Kapitel 6
Die schwüle Hitze des Sumpflandes schlug Thanasis entgegen wie ein feuchtwarmes, schmutziges Handtuch, das sich lästig und klebrig um einen legte. Idrak war zwar heißer, doch sehr viel trockener. Hier hingegen musste man sich bemühen, die schwere, von den Gerüchen des Sumpfes geschwängerte Luft in die Lungenflügel hinein zu quälen. Er verabscheute die allgegenwärtige Feuchtigkeit, die kleinen bissigen Fliegen, das herumkriechende Getier, die giftigen Pflanzen und die ständigen Regengüsse. Er schnaubte verächtlich, als ein kleines Insekt um seine Nüstern flog und ihn kitzelte.
Kassandra drehte sich zu ihm um und lachte. »Wenn du dich nur sehen könntest!«
Thanasis ärgerte sich. Musste Kassandra ihn nun zusätzlich reizen? Er zuckte erstaunt zusammen, als sie plötzlich seine Hand ergriff. Die Frau, die er über alles liebte, berührte ihn seit drei Jahren zum ersten Mal.
»Ich hatte nicht vor dich zu ärgern, verzeih mir!«, sagte sie und sah lächelnd zu ihm auf. Thanasis umschloss ihre Hand fest. Er hatte fast vergessen, wie klein und zart ihre Finger waren, und lockerte seinen Griff augenblicklich. Ein Stein fiel von seinem Herzen, so gewaltig groß, dass er die Sorgen der Gegenwart mit sich riss. Thanasis atmete erleichtert auf. Er spürte einen Mut zurückkehren, den er lange Zeit vermisst hatte.
Sie erreichten den Haupteingang des flachen aber sehr ausgedehnten Geländes, das den Palast der Sidaji beherbergte. Die Echsen bevorzugten hellen Stein und glänzende Metalle, die sie meisterhaft zu bearbeiten wussten. Von Schlingpflanzen bewachsene Pergolen und offene, treppenartige Strukturen, die zum Ausruhen und Entspannen einluden, beherrschten die Architektur der geschuppten Wesen. Von den erkrankten Echsen waren zurzeit keine zu sehen. Die Atmosphäre der Einsamkeit und Stille wurde nur von zahlreichen Lauten exotischer Vögel unterbrochen, die auf dem Palastgelände lebten.
Die Maschinenwächter der Sidaji verrichteten jedoch ihren Dienst. Die mächtigen, schlangengleichen Körper ruhten eingerollt links und rechts des Torbogens, der das Zeichen der Sidaji trug. Ihre Schuppen funkelten metallisch im Licht der Sonne. Sie erhoben sich und begutachteten die herannahende Gruppe. Sie neigten das Haupt, als Charna vor sie trat, und ließen alle bis auf Mehmood passieren. Ihre Köpfe ruckten vor und stießen gefährlich klingende Zischlaute aus.
Mehmood blieb stehen und hob seine Hände. »Immer mit der Ruhe«, sagte er beschwichtigend.
»Kein Einlass!«, zischte einer der Wächter.
Charna trat hinzu und stellte sich vor den Maschinenwächter. »Warum?«
»Identifikation nicht möglich.«
»Es ist Mehmood, Gesandter des Herrn des Namenlosen Abgrunds, Seral. Er ist in meiner Begleitung gekommen und wird nun passieren. Ich dulde keine weitere Verzögerung!«
»Kein Einlass!«, zischte der Wächter erneut.
Charnas Augen leuchteten gefährlich auf. Sie griff mit den Händen in die Luft und stieß sie hinab. Die Wächter wurden in einem Aufkreischen protestierenden Metalls flach in die unter dem Druck zerknirschende Pflasterung gedrückt. Blitze und kleine Explosionen zuckten aus den zerstörten Maschinen. Seraphia, Mehmood und die Priesterinnen und Diener der Delegation des Ordens schrien erschrocken auf. Der Rest der Gruppe war unbeeindruckt und setzte den Weg fort.
»Ich hatte noch nie viel für Maschinen übrig«, murmelte Faunus und zuckte die Schultern.
»Wir haben keine Zeit für so etwas«, sagte Charna gereizt und ging zielstrebig auf die Tore zum Thronsaal zu. Weitere Maschinen schossen aus den umliegenden Gärten auf sie zu.
»Das kann doch nicht wahr sein!«, rief die Hohepriesterin wütend.
Im gleichen Augenblick öffneten sich die Tore zum Thronsaal. Die mechanischen Wächter hielten inne, als eine gebeugte Gestalt in einem Umhang hustend einen leisen Befehl gab. Grafaar, der Hauptmann der Tempelgarde eilte ihnen mit einigen Wachen des Ordens entgegen und sicherte die ankommende Gruppe schnell und effizient. Die Maschinenwächter entfernten sich.
»Wir haben nicht so bald mit Euch gerechnet«, sagte Grafaar entschuldigend, doch Charna winkte ab.
Miraar, die Ordensschwester, die vor Ort verblieben war, stützte die Gestalt im Umhang, die im Eingang zum Thronsaal auf die Gruppe wartete und den Maschinenwächtern den Befehl zum Rückzug gegeben hatte. Das Wesen trat stolpernd ins Licht. Es war ein Sidaji in erschreckendem Zustand. Schuppen fielen von seiner Haut, ein Auge war erblindet und er zitterte stark. Nässende Wunden in seinem Gesicht waren schrecklich anzusehen.
Seraphia lief mit einem Aufschrei zu der Gestalt, die sich kaum auf den Beinen halten konnte. »Tsark!«
Das Ratsmitglied der Sidaji hustete. »Seraphia!«
Charna trat vor und Tsark schien sie erst jetzt zu erkennen. Er versuchte, sich zu verbeugen. Er wankte dabei so heftig, dass Charna seinen Arm ergriff.
»Ich danke euch, Tsark. Wir sollten hineingehen, damit Ihr Euch ausruhen könnt.«
Die Delegation folgte dem humpelnden Sidaji ins Innere. Thanasis sah sich um. Der Thronsaal war ein runder Saal, der unter einer sehr flachen Kuppel erbaut war, die kaum zehn Schritt in die Höhe ragte. Ein abgesenkter Boden wurde von einer Sitzreihe umrundet und ein erhöht positionierter Thron lag dem Eingang gegenüber. Der Raum war verlassen und ein abgestandener Geruch lag in der Luft. Der Sidaji führte sie einen Seitengang entlang zu einer kleinen Halle. Ein langer Tisch und viele Stühle standen bereit.
»Wir werden uns morgen zur achten Stunde im Thronsaal versammeln. Das heißt, Eure Delegation und die Vertreter der Frostreiche, die vor Euch eingetroffen sind, sowie meine Wenigkeit. Hier könnt Ihr Euch vorher beraten. Lasst mich Euch Eure Zimmer zeigen.«
»Was ist mit den anderen Sidaji?«, fragte Charna.
»Ich bin der Letzte, der noch auf zwei Beinen stehen kann«, sagte Tsark und hustete erneut. Blut lief aus einem seiner Mundwinkel und er wischte mit einem Tuch hastig, aber mit fliegenden Fingern darüber.
»Bei allem Respekt gegenüber Eurem Gesundheitszustand, Tsark. Ich glaube nicht, dass wir bis morgen warten sollten«, sagte Charna.
Tsark drehte sich zu ihr um. »Die Lage ist mir bewusst. Die Chancen stehen jedoch nicht schlecht, dass die Heiler nun doch ein Heilmittel gefunden haben. Ich muss Euch nicht erklären, welchen Einfluss das auf die Situation haben könnte. Ich werde noch bis morgen durchhalten, das verspreche ich Euch.«
Charna sah den Sidaji zweifelnd an. »Wenn nicht, welche Pläne haben die Sidaji dann?«
»Welche Pläne sollten wir haben? Wir haben lange genug den Puffer gespielt. Ihr könntet die Ansprüche Jenaras genauso gut anerkennen, um diesen Zwist zu beenden. Das ist nicht unser Problem. Wir sterben, Charna. Meine ganzes Volk. Hinweggewischt! Was kümmert mich der kleinliche Kampf um Macht und Vorherrschaft, den der Orden mit den Frostreichen führt?«
Charna starrte den Sidaji an. »Ich verstehe. Es tut mir leid.«
Tsark ließ gereizt seine gespaltene Zunge hervorschnellen. »Erst jetzt taucht Ihr hier auf. Und Jenara, diese verdammte Hexe.«
»Ihr seid ungerecht. Es ist die Krankheit, die Euch wütend macht«, sagte Charna leise.
Tsark atmete schwer und winkte ab. »Ihr habt natürlich recht. Ihr hättet nicht kommen dürfen, es wäre ein Bruch des Friedensvertrags gewesen. Eure Heiler haben sich redlich bemüht, so wie die Heiler der Frostreiche und des Grafen von Asla. Die Ausweglosigkeit der Situation lässt mich jedoch verbittern. Und das ist nichts, für das ich mich entschuldigen werde.«
Charna nickte. Tsark führte sie in einen Gang, der nach rechts führte. Sie folgten ihm und er wies auf die Türen.
»Hier ist Eure Zimmerflucht. Die Delegation der Frostreiche ist dort drüben«, er wies in den linken Gang, »Haltet den Frieden vor Ort ein! Ich kann die Wächter vielleicht nicht noch einmal zurückhalten. Irgendetwas stimmt nicht mit ihnen, doch es ist keiner mehr in der Lage, sich darum zu kümmern.«
»Meine Priesterinnen begleiten Euch zurück …«, sagte Charna, doch Tsark winkte ab und entfernte sich humpelnd. Charna erteilte ein paar einfache Anweisungen an die Ordensschwestern und Diener, die daraufhin die Räume vorbereiteten.
Thanasis trat an Charna heran. »Ich könnte mich mal unauffällig umsehen.«
»Wir wollen keinen Zwischenfall provozieren, auch wenn du vor den Augen der Eishexen verborgen bleiben würdest. Wir werden abwarten.«
Thanasis war nicht einverstanden, aber er respektierte Charnas Urteil und nickte. Die Priesterinnen verteilten das Gepäck auf die Zimmer.
»Wo darf ich Euer Gemach einrichten, Herr?«, fragte eine junge Priesterin, die Thanasis einzige Tasche trug.
»Hier drüben«, sagte Kassandra. Sie stand an einer offenen Tür und ließ den Diener, der ihr Gepäck hielt herein. Die Priesterin neben Thanasis verbeugte sich und schleppte seine Tasche in das gleiche Zimmer. Kassandra lächelte ihn an.
Sie hat mir tatsächlich verziehen.
Er verscheuchte die Priesterin und den Diener und schloss die Tür hinter ihnen.
Allein mit ihr. Das erste Mal seit …
Er trat zu ihr und sah sie an, bis sie den Blick zu Boden senkte. Er hob ihr Kinn und sah ihr in die Augen. Sie waren voller Tränen.
»Ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte dir vertrauen sollen, doch …«
Thanasis ließ sie nicht aussprechen. Er hob sie vom Boden und presste sie an sich. Kassandra umklammerte ihn und legte die Hände auf sein breites Gesicht.
»Ich liebe dich!«, sagte sie und tränen flossen über ihre Wangen, doch sie lachte dabei.
Thanasis hielt sie in einem mächtigen Arm und wischte ihr vorsichtig über die Wangen. Sie umklammerte seine Hand fest und legte ihr Gesicht hinein.
»Lass uns nie wieder aneinander zweifeln!«, sagte sie.
»Ich habe nie an dir gezweifelt, Sandra.«
Kassandra sah ihn schuldbewusst an. »Es tut mir so leid. Der Schmerz ihres Verlustes hat mich blind gemacht.«
Thanasis legte ihr einen Finger über den Mund. Er trug sie zum Schlafzimmer, dass in der Art der Echsen eine in den Boden eingelassene Schlafstatt bereithielt. Er wollte sie absetzen, doch Kassandra küsste ihn auf seinen breiten Mund. Er erwiderte ihren Kuss und bald zerrten sie sich die Kleidung vom Leib. Die Lust und Sehnsucht von drei Jahren entlud sich in einem Sturm, der sie beide mit sich riss. Kassandra sog seinen Duft ein und drückte ihn auf den Boden, wo er sich auf den Rücken legte. Sie glitt an ihm herab und ihr Mund fand sein Ziel. Thanasis stöhnte laut auf und Kassandra kicherte leise. Sie hielt einen Moment inne, um sprechen zu können. »Das hat der halbe Palast gehört«, sagte sie mit einem bösen Lächeln und fuhr fort, bis Thanasis unterdrückt grunzte, dann krabbelte sie über seinen titanenhaften Körper, bis sie sich auf seinem muskulösen Bauch abstützen konnte. Sie ließ sich ohne Eile auf ihm nieder. Kassandra genoss still. Sie verschlang ihn mit den Augen, während sie langsam auf ihm ritt. Sie lächelte und beugte sich vor, stützte sich auf seinem breiten Brustkorb ab. Thanasis sah sie wie zum ersten Mal. Sie hatte sich verändert, doch sie war die Frau, die er seit Jahrhunderten liebte, vergötterte. Sie küssten sich lang und intensiv. Er erreichte seinen Höhepunkt mit einem Aufbrüllen, dass einen Moment später eine erschrockene Anfrage aus dem Flur hervorrief.
»Alles ist bestens!«, rief Kassandra lachend und fuhr fort, bis sie leise aufstöhnte. Er zog sie zu sich und sie kuschelte sich in seine Arme.
»Verdammt! Wie habe ich das vermisst!«, sagte sie und äußerte einen Laut des Genusses, den Thanasis zu lange nicht gehört hatte.
»Und ich erst!«, sagte er.
Sie schliefen danach ein, erschöpft von einer jahrelangen Anspannung, die nun endlich nachließ. Thanasis erwachte erst spät in der Nacht. Obols Sichel war nicht zu sehen, aber Irian, der größere Mond Kabals war aufgegangen und warf sein grünes Licht auf die Landschaft und durch das Fenster in Thanasis Gesicht. Kassandra schlief in seiner Armbeuge und er hatte Mühe, die Augen aufzubekommen.
Irgendetwas stimmt nicht!
Er versuchte, Kassandra nicht zu wecken, doch sie war so tief in das Reich der Träume versunken, dass er einen Moment ihre Atmung beobachtete, um sicher zu sein, dass sie lebte. Seine Augenlider wurden dabei schwer. Thanasis schüttelte sein Haupt und erhob sich schwankend.
Was ist los mit mir?
Er torkelte benommen zum Fenster und sah hinaus. Grünlicher Nebel waberte durch den Palasthof. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass es nicht Irians Licht war, das den Nebel einfärbte. Der Nebel selbst war grün!
»Sandra? Wach auf!«
Er drehte sich um und stolperte zu Kassandra zurück. Er rüttelte vorsichtig an ihrer Schulter, dann stärker.
Wir sind betäubt, verdammt!
Thanasis schüttelte seinen Kopf und trat an die Tür. Er horchte.
Alles still … halt! War da etwas?
Er wollte die Tür öffnen, doch sie war von außen verriegelt. Mit einem ungeduldigen Grunzen drückte er sie aus der Wand. Teile des Mauerwerks polterten auf den Flur. Thanasis sammelte sich einen Moment schwankend und wartete auf die Alarmschreie, aber nichts geschah. Der grüne Nebel lag überall in der Luft. Mit einem Gefühl wie Watte im Kopf trampelte er durch den Korridor und zehrte die nächstbeste Tür auf. Da diese ebenfalls verriegelt worden war, riss er die Türzarge mit heraus. Er stellte Tür und Zarge vorsichtig an die Wand.
Ich verbreite schon wieder Chaos. Ich muss endlich meinen Kopf klar bekommen …
Thanasis versuchte, sich zu konzentrieren und sah in das Gemach hinein. Es war Faunus Unterkunft. Er lag auf halbem Wege zwischen Bett und Tür auf dem Boden, als ob er tot umgefallen wäre. Seine Aura war jedoch lebendig und Thanasis hielt sich nicht damit auf, seinen Herzschlag zu prüfen. Er wusste, dass der Herr von Garak Pan lebte, aber ohnmächtig war. Er schüttelte erneut den Kopf, schnaubte und fiel einen Moment auf die Knie. Es brannte in seiner Nase.
Der Nebel, du Hornochse!
Mit enormer Mühe erhob sich Thanasis und schwankte in das Badezimmer. Er tauchte ein Handtuch in das Waschbecken und ließ Wasser aus einem Hahn hineinlaufen, bis der Stoff nass war. Er wrang das Tuch aus und legte es sich vor Mund und Nase.
Das mag gar nichts nützen!
Der Gedanke zuckte durch seinen Kopf, doch nach ein paar Minuten wurde sein Blick klarer und das Schwindelgefühl schwand.
Es ist Jahrhunderte her, dass ich auf ein Betäubungsmittel reagiert habe. Ich muss nach den Anderen sehen!
Er erhob sich auf seine Beine und fühlte sich etwas besser. Er verknotete das Tuch um sein Gesicht und machte mehrere Handtücher fertig, damit er den Betäubten helfen konnte. Langsam ging er zu Faunus hinüber und ließ ihn einige Minuten durch das Handtuch atmen. Nichts geschah. Er ließ das Handtuch in Faunus Händen, falls dieser erwachen sollte, und kehrte zu Kassandra zurück. Genau wie Faunus zeigte sie keine Reaktion.
Thanasis ging in den Flur und nahm eine Gestalt am anderen Ende wahr. Dann war sie schlagartig verschwunden. Er fühlte sich außerstande, eine Verfolgung aufzunehmen und traute auch seinem immer noch benommenen Verstand nicht ganz. Die nächste Tür führte in Cendrines Zimmer. Sie erwachte, als Thanasis zu ihr trat und ihr das Handtuch vor Nase und Mund hielt. Sie erschrak zunächst und versetzte Thanasis einen Schlag. Er fiel polternd auf den Hintern.
»Au.«
»Oh, Thanasis? Was ist los? Ich fühle mich …«
Thanasis erhob sich gerade rechtzeitig, um einem Schwall Erbrochenem auszuweichen.
»Ich war betäubt. Der Nebel«, sagte Cendrine und nahm das feuchte Handtuch, um sich den Mund abzuwischen. Sie warf es fort und war sofort auf den Beinen. Unsicher schwankte Thanasis ihr hinterher. Im Flur trat die Äbtissin eine Tür ein. Es war eindeutig, dass sie nicht mehr von den Auswirkungen des Betäubungsmittels betroffen war. Sie verschwand in dem Zimmer und tauchte einen Moment später wieder im Gang auf.
»Charna ist nicht hier! Ich muss sie finden!«
»Sandra und Faunus sind betäubt, aber in Ordnung. Ich kümmere mich um die Anderen«, rief er ihr hinterher, doch Cendrine war mit einem Satz davon.
Thanasis hatte Probleme mit dem Sehen und rieb sich die Augen mit einem feuchten Handtuch aus. Er schüttelte sich und überlegte angestrengt. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Dann sammelte er seine Kräfte und ließ sich unsichtbar werden. Mit einem Schlag verschwanden die Beschwerden, seine Überlegungen wurden fassbarer, seine Sicht wurde besser und seine Körperfunktionen normalisierten sich.
Es muss sich bei dem Nebel um einen Effekt handeln, der von meinen Kräften neutralisiert wird.
Thanasis fiel die Gestalt ein, die er zuvor im Tunnel gesehen hatte, doch er wollte sich zunächst um die Sicherheit seiner Gefährten kümmern. Er kehrte zu Kassandra zurück und wickelte sie in eine Decke, klemmte sich ihre Kleidung unter den Arm und legte sie sich vorsichtig über die Schulter. Dann suchte er Faunus Zimmer auf und platzierte seine Frau behutsam auf dem Bett. Faunus positionierte er auf einer freien Liege. Danach kehrte er auf den Flur zurück und untersuchte Tür für Tür die Räume. Er fand Seraphia und Mehmood und brachte sie ebenfalls in Faunus Unterkunft. Er deponierte feuchte Handtücher und sammelte die Diener und Priesterinnen aus den Dienstbotenzimmern am Ende des Ganges ein. Als er alle in Faunus Räumen untergebracht hatte, eilte Cendrine zurück. Die Sengende Klinge leuchtete auf ihrem Rücken und sie trug ihre schimmernde Rüstung.
Sie rief laut in den Gang. »Thanasis?«
Sie erschrak, als seine Stimme neben ihr erklang. »Ich habe mich unsichtbar gemacht. Es scheint die Wirkung des Nebels zu neutralisieren.« Seine Kräfte erlaubten es Thanasis, auch für die Aura-Sicht unsichtbar zu werden, sodass Cendrine ihn nur hören konnte.
»Ich kann Charna nicht finden. Ebenso keine Spur von Mikar. Mir ist eine Eishexe begegnet, aber sie war kaum bei Sinnen. Es scheint, die Delegation aus den Frostreichen kämpft ebenfalls mit dem Nebel. Ich habe versucht, ihn mit allen Kräften der fünf Elemente zu verscheuchen, trotzdem hält er sich hartnäckig.«
»Bleib einen Moment hier! Ich will mir das selbst ansehen.«
Cendrine nickte und untersuchte Kassandra, als Thanasis den Raum verließ. Er folgte dem Flur und drang in den Bereich ein, der von der Delegation der Frostreiche belegt war. Die Türen waren hier ebenfalls geöffnet worden, teilweise gewaltsam, auch von innen. Thanasis schlich sich vorsichtig von einer Tür zur nächsten. Er fand eine unglücklich gefallene Eishexe. Ihr beinahe kindliches Aussehen täuschte über die immense Kraft hinweg, die diesen magisch begabten Frauen innewohnte. Bei dieser schien ein ungünstig dastehender Tisch die einzige Todesursache zu sein. Sie hatte eine Schlagwunde an der Stirn und ihr Genick war gebrochen. Der Tisch zeigte Spuren eines Aufpralls. Etwas Blut klebte daran.
Thanasis verließ den Raum und war von der Unschuld der Frostreiche noch nicht überzeugt. Der Tod der Eishexe konnte ein Unfall sein, oder ein Bauernopfer, um ein Alibi für spätere Auseinandersetzungen vorzubereiten. Er traute den Eishexen alles zu. In den übrigen Zimmern fand er niemanden. Persönliche Gegenstände lagen jedoch herum, einige davon auch zu wertvoll, um einfach vergessen zu werden.
Die Sidaji!
Thanasis verließ eilig die Zimmerflucht und hetzte durch den Palast. Er folgte zwei leeren Gängen und stieß immer wieder Türen auf.
Nirgendwo ein Sidaji.
Er fand einen Mann in der Kleidung der Heiler von Asla, vor ihm lag eine Heilerin aus dem Orden. Der Grund ihres Zusammenseins hatte dazu geführt, dass sie unbekleidet waren. Er wollte sichergehen, dass sie noch lebten, und erfühlte ihren Puls, bevor er weitereilte. Schließlich fand er einen Saal, der einst offiziellen Anlässen Raum gegeben hatte. Nun standen unzählige Krankenbetten darin und medizinische Gerätschaften füllten die engen Zwischenräume. Eine große Anzahl Heiler aus dem Orden, den Frostreichen und aus Asla lag zwischen den Betten oder war ohnmächtig darüber gefallen. Die Betten jedoch waren leer. Zerwühlte Bettdecken und blutige Laken ließen die Krankenlager so aussehen, als ob sie kurz zuvor noch in Benutzung gewesen waren.
Thanasis lief auf den Palastvorplatz hinaus und sah zwei Schemen im Mondlicht. Mikars Kentaurengestalt war unverkennbar und die Frau neben ihm konnte nur Charna sein. Der Nebel war hier beinahe verschwunden und das Betäubungsmittel offensichtlich wirkungslos geworden. Thanasis ließ sich sichtbar werden. Als Charna und Mikar ihn sahen, eilte er zu ihnen.
»Die Sidaji! Sie sind alle fort!«, rief er.
»Ich weiß«, sagte Charna und sah zum anderen Ende des Platzes.
Drei Gestalten wurden im Mondlicht sichtbar. Eine von ihnen war Jenara, die Gottkaiserin der Völker der Frostreiche.