Kapitel 3
Mehmood ließ sich von den Wächtern durch die Gänge, hinaus auf den Hof und in ein entlegenes Gebäude bringen, wo unzählige leere, aber offenkundig gebrauchte Krankenbetten standen. Überall waren Heiler, allerdings wirkten sie mitgenommen, konfus. Das Chaos, das der Nebel hinterlassen hatte, wurde hier deutlich. Die Betten hatten den Sidaji als Krankenlager gedient. Der mehr als hilfsbereite Wächter, der sich als Fergorn vorgestellt hatte, führte ihn zu einem Bett und Mehmood versuchte, die abgelösten Schuppen nicht zu berühren, die auf den Laken verstreut waren, als er sich setzte. Es war offensichtlich, dass ein Sidaji auf dem Lager im Sterben gelegen hatte. Nach einigen Minuten kam eine reizende Frau aus den Frostreichen im Kleid einer Heilerin zu Mehmood und untersuchte die Stirnwunde.
»Das ist nur ein Kratzer.« Die Heilerin machte einen Schritt zurück und sah Mehmood intensiv an. »Eure Aura ist gestört, ja geradezu in Aufruhr. So etwas habe ich noch nie gesehen. Fergorn sagte mir, Ihr tragt einen Kurakpor?«
Scheinbar ist meine Imitation der Aura nicht vollkommen. Das ist nicht gut.
Mehmood nickte. »Aus irgendeinem Grunde weiß ich, was das ist, doch sonst kann ich mich an nichts erinnern.« Er zog seine Bluse etwas hoch, doch die Heilerin warf nur einen beifälligen Blick darauf.
»Sieht in Ordnung aus, die Kurakpor fallen ab, wenn sie tödlich verletzt sind. Versucht, etwas Ruhe zu finden. Danach könnte es nicht schaden, wenn Ihr Euer Gedächtnis anregt. Der Kurakpor wird Euch schnell heilen und dann kehrt Eure Erinnerung wahrscheinlich auch zurück.«
Mehmood lächelte. »Mir geht es schon erheblich besser. Ich werde etwas essen und dann schaue ich mich um. Vielleicht treffe ich jemanden, an den ich mich erinnere, oder sehe Dinge, die ich erkenne.«
»Macht das. Entschuldigt mich nun, Herrin, ich muss mich um die Situation kümmern, ich weiß noch nicht so recht, was wir jetzt tun sollen.« Die Heilerin wandte sich ab, aber Mehmood hielt sie zurück.
»Ihr sagtet »Herrin«! Warum?«
Die Heilerin zögerte sichtlich. »Ihr scheint ja wirklich Euer Gedächtnis verloren zu haben. Ihr seid Julana von Trauk, Tochter des Protektors von Trauk. Ihr seid die Erbin des Protektorats Trauk. Wir kennen uns, da ich Euch in einer Angelegenheit … beraten musste.« Die Heilerin warf einen schnellen Blick auf Fergorn. Offenbar hielt sie bestimmte Informationen zurück. Mehmood wurde neugierig.
»Sagt Eurem Vorgesetzten, ich bin in Ordnung und vielen Dank für Eure Hilfe«
Fergorn verneigte sich und stiefelte davon.
Mehmood musterte die Frau. »Könnt Ihr mir nicht helfen, mein Gedächtnis aufzufrischen? Ich komme mir so hilflos vor«, sagte Mehmood und ergriff ihre Hand. Die grünen Augen der Heilerin sahen ihn nun auf andere Weise an. Er begutachtete das rötlich schimmernde, dunkle Haar, das ihr in zwei dicken Zöpfen über die Schultern fiel, und ließ seinen Blick an den gut proportionierten Rundungen entlang gleiten. Sie war von der weiblich-üppigen Sorte, für die Mehmood eine Vorliebe hatte. Außerordentlich viele Sommersprossen waren auf der hellen Haut ihres Gesichts und auf ihrem Dekolletee verteilt. Er lächelte sie an und streichelte ihr aufmunternd über die Hand.
Die Heilerin schürzte amüsiert die Lippen. »Ihr habt unsere letzte Begegnung wohl nicht vergessen, was?«
Julana hat Geschmack, das muss ich ihr lassen!
»Leider doch. Mir scheint, dass ich dies bedauern muss. Wie lautet Euer Name?«
Sie begutachtete erneut die Stirnwunde und lehnte sich vertraulich herüber. »Nenn mich Meran!« Ihre zarten Finger fuhren über Gesicht und Hals der vermeintlichen Eishexe, während sie vorgab, die Verletzung zu untersuchen. »Ich glaube, ich sollte mich persönlich um dich kümmern. Komm, ich wasche deine Wunde.«
Nur zu!
Mehmood ließ sich von der Heilerin in einen Nebenraum mit Becken und Frischwasserzulauf führen. Meran wusch die Wunde mit einem Mittel aus und reinigte danach das Gesicht der Eishexe behutsam mit Wasser und einem weichen Tuch. Mehmood spürte eine gewisse Spannung zwischen ihnen wachsen und versuchte, sich die offenkundige Zuneigung der Heilerin zunutze zu machen, um endlich an Informationen zu kommen.
»Erzähl mir, Meran, was ist hier geschehen?«
Sie legte das Tuch beiseite und seufzte. »Wir haben versucht, die Sidaji zu heilen, doch kein Mittel zeigte einen Erfolg. Ihr Tod war nur eine Frage der Zeit. Die Gottkaiserin befahl unserer Herrin Wira hierher zu kommen, und die Situation zu beobachten. So bist du ebenfalls an diesen Ort gekommen. Heute Nacht, vor wenigen Stunden erst, verschwanden die Sidaji in einem grünlichen Nebel, der uns alle betäubt hat. Dabei musst du gestürzt sein. Keiner weiß, was geschehen ist, es ist jedoch klar, dass diese Missgeburt Charna und ihre Feuerteufel dahinter stecken, nicht wahr? Es wird Zeit, dass Jenara den Frieden nach Kabal bringt und diese elende Verräterin und ihr abscheuliches Gefolge zurück in die Flammengrube schickt, aus der sie gekrochen sind. Ich werde Wira von deinem Gesundheitszustand berichten. Sie wird weitere Anweisungen für uns haben.«
Mehmood überlegte eilig. Wira, die Königin des Frostturms und Trägerin der Kristallschwerter war hier! Sicher war sie bereits auf der Suche nach Artefakten. Es mochte überlebenswichtig sein, herauszufinden, ob sie schon fündig geworden war.
»Du hast recht. Ich sollte Wira Bericht erstatten, sobald es geht.«
Meran musterte sie überlegend. »Wie du wünschst. Du solltest jedoch deine Kraft schonen. Ich werde Wira für dich suchen. Wer weiß, wo sie nun ist, bei all dem Durcheinander. Kommt, ich finde ein ruhiges Plätzchen für dich, wo jemand in der Nähe ist, der einen Blick auf dich werfen kann.«
Spüre ich da so etwas wie Misstrauen? Will sie mich überwachen lassen? Nun, sie ist Heilerin und an Julana interessiert. Vielleicht ist es nur Sorge um das Wohlergehen ihrer möglichen Liebhaberin. Oder spielt sie mit mir, wie ich mit ihr? Ich muss aufpassen!
Meran geleitete sie zu einer Nische, in der ein Schreibtisch und ein Stuhl bereitstanden. Sie beugte sich weit herab, was Mehmoods Aufmerksamkeit auf ihren Ausschnitt lenkte.
»Nicht weglaufen! Ich sage jemandem Bescheid, damit er deinen Zustand im Auge behält. Ruh dich ein bisschen aus!«
Mehmood nickte lächelnd, während Meran aus der Halle verschwand. Wenn es ihm gelang, in die Nähe Wiras zu kommen, mochte dies ein entscheidender Vorteil sein. Als Meran nach einer halben Stunde immer noch nicht zurück war, wurde er allmählich nervös, doch dann kehrte Meran zurück. Sie wirkte angespannt und setzte ein dünnes Lächeln auf, als sie Mehmood ansah.
»Wira will dich augenblicklich sehen. Es scheint, du warst mit einer wichtigen Aufgabe betraut. Sie will dich in der Nähe haben. Ich habe ihr von deinem Gedächtnisverlust erzählt, aber sie kennt solche Vorfälle bei Trägern des Kurakpor und ist überzeugt, dass du in wenigen Stunden dein Gedächtnis zurückerlangt hast. Bis dahin sollst du sie begleiten, um auf dem Laufenden zu bleiben.«
Perfekt.
»Ich fühle mich auch schon wieder ganz gut. Ich bin mir sicher, dass es mir bald besser geht«, sagte Mehmood und stand auf, um sich von Meran zu Wira bringen zu lassen.
Sie verließen die muffige Krankenhalle, über der der Geruch der sterbenden Sidaji hing wie ein Leichentuch, und erreichten nach einigen Minuten ein flaches Gebäude, das einen unscheinbaren Eingang auf der Rückseite hatte. Treppen führten in steilem Winkel in eine von nur wenigen Lampen schwach erleuchtete Kammer, die sich weit vor Mehmood ausdehnte. Es handelte sich um eine Begräbnisstätte, die von zahlreichen Sarkophagen und Urnen ausgefüllt wurde. Sie erreichten Wira am anderen Ende der Kammer, wo sie vor einem steinernen Tor stand, umgeben von drei Eishexen und fünf Leibwächtern. Die Eishexen warfen ihr flüchtige Blicke zu und Wira ignorierte sie im Moment vollständig, da sie dem Bericht einer Eishexe mit verletztem Arm lauschte.
Wira war eine außergewöhnlich große Frau mit langen, drahtigen Gliedmaßen. Sie überragte alle Anwesenden und strahlte eine Überlegenheit aus, die über ihre körperliche Erscheinung hinaus ging. Sie trug eine leichte Rüstung aus Leder und wattiertem Stoff in dunkelblauen und grünen Farbtönen. Ihr Haupthaar war kurzgeschoren wie bei einem Soldaten und von einem hellen Blondton. Sie hatte keinerlei Schmuck, was Mehmood auffällig fand. Die legendären Kristallschwerter trug sie griffbereit auf dem Rücken. Sie rührte sich nicht und stand schweigend mit überkreuzten Armen in der Mitte der Gruppe. Er lauschte den Worten der Eishexe, doch er konnte dem Bericht keine Neuigkeiten entnehmen. Wira schickte die verletzte Sjögadrun mit einem Leibwächter fort und drehte sich zu Mehmood und Meran um. Sie hatte eisblaue Augen von leuchtender Farbe. Ihr Blick war so kalt wie das Wasser des Firahun-Sees, der ihren Herrschaftssitz umgab. Mehmood fühlte sich gehäutet und filetiert, bevor Wira das erste Wort an ihn richtete.
»Julana. Dein Gedächtnisverlust kommt äußerst ungelegen. Ich nehme an, du hast keinen blassen Schimmer von der Aufgabe, die ich dir gestern erteilt habe?«
»Leider nicht, meine Königin.«
Wira lächelte amüsiert. »Etwas Gutes hat dieser kleine Unfall zumindest hervorgebracht. Du hast deine Manieren zurückerlangt.«
Was ist so komisch an dieser Situation? Alles, vermutlich.
»Ich hoffe, ich stehe euch bald wieder vollständig zur Verfügung.«
Wiras Augen blitzten grausam auf. »Das wäre ein Vergnügen, das ich seit zu vielen Tagen vermisse«, sagte sie und ließ ihren Blick langsam an Julanas Gestalt herabgleiten.
Julana, dein Leben möchte ich nicht führen müssen.
»Meran sagte mir, ich solle in eurer Nähe bleiben.«
Wira trat näher an sie heran und sah herab. »Ganz nah bei mir«, flüsterte sie.
Mehmood schluckte.
»Wie ihr wünscht, meine Herrin.«
Bilde ich mir das nur ein, oder ist sie noch widerwärtiger, als Seral mir berichtet hat?
Wira lächelte und schickte Meran mit einem Blick fort.
»Wie stehen kurz davor, dieses Tor zu öffnen. Es führt zu einer Kammer, die ein Artefakt der Sidaji enthält, dessen Macht wir nur vage schätzen können. Es handelt sich um ein Schmuckstück, angeblich eine Krone, mit dessen Hilfe man das Wetter an einem Ort kontrollieren kann. Der Träger beherrscht Sturm und Blitz und kann diese mit verheerender Wirkung über ganze Landstriche ziehen lassen. Die Sidaji nutzten das Artefakt im Krieg, um die Küsten Grandtals von sämtlichen Häfen und Befestigungen zu reinigen. Der Verlust an Menschenleben war enorm. Ganz zu schweigen von den Ausfällen an Kriegsgerät.«
Wira nickte den Eishexen zu und überkreuzte ihre Arme erneut. Die beiden Frauen nahmen Aufstellung um das Tor herum und hielten ihre Hände weit von sich gestreckt. Mehmood spürte die Kräfte des Wasserelementes, die sich um sie sammelten. Die Eishexen intonierten einen leisen Singsang in einer alten, kehligen Sprache der Frostvölker, deren rauer Klang einen Schauer über Mehmoods Rücken sandte.
Blau leuchtendes Eis überzog das Tor und kalter Nebel waberte in die Kammer zurück. Die Hexen rissen mit einem Aufschrei ihre Arme zurück und das Tor zerbrach lautstark in viele Stücke. Mehmood hielt sich die Hände schützend vor das Gesicht, als Steinbrocken und Staub in seine Richtung flogen. Das magische Eis hatte das massive Tor vollständig zerstört. Es musste von enormer Stabilität gewesen sein, denn die Eishexen wirkten erschöpft bis an die Grenze der Ohnmacht. Einer knickten die Knie ein, doch ein Leibwächter war zur Stelle, um sie aufzufangen.
»Bringt sie zu den Heilern! Ihr beiden bleibt hier! Sichert den Eingang!«
Wiras Befehle kamen mit der Stimmgewalt eines Heerführers, präzise, deutlich. Mehmood hatte nicht gewusst, dass die Königin des Frostturms eine Frau wie Wira war. Er hatte eher eine Dame in wertvollen Kleidern vermutet, nach allem, was Seral ihm erzählt hatte. Diese Person war jedoch ein militärischer Führer, eine Autoritätsperson wie Mikar, der seine Mikarianer bereits vor Jahrhunderten in zahlreiche Schlachten geführt hatte. Mehmood fragte sich, seit wann Wira Königin des Frostturms war, denn sie war keine von den alten Unsterblichen, wie Thanasis oder gar Cendrine.
»Folge mir!«, sagte sie zu Mehmood und schritt durch das Tor.
Mehmood war nervös. Wenn die Sidaji hier ein Artefakt lagerten, war es dann nicht möglich, dass sie es mit Fallen und tödlichen Vorrichtungen geschützt hatten? Sie betraten eine staubige Kammer, die von einigen Lampen an der Wand erleuchtet wurde. Es handelte sich um ein künstliches Licht, dessen Herkunft und Wirkungsweise Mehmood nicht kannte. Links und rechts waren Nischen eingelassen, die bronzene Sarkophage bereithielten. Schrifttafeln, bedeckt mit den charakteristischen Schriftzeichen der Sidaji, leuchteten aus dem Inneren heraus. Der Staub des gesprengten Tors glitzerte in der Luft. Wira trat ans Ende der Gruft und vor eine Säule, auf der eine metallene Krone ruhte, deren Form und Beschaffenheit eigentümlich wirkten, aber nicht unbedingt an die Maschinen der Sidaji erinnerten. Mehmood konnte nicht zulassen, dass Wira Besitz von diesem Artefakt ergriff. Er musste etwas tun.
»Möglicherweise sollten wir vorsichtig damit sein. Es kann eine Falle auslösen, wenn wir das Artefakt ergreifen.«
Wira ging vor der Säule in die Hocke und begutachtete die Krone aus mehreren Winkeln.
»Du magst richtig liegen. Hol Firuh! Sie ist bei den Heilern und lässt ihren Arm versorgen. Nimm eine der Wachen mit! Ich warte hier.«
Das ist meine Gelegenheit. Die Wache kann ich spielend überwältigen. Ich hole Hilfe und gemeinsam besiegen wir Wira. Dann ist das Artefakt unser!
»Wie ihr wünscht, meine Königin.«
Wira winkte ungeduldig mit der Hand und beschäftigte sich wieder mit der Krone. Mehmood trat vor die Tür und auf eine der Wachen zu. Der Mann wirkte müde und hatte ein verbundenes Handgelenk, was Mehmood gerade recht kam.
»Wira befiehlt, dass wir Firuh holen.«
Der Mann nickte und rieb sich die Augen.
»Ich führe euch hin, Herrin.«
Mehmood folgte dem Wächter bis auf den Weg und wartete, bis sie an einem Hauseingang vorbeikamen, dessen Torbogen still und verlassen wirkte. Er sprang beinahe lautlos in die Höhe, und bevor der Mann sich umdrehen konnte, hatte Mehmood seinen Ellenbogen auf dessen Hinterkopf herabsausen lassen. Der Wächter fiel kraftlos in Mehmoods Arme und er schleifte die schlaffe Gestalt in den Hauseingang. Er verknotete die Hände des Mannes mit einem dicken Riemen aus dessen Rüstung und knebelte ihn. Die Füße band er schnell mit dem Waffengurt zusammen. Es war nicht perfekt, aber Eile war geboten.
Er verwandelte sich in eine ilanische Fledermaus und erhob sich flatternd in die Luft. Irians Licht warf lange Schatten über das Gelände, doch die Fähigkeiten des Tieres halfen ihm, sich schnell zu orientieren. Er fand den Thronsaal in wenigen Minuten und ließ sich zu Boden fallen, seine eigene Form annehmend. Er hetzte durch den Korridor und erreichte die Unterkünfte der Delegation aus dem Tempel. Eine Priesterin trat in Abwehrhaltung und mit Flammen auf den Handflächen aus dem Baderaum.
»Oh, ihr seid es!« Sie ließ die Flammen vergehen und nickte Mehmood zu.
»Wo ist Thanasis?«
»Der Herr Thanasis ist aufgebrochen. Ich wache hier über den Leib der Eishexe, die ihr gefunden habt.«
»Ist Charna oder Kassandra in der Nähe?«
»Nein, aber ich bin da!«
Cendrine trat aus dem Flur ins Zimmer, voll gerüstet und mit der Sengenden Klinge auf dem Rücken.
Mehmood atmete erleichtert auf. »Wir müssen sofort aufbrechen. Wira hat in einer Grabkammer eines der Artefakte entdeckt und ist im Begriff, es in Besitz zu nehmen. Wir können sie überwältigen und es ihr entreißen. Es ist angeblich eine Art Krone, mit der man das Wetter kontrollieren kann.«
Cendrine sah zu der Priesterin. »Bewache die Sjögadrun!«
Die Priesterin nickte und zog sich in den Baderaum zurück.
»Los!«, sagte Cendrine und Mehmood verließ rasch mit ihr das Gebäude. Sie liefen im Schatten und versuchten, kein Aufsehen zu erregen. Er rannte aus Leibeskräften, doch Cendrine hatte keine Mühe, ihn mit Worten zur Eile anzutreiben. Er hatte den Eindruck, dass sie überhaupt nicht atmen musste. Wenige Minuten später waren sie an dem Punkt, wo er die Wache niedergeschlagen hatte und er vergewisserte sich schnell, dass der Mann noch bewusstlos war.
»Weiter!«, flüsterte Cendrine und sie hetzten geschwind hinter das Gebäude, wo die Treppe hinab in die Begräbnisstätte führte.
Die Äbtissin zog die Sengende Klinge und bedeutete Mehmood, hinter ihr zu bleiben. Sie drang lautlos vor und war in Windeseile am Durchgang zur Gruft angelangt. Mehmood erreichte die Kammer einen Augenblick später und sah niemanden in dem Raum. Wira war verschwunden, ebenso die Wache, die hier eigentlich hätte sein sollen. Die Krone lag auf der Säule.
»Das Artefakt ist an Ort und Stelle. Ich vermute eine Falle oder einen tödlichen Mechanismus.«
Cendrine trat an die Säule und packte die Krone mit einer Hand. »Das ist kein Artefakt.«
»Sehr richtig.« Wiras Stimme ertönte hinter Mehmood und Cendrine. Sie wirbelten herum, Mehmood zog seinen Dolch und Cendrine erhob die Sengende Klinge. Wira hielt eine ihrer Kristallklingen in der Linken und in der Rechten trug sie ein Zepter, das verdächtig glühte und in Aufmachung und Materialeigenschaften an die Maschinenwächter erinnerte. Es musste sich um ein echtes Artefakt handeln.
»Wira. Gib mir das Zepter und du lebst. Versuche, es zu behalten und du stirbst«, sagte Cendrine gelassen. Wira schluckte und wirkte nicht so besonnen, wie zuvor. Cendrines Stimme war leise und ruhig, so selbstsicher, dass Mehmood einen kurzen Blick auf Cendrine werfen musste. Legenden sprachen von ihren Taten, Sagen älter als die Frostreiche. Cendrine war so alt wie Sarinaca - und hatte sie wahrscheinlich sogar überlebt. Man legte sich nicht unüberlegt mit ihr an. Wira hatte Mut, ihr mit einem Artefakt der Sidaji entgegenzutreten, von dem sie womöglich nicht einmal wusste, wie man es richtig bediente. Andererseits waren sie blindlings in eine Falle gelaufen und Mehmood wusste nicht, was er nun tun sollte.
Wira biss sich leidenschaftlich auf die Unterlippe und musterte Cendrine vergnügt. »Ich glaube nicht.« Sie stieß das Zepter vor.
Cendrine war so schnell, dass Mehmood ihre Bewegung nur als Schemen erkennen konnte. Dann blitzte es grell auf und ein Aufschrei hallte durch die Grabkammer. Als Mehmood die geblendeten Augen öffnete, schwebte Cendrine einen Schritt hoch in verkrümmter Haltung über dem Boden. Sie war in einer bläulich schimmernden Blase gefangen, von deren Wänden pausenlos Blitze nach innen und in den Körper der Äbtissin schlugen. Die Sengende Klinge war fort. Sie gab erstickte Laute von sich und zitterte wie in einem Krampf am ganzen Körper.
Mehmood stürzte sich mit unbändiger Wut auf Wira, doch seine Attacke wurde abgewehrt wie der Angriff eines Anfängers. Sein magischer Dolch schlug funkenschlagend auf Wiras Kristallschwert ein, trotzdem parierte sie spielend mit ihrer Linken und hielt Cendrine mit dem Zepter in Schach. Mehmood schrie vor Wut und versuchte einen Tritt gegen Wiras Knie anzubringen, doch sie wich mit einem schnellen Schritt aus und ritzte Mehmoods Arm fingertief auf. Heißes Blut strömte aus der Wunde und Mehmood sah zähnefletschend in das Gesicht der Königin des Frostturms, die ihn mit einem vergnügten Ausdruck bedachte, der nicht weit davon entfernt war, irre zu wirken.
Sie verarbeitet mich zu Hackfleisch. Mit der Linken! Ich muss Zeit schinden und hoffen, dass jemand zur Hilfe eilt!
Mehmood wechselte in eine Abwehrhaltung und erstarrte, als Gorak den Raum betrat.
Und ich dachte, es könnte nicht mehr schlimmer kommen.
Der Barbar warf einen abfälligen Blick auf ihn und grinste, als er Cendrine betrachtete.
»Da hast du einen hübschen Fang gemacht.«
Wira behielt Mehmood im Auge und antwortete mit einem Unterton in der Stimme, der ihn frösteln ließ. »Mein Vater angelte gern im Firahun. Ich sah ihm stundenlang dabei zu. Ich liebte es, wenn die Fische am Haken zappelten, die Augen weit aufgerissen.«
Die hat sie nicht mehr alle!
Mehmood schluckte und kämpfte seine Angst nieder. Der Barbar zog sein Schwert und richtete seinen Blick auf Mehmood.
»Mein Vater hat gern geschlachtet.«
Mehmood lachte nervös. »Und meine Mutter kocht tollen Tee. Seid ihr jetzt fertig?«
Gorak zog eine amüsierte Grimasse und schwang seine schwere Klinge in einer schnellen Attacke gegen Mehmoods Dolch. Das imposante Schwert des Barbaren schlug ihm beinahe den Griff aus der Hand und er wich geschwind zurück.
Und ich dachte, hier ginge es um Diplomatie.
Mehmood versuchte, näher an den Ausgang zu kommen, doch Wira schnitt ihm den Weg ab.
»Mach ein Ende mit ihm, er ist uns nur im Weg«, sagte sie zu Gorak.
Dieser grinste noch breiter und ließ eine Folge heftiger Schläge auf Mehmoods Dolch niedergehen. Aber Mehmood wartete ab und trat in den Bauch des Barbaren, als dieser glaubte, er hätte die Verteidigung seines Gegners überwunden. Mehmood setzte sofort nach und ließ seinen Dolch über den Schwertarm des Barbaren fahren. Die magische Klinge hinterließ eine schwere, stark blutende Wunde und Gorak schrie auf. Nun grinste Mehmood, doch der Barbar wechselte seine mächtige Klinge einfach in die linke Hand und drang mit gleicher Kraft auf ihn ein. Diesmal konzentrierte sich Gorak. Nochmal würde er Mehmood nicht unterschätzen.
Die Schläge sausten in schneller Folge auf den Dolch nieder, welcher der Gewalt des Angriffs nicht viel entgegenzusetzen hatte. Mehmood stolperte immer weiter zurück und stieß mit dem Rücken an die Wand zwischen zwei Begräbnisnischen. Sein Arm schmerzte unter den Hieben, und als er eine Finte des Barbaren zu spät erkannte, drang dieser erbarmungslos durch die Abwehr seines unterlegenen Gegners.
Gorak rammte sein Schwert in Mehmoods Bauch, bis die Klinge auf der anderen Seite herausstach und zitternd im Mauerwerk aufschlug.
Der Stahl der Barbarenklinge kratzte an seinen Rippen, dem Rückgrat und durchschnitt alles, was dazwischen lag.
Er spuckte Blut.
Gorak drehte den Stahl in der Wunde und Mehmood schrie, als der Barbar sie langsam herauszog. Er fiel zu Boden, fühlte das Bewusstsein schwinden und sah im letzten Augenblick, wie Gorak und Wira die Gruft verließen. Cendrine starrte entsetzt und mit schmerzhaft verzogenem Gesicht zu Mehmood hinüber.