiven Gitter um das Portal gelegt worden war.
Irgendjemand hat alle Anstrengungen unternommen, dieses Portal unbrauchbar zu machen. Dieser Ort war auf den Karten der Sidaji eingezeichnet, also kannten sie ihn. Was, wenn die Maschinenwächter mehr bewachten, als wir bisher angenommen haben?
Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, tat sich unvermittelt etwas vor ihm. Das Energiemuster veränderte sich, zeitgleich verformten sich die massiven Metallstreben des Käfigs und formten einen ovalen Durchgang, gerade groß genug für ihn.
Ist das eine Einladung?
Wie als eine Antwort auf seinen Gedanken, erweiterten sich die Streben noch ein Stück.
Thanasis stutzte.
Wirklich?
Der Durchgang wurde prompt noch etwas breiter.
Thanasis sah sich um, schüttelte den Kopf und starrte auf das Portal. Er atmete tief ein und ging durch die Öffnung des Käfigs. Sie verschloss sich sofort wieder. Weiteres Zögern als sinnlos empfindend, sprang er in das Portal. Mit ungewohnter Heftigkeit riss es ihn in die Dunkelheit. Die Blitze leuchteten grell auf, Donner hallte und betäubte ihn beinahe. Der Tunnel wand sich hierhin und dorthin, zerrte ihn in immer schneller mit sich. Seine Sicht verschwamm, rote und blaue Duplikate der tödlichen Entladungen zuckten vor ihm durch die Dunkelheit. Die Luft war nicht mehr atembar und ein schmerzhaftes Zerren an seiner Haut ließ ihn aufschreien.
Ich bin in eine verdammte Todesfalle gestolpert!
Thanasis schrie auf, als er jählings aus einem Portalbogen gespuckt wurde.
Um ihn herum waren nur die Sterne.
Doch er fiel durch eine kalte Luft, die mit allerlei Gerüchen geschwängert war und landete mit einem schmerzhaften Aufschlag auf einem Berg aus Trümmern. Thanasis schüttelte das mächtige Haupt und versuchte, sich zu orientieren.
Ich bin angekommen - wo auch immer das ist.
Steine und verbogene Metallstücke polterten den Trümmerhaufen hinab, auf dem er sich aufrichtete.
»Scheiße.«
Sein Blick fiel auf ein abgebrochenes Rohr, etwa so dick wie sein Daumen, dass sich durch seinen Rücken und seine Eingeweide bis durch die mächtigen Muskeln auf seinem Bauch gedrückt hatte. Er verrenkte den Arm, bis er es auf seinem Rücken zu fassen bekam, zog es Stück für Stück heraus. Der Schmerz war heftig, doch die Wunde schloss sich sofort, sein Körper regenerierte augenblicklich. Als er das Rohr endlich aus seinem Körper entfernt hatte, warf er es in hohem Bogen fort.
Das ist ein herzliches Willkommen.
Er blickte nach oben und erkannte den Abhang, auf dem das Portal stand. Eine Welle der Zerstörung musste über die gesamte Region gespült sein, denn was einst wie ein Hügel geformt gewesen war, war nun entzweigerissen, hatte das Portal sichtbar beschädigt. Überall lagen Trümmerstücke von Gebäuden, Fahrzeugen und eigentümlichen Metall-Geschöpfen, die Thanasis als eine Abart der Maschinenwächter identifizierte. Er kämpfte sich den Hügel hinauf und verschaffte sich damit einen Überblick. Die Welt, auf der er sich befand, war der Trabant eines gigantischen Planeten, der grünlich leuchtend und bedrohlich den halben Horizont einnahm. Sein fahles Licht waren Reflexionen einer Sonne, die ihre Strahlen nicht direkt auf den Mond unter seinen Füßen werfen konnte. Eine schwach erleuchtete Landschaft lag unter ihm, mit Myriaden von zerstörten Gebäuden, Maschinenwächtern und Apparaten, die Thanasis für Fahrzeuge und Fluggeräte hielt. Er ergriff den Schädelknochen eines toten Kriegers, der ein großes Gewehr umklammert hielt und in eine eigentümliche Rüstung gehüllt war. Entfernt menschliche Augenhöhlen musterten ihn vorwurfsvoll.
Krieg.
Das Wort echote in endloser Wiederholung durch sein Bewusstsein, fraß sich wie ein hungriger Wurm durch sein Gemüt, es leer und ausgehöhlt zurücklassend.
Ist das hier, was Kabal bevorsteht? Kein kleines Scharmützel, kein Handgemenge zwischen zwei befeindeten Stämmen - sondern totale Vernichtung. Nur wer hat hier eigentlich gegen wen gekämpft?
Thanasis untersuchte tote Soldaten und defekte Maschinenwächter. Unter Schmutz, Verfall und Schmauchspuren entdeckte er bald ein Rätsel. Die Leichen von Sidaji-Soldaten, Seite an Seite mit den anderen toten Soldaten, die gleiche Uniform tragend, die gleichen Waffen benutzend. Sie hatten gemeinsam gegen die Maschinenwächter gekämpft, so viel konnte er mit Gewissheit sagen.
Ein Aufblitzen am Himmel ließ Thanasis Deckung suchen. Vom Firmament über dem Portal fiel eine weiße Kugel, im Durchmesser groß genug um einige Personen zu beherbergen. Schwebend glitt das eigenartige Gefährt näher, bis es rund zehn Schritt vor Thanasis Versteck verharrte. Er verließ es, denn es war offensichtlich, dass man ihn entdeckt hatte. Gefasst auf einen Angriff, wartete er nur einen Lidschlag lang, dann öffnete sich die Vorderseite der Kugel. Aus der elliptischen Öffnung trat ein Tetari.
Er ist vom gleichen Volk wie Olana, die geheimnisumwitterte Herrin der Unerwünschten Träume, diese Beraterin, die Jenara zur Seite steht. Was hat er hier verloren?
Der Tetari verneigte sich höflich, aber mit unbewegter Miene.
»Es ist lange her, dass jemand von Kabal hierher gekommen ist. Mein Name ist Iastur Komgan Tiloell. Versteht Ihr mich?«
»Ich spreche ein wenig Jaxt, aber es ist lange her, dass ich Gelegenheit dazu hatte. Ich bin Thanasis, Herr des … vergesst es! Einfach nur Thanasis.«
»Seid Ihr im Auftrag Sarinacas hier?«
»Sarinaca ist seit zwei Jahrhunderten verschollen. Ihre Tochter, Charna, hat mich in das Sumpfreich der Sidaji entsandt.« Thanasis wusste zwar, dass dies nur die halbe Wahrheit war, aber er wollte die Dinge nicht unnötig verkomplizieren. »Die Sidaji sind über Nacht verschwunden und jetzt haben wir ein Problem mit den zurückgelassenen Maschinenwächtern, die Amok laufen.«
Der Mann sah besorgt aus. »Das ist keine gute Nachricht. Wo sind die Sidaji?«
»Das weiß niemand. Unsere eigentliche Sorge sind im Moment die Maschinenwächter.«
»Dann steht Kabal bevor, was dieser Welt geschehen ist. Seit der Geist der Ahnen von den Sidaji gegangen ist, sind die Maschinen wahnsinnig geworden.«
»Der Geist der Ahnen?«
»Sie werden beseelt von einem Bewusstsein, einem Geist, geschaffen aus toter Materie, erdacht durch die Klügsten der Sidaji vor langer, langer Zeit. Sie nannten ihn auch ihren Gott …«
»Kukulkan?«
»Das ist einer seiner Namen.«
Thanasis fuhr sich mit der Hand über die Stirn und machte einige nervöse Schritte. »Charna hat mit ihm einen Pakt geschlossen. Er will zur Flammengrube kommen, wo das Feuer brennt.«
»Euer Kukulkan ist nur ein einziger Aspekt des Geistes der Ahnen. Als die Sidaji in die Weiten des Weltenraumes aufbrachen, haben sie den Geist … geteilt. Kukulkan mag Eure einzige Hoffnung im Kampf gegen die Wächter sein. Oder Euer Verderben, wenn er nicht mehr bei Sinnen ist.«
Thanasis setzte sich und stützte das mächtige Haupt auf seine Hände, rieb sich die Schläfen.
Meine Welt ist dem Untergang geweiht, egal was wir tun.
Der Tetari betrat seine Kugel und kam einen Augenblick später wieder zurück. »Ihr seht aus, wie ein Kämpfer. Eure Aura spricht von der Macht eines Gottes in Euren Adern. Ich sehe, dass Ihr eine einzigartige Fähigkeit besitzt, doch im Kampf gegen die Macht der Sidaji ist sie beinahe nutzlos.«
»Was meint Ihr?«
»Eure Kraft. Ihr könnt sie nur gegen die Sidaji einsetzen, wenn Ihr deren Fähigkeit blockiert, die Macht des Feuers zu unterbinden. Nehmt diesen Talisman!«
Thanasis nahm einen Torques von dem Tetari entgegen. Er war in der unverwechselbaren Art der Sidaji gearbeitet.
Dieses Gefühl! Das ist ein Artefakt der Macht!
Thanasis verneigte sich höflich, legte den Torques jedoch nicht um den Hals.
»Der Torques passt sich an, Ihr könnt ihn selbst tragen oder jemandem übergeben, der im Kampf gegen die Maschinenwächter Erfolg haben mag.«
»Ich danke Euch …«
»Wenn Ihr mir nicht vertraut, müsst Ihr warten, bis Eure Chancen so aussichtslos geworden sind, dass ihr keine andere Wahl habt. Aber seid gewarnt! Es ist dann womöglich zu spät. Seht Euch in Ruhe um … benutzt den Torques und erspart Kabal das Schicksal dieser Welt.«
»Wo sind wir hier eigentlich?«
»Merjuun II. Eine Kolonie meines Volkes und der Sidaji. Unser letzter Versuch, auf einem natürlichen Himmelskörper Fuß zu fassen.«
Thanasis nickte, er kannte die eigentümlichen Himmelsgebilde der Tetari, die scheinbar haltlos zwischen den Sternen schwebten. Er betrachtete den Torques, verabschiedete sich von Iastur und machte sich auf den Rückweg nach Kabal. Er durfte keine Zeit verlieren.