Kapitel 10
Faunus legte eine Hand auf Seraphias Arm und verlagerte sein Bewusstsein in eine andere Inkarnation. Er war am Eingang einer Begräbnisstätte angelangt und schlich vorsichtig hinab in die unterirdische Anlage. Er schmeckte den Hauch der Unterwelt, der bitter in der Luft lag, und ging auf Zehenspitzen weiter. Er wusste, dass hier etwas vorgefallen sein musste. Der Weg führte ihn an zahlreichen Grabmalen vorbei, bevor er den Schein kalten Lichtes aus einer zerbrochenen Tür fallen sah. Er eilte geräuschlos und vorsichtig zum Eingang einer imposanten Gruft und fluchte, als er Thanasis, Kassandra und Mehmood am Boden liegen sah. Er spaltete sich sofort auf und untersuchte alle drei auf einmal. Thanasis stöhnte und hatte ein Messer umklammert, das in seinem Leib steckte. Er war nicht bei Bewusstsein und Faunus war außerstande, den Griff des Titanen zu lösen. Kassandra schien körperlich unversehrt, obgleich sie ohnmächtig und blass war. Mehmood war eine blutige Riesenschweinerei. Faunus tat Serals Gesandter leid, doch er sah keine Möglichkeit, seine Qualen zu verringern. Er legte dem stöhnenden Mann eine Hand auf die Stirn und fand die Kanüle und die Glasphiole.
Kassandra muss versucht haben, sein Leben zu retten. Ich spüre die Macht des Brennenden Blutes in seinen Adern. Warum ist sie bewusstlos und wieso steckt ein Messer in Thanasis Bauch? Was ist hier bloß vorgefallen? Ich muss die anderen finden!
Faunus brach die Fahndung nach den Artefakten ab und befahl einem Dutzend seiner Aspekte die sofortige Suche nach Charna, Cendrine und Mikar. Er war sicher, dass es eine gute Idee war, die Priesterinnen, Diener und Wachen zusammenzurufen und ließ eine seiner Inkarnationen diese Aufgabe verfolgen. Durch eine andere Verkörperung wurde er der Tatsache bewusst, dass Cendrine mit Mehmood in großer Eile fortgegangen war, um die Königin des Frostturms davon abzuhalten, ein Artefakt der Sidaji zu sichern. Angeblich eine Krone, die der Kontrolle des Wetters diente. Er verlagerte sein Bewusstsein zurück in die Gruft zu seinen Gefährten und ergriff eine blutige Krone.
Nur ein Schmuckstück, womöglich das Amtszeichen eines alten Sidaji-Herrschers? Diesem Ding wohnt keine Macht inne. Wira ist eine hinterlistige Gegnerin! Ich wette, sie hatte ihre Finger im Spiel und ist für diese Niederträchtigkeit verantwortlich.
Die Priesterin erklärte seiner anderen Verkörperung, dass Thanasis und Kassandra der Äbtissin und Serals Gesandten gefolgt sind.
Sie müssen hierher gekommen sein. Wo ist Cendrine?
Er ließ seine Wahrnehmung durch zwanzig seiner Inkarnationen an unterschiedlichen Orten blitzen und belauschte zehn verschiedene Eishexen und Heiler der Frostreiche. Er realisierte in Windeseile, dass Wira übereilt mit ihrem Gefolge aufgebrochen war, und verlagerte sein Bewusstsein in eine bestimmte Verkörperung, als er Jenara erkannte. Lautlos versteckte er sich hinter einem dornigen Busch, als die Gottkaiserin mit dem Hauptmann ihrer Leibgarde sprach.
»Was soll das heißen, eine Streitmacht?«, flüsterte Jenara voller Entsetzen.
Der Hauptmann antwortete ihr aufgebracht. »Wie ich Euch sage, meine Herrscherin, eine Streitmacht der Metallschlangen ist auf dem Weg hierher. Es handelt sich um die alten Maschinen der Echsen. Die Feuerteufel sind uns zuvorgekommen!«
»Ich will dieses Wort nicht wieder aus deinem Munde hören! Ich kann nicht glauben, dass Charna mit einer Streitmacht über das Land zieht. Da müssen dieser streitsüchtige Kentaur und seine Soldaten dahinterstecken. Was noch?«
»Die Königin des Frostturms ist mit allen Vertretern ihres Hauses aufgebrochen.«
»Aufgebrochen? Wohin?«
»Nun, es scheint, sie sind auf dem Weg zurück in die Frostreiche und …«
»UND WAS?«
»Es heißt, sie haben die Äbtissin der Flammengrube entführt.«
Faunus lugte vorsichtig hinter dem Busch vor. Jenara starrte den Mann an und ein kaltes Leuchten drang aus ihren Augen, bis die Luft um sie herum kondensierte und in eisigen Wolken herabfiel. Der Krieger schluckte und rang mit seiner Selbstbeherrschung.
Jenara antwortete leise. »Wo ist Gorak?«
»Mit der Herrin Wira aufgebrochen.«
»Versammle deine Männer und alle anderen einschließlich der Heiler. Wir brechen sofort nach Tojantur auf. Ich werde das Tor in zwanzig Minuten vor dem Thronsaal öffnen. Sorge dafür, dass es keine Zwischenfälle gibt!«
Der Wächter salutierte und lief davon.
Jenara hielt sich die Hände vor die Augen und rieb sich mit den Knöcheln darüber. Sie wirkte entmutigt und kraftlos. Nicht ganz die Reaktion, die Faunus erwartet hatte. Er stutzte, als sie ein goldenes Amulett aus den Tiefen ihres Dekolletees zog und es gedankenverloren zwischen Daumen und Zeigefinger rieb.
Es scheint, Wira und Gorak haben sich gegen sie verschworen. Ist das Sarinacas Zeichen auf dem Amulett? Jenara hat ihre alte Verbindung zum Orden nicht vergessen. Interessant.
Faunus löste seine Inkarnation auf, bevor Jenara seiner Gegenwart gewahr wurde. Er sorgte dafür, dass die Vertreter des Ordens sich vom Thronsaal fernhielten. Er hielt nichts von gewalttätigen Auseinandersetzungen und wollte alles tun, um eine Eskalation der Situation zu vermeiden. Um Cendrine mussten sie sich kümmern, wenn Thanasis, Kassandra und Mehmood in Sicherheit waren.
Eine andere seiner Inkarnationen brachte endlich drei Heiler und drei Priesterinnen hinab in die Gruft. Er teilte sich weitere Male. Mithilfe dieser neuen Unterstützung gelang es ihm, Thanasis verkrampfte Finger um das Messer zu lösen. Er entfernte die Klinge vorsichtig und die Wunde schloss sich sofort, doch Thanasis blieb bewusstlos. Er überließ es den fachkundigen Händen der Heiler, Kassandra und Mehmood zu umsorgen.
Er dachte besorgt an Seraphia und verlagerte sein Bewusstsein in ihre Gegenwart. Sie lag in unverändertem Zustand, ohnmächtig, träumend und fiebergeplagt auf der Ruhebank. Er hob sie auf und trug sie zum Sammelpunkt, wo er eine Heilerin aufsuchte, die sich um sie kümmern sollte.
Faunus wollte mit größerer Anstrengung nach Charna und Mikar suchen, denn er musste wissen, was es mit dieser angeblichen Streitmacht auf sich hatte. Er vereinte alle seine verkörperten Aspekte erneut und hinterließ Befehle zum Rückzug für die Priesterinnen, Diener und Wachen des Tempels. Sie mussten die Verletzten mit Kraindrachen zurück nach Iidrash bringen, da er im Reich der Sidaji keine Portale kannte. Wenn es ihm jedoch gelang, Charna oder Mikar zu finden, dann könnten sie mittels Teleportation zurückkehren, was sicherer und schneller wäre.
Er eilte zu den Unterkünften der Kraindrachen außerhalb des umbauten Geländes und fluchte, als er bei der gepflasterten Fläche ankam, die von Türmen und Pfählen gesäumt wurde, auf denen die Drachen zu sitzen pflegten.
Alle fort? Das kann doch nicht wahr sein!
»Hey! Wo seid ihr alle?«, schrie er in den Nachthimmel. Ein Schatten zog über Irian dahin und ein gigantischer Kraindrache stieß aus dem Himmel herab, wirbelte mit seinen Schwingen Staub und totes Laub vom Boden auf, als er landete. Seine goldenen Schuppen reflektierten das Mondlicht auf eigenartige Weise und der titanische Drache schritt energisch auf Faunus zu.
»Wer seid Ihr?«, tönte seine tiefe Stimme erregt.
»Sora? Ich bin es, Faunus!«
»Herr von Garak Pan! Was geschieht? Metallschlangen gleiten über das Land. Cendrine ist fort. Meine Brüder und Schwestern suchen nach der Herrscherin. Sie finden sie bei den Metallschlangen! Warum?«
»Das muss ich selbst erst herausfinden. Es ist äußerst wichtig, dass wir Charna und Mikar erreichen. Kannst du mich zu ihnen bringen?«
Statt einer Antwort ließ sich Sora weiter herab. Faunus nahm Anlauf und sprang in den Sattel. Der größte aller Kraindrachen warf sich sofort in die Luft und schoss in die Höhe. Sie überquerten das Festland des Sidaji-Reiches in atemberaubender Geschwindigkeit.
»Flieg so schnell du kannst, Sora! Ich halte das aus.«
»Sicher?«
»Ja!«
Der Drache stieß einen kurzen Feuerstoß in den Nachthimmel und seine Flügelspitzen erzitterten. Er warf sich mit einer spürbaren Muskelspannung in die Flügelschläge, mit jeder Bewegung schneller werdend. Faunus wappnete sich gegen den Flugwind, der wie die Hand eines Riesen mit Macht auf seinen Körper drückte. Soras Schrei erklang über den Sümpfen und die Luft vor ihnen fing an zu flirren. Seine Flügel schnellten auf und ab, auf und ab. Der Windstrom machte es unmöglich zu atmen, doch das störte Faunus nicht, er wusste, dass er es aushalten konnte. Der Drache beschleunigte immer weiter und sie preschten mit einer Geschwindigkeit durch die Nacht, die jede Kurve zu einer kräftezehrenden Angelegenheit machte. Faunus duckte sich in den Sattel und klammerte sich fest an die massiven Metallbügel, die abgegriffen von Cendrines kräftigen Händen waren, die üblicherweise auf Sora unterwegs war. Sie preschten über Seen hinweg, dass das Wasser aufspritzte. Die Kraft, die Faunus in den Sattel drückte, war selbst für ihn beängstigend. Sie legten tausend Schritt in der Geschwindigkeit eines Lidschlags zurück und Faunus war sich sicher, auf dem schnellsten Kraindrachen Kabals unterwegs zu sein.
Sie jagten jetzt über einen weiten Strand und waren über dem Meer südlich vom Festland. Sora flog an der Küstenlinie entlang und Irians Spiegellicht flirrte auf den dunklen Wogen unter ihnen. In der Ferne sah er die Wellen mit unnatürlicher Heftigkeit an den Strand rauschen. Das Meer kochte förmlich, und silberne Formen sprangen in einer geraden Linie aus dem Meer auf das Festland zu.
Eine Streitmacht der alten Maschinenwächter - es stimmt also!
Sora verringerte die Geschwindigkeit und stieg bedeutend höher. Faunus erkannte nun, dass die Metallschlangen aus Richtung der Insel Loros kamen und bereits weit auf das Festland vorgedrungen waren. Außerhalb des Wassers waren sie jedoch langsamer.
»Wo sind Charna und Mikar?«
Sora schwenkte um und lie0 sich sinken, auf die Spitze des Heerzuges zuhaltend. Bald flogen sie tief genug, dass Faunus die Details der schrecklichen Maschinen wahrnahm. Sie erreichten endlich die erste Metallschlange und Faunus sah Mikar daneben galoppieren. Die Hohepriesterin flog neben ihm und Sora stieß einen Schrei aus. Charna und Mikar drehten den Kopf und einige der Maschinenwächter wurden auf den Drachen aufmerksam. Charna stieg zu ihnen auf und erreichte bald Soras Flughöhe.
»Faunus, was tust du hier?«
»Das fragst du mich? Cendrine ist von Wira entführt worden.«
»WAS?«
»Thanasis, Kassandra und Mehmood sind schwer verletzt, Seraphia ist in eine Art Koma gefallen. Und Jenara flieht vor der Streitmacht, die ihr beiden offenbar anführt. Wira hat Cendrine im Gepäck und ist unterwegs in die Frostreiche, aber ich glaube, Jenara wurde von Gorak und Wira hintergangen. Das ist jedenfalls nicht auf ihrem Mist gewachsen.«
Charna starrte zu Irian und dachte offenbar angestrengt nach. Als sie ihn ansah, leuchteten ihre Augen feurig.
»Es ist sehr viel passiert und es bleibt wenig Zeit für Erklärungen. Wir werden die Maschinen nur für eine unbestimmte Zeit kontrollieren können. Mikar hat eine Art telepathische Verbindung zu ihnen und meint, dass sie bereits Neigungen zum Ungehorsam zeigen.«
»Warum führt ihr die Maschinen überhaupt hierher?«
»Hier können sie den geringsten Schaden verursachen. Dass Jenara sich zurückzieht, ist eine gute Nachricht, dann hat das Ganze wenigstens etwas für sich. Wir werden ebenfalls den Rückzug antreten, sobald der Rest der Streitmacht im Landesinneren ist.«
»Was soll die Maschinen dann davon abhalten, nach Iidrash zu ziehen, wenn Mikar die Kontrolle verliert?«
»Das erzähle ich dir später. Wie ist der Stand der Dinge beim Thronsaal?«
Faunus erklärte Charna die Anweisungen, die er hinterlassen hatte.
»Ich werde zum Thronsaal teleportieren und unsere Leute in Sicherheit bringen. Danach kehre ich zurück. Ihr beobachtet Mikar, und wenn irgendetwas nicht stimmt, dann holt ihr ihn da raus, verstanden?«
»Ja.«
»Ich beeile mich!«, sagte Charna und jagte weiter in den Himmel hinauf. Sie legte mit einem Donnerschlag eine große Distanz zurück und verschwand in einem grellen Lichtblitz.
Die Maschinen hemmen ihre Fähigkeit zur Teleportation, sie musste offensichtlich erst einen gewissen Abstand zu ihnen schaffen. Großartig.
»Hast du das bemerkt, Sora?«
»Die Metallschlangen. Sie strahlen etwas aus, dass keinen Gefallen weckt.«
»Wenn wir Mikar allein da rausholen müssen, wird es unangenehm.«
Sora stieß einen Schrei aus. Sie folgten den Metallschlangen und dem Kentauren.