Kapitel 2
Thanasis klopfte Mikar auf die Schulter. »Pass auf dich auf! Und achte darauf, dass Maraks Speer nicht irgendetwas Unerwartetes macht, wenn du eines der Artefakte findest!«, sagte er und wandte sich um.
»Hey! Wo soll ich suchen? Ich habe nicht die geringste Idee im Kopf«, sagte Mikar.
»Was man nicht im Kopf hat, hat man in den Beinen. Und davon hast du ja genug«, rief Thanasis lachend und lies Mikar stehen, als dieser ihm eine Grimasse schnitt.
Er eilte fort und warf einen Blick über die Schulter, als er den Hof verließ. Mikar war bereits verschwunden. Er ließ sich erneut unsichtbar werden und rannte zurück bis zu den Unterkünften im Thronsaal. Er passierte auf dem Weg zwei junge, blonde Eishexen aus der Delegation der Frostreiche, die seine Annäherung nicht gespürt hatten und sich flüsternd unterhielten.
»Ich sage Dir doch, da war jemand! Ich sah ihn vorüberhuschen und dann war er weg.«
Meinen sie mich oder die Gestalt, die ich selbst kurz sah?
»Du bildest dir das ein, Gari, das kann nicht sein! Du warst genauso betäubt, wie wir alle und was auch immer das für ein Nebel war, er muss deine Sinne verwirrt haben.«
»Das mag schon sein, aber ich war wirklich wieder klar, als ich mich endlich …«
»Ja, ja. Erinnere mich nicht daran! Der Rest klebt noch stinkend an meinem Rocksaum.«
»Das tut mir leid!«
Ich bin mir sicher, diese beiden Eishexen waren noch betäubt, als ich durch die Gänge getaumelt bin. Irgendjemand ist hier gewesen.
Thanasis entfernte sich leise, kam an einer herausgerissenen Tür vorbei und betrat Faunus Zimmer, in dem er die Bewusstlosen zusammengetragen hatte. Das eigentümliche Licht der Sidaji brannte in gelben Glassphären, die groß wie Kürbisse waren. Sie hingen zu mehreren von der Decke herab und waren auch in den Ecken des Zimmers montiert. Der Herr von Garak Pan saß in dem trüben Licht mit dem Kopf zwischen den Händen vor einer Schüssel, deren Inhalt Thanasis zu ignorieren versuchte. Kassandra kümmerte sich um einen Diener, der eine Platzwunde auf der Stirn hatte und sich pausenlos beschwerte. Seraphia stand an allein an einem Fenster und hatte sich trotz der Hitze in ihre Robe gehüllt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Sie wirkte abwesend, aber unverletzt. Alle anderen Mitglieder der Ordens-Delegation hatten die Nachwirkungen des Nebels scheinbar überstanden. Thanasis ließ sich sichtbar werden, bevor er den Raum betrat. Alle Köpfe drehten sich in seine Richtung.
»Ich habe mit Charna gesprochen. Der Nebel ist fort, und mit ihm die Sidaji.«
Ein Raunen ging durch die Versammelten und Thanasis ließ das Gewicht der Nachricht einen Moment für sich wirken, bevor er fortfuhr.
»Es gab eine Unterredung mit Jenara, ein vorläufiger Waffenstillstand wurde vereinbart. Ich rate allen dazu, Auseinandersetzungen zu vermeiden. Jenara hat eine Untersuchung des Vorfalls angekündigt, da sie den Orden beschuldigt, das Verschwinden der Sidaji verursacht zu haben. Ich nehme an, sie wird versuchen, Beweise für diesen Unsinn zu finden. Also ist Vorsicht angebracht. Wir wollen nichts unternehmen, was ihr in dieser Situation von Vorteil wäre. Auch möchte ich, dass alle grundsätzlich und ohne Ausnahme nur in Gruppen von wenigstens zwei Personen unterwegs sind - selbst beim Toilettengang, verstanden? Wir werden eine eigene Untersuchung des Vorfalls durchführen, um unsere Unschuld zu beweisen und die Täter zu finden. Zu diesem Zweck möchte ich, dass das Gelände schnellstmöglich untersucht wird und alle verdächtigen Gegenstände sofort gemeldet werden, ohne großes Aufsehen zu erregen.« Thanasis legte einen Finger ans Auge und sah in die Runde. Allgemeines Nicken sagte ihm, dass jeder verstanden hatte, dass die Artefakte der Sidaji unbeaufsichtigt waren und nicht den Eishexen in die Hände fallen durften.
Thanasis überließ die weitere Organisation einer Priesterin höheren Ranges. Er trat zu Kassandra, Seraphia und Faunus. Dieser lächelte sogar, auch wenn er noch etwas blass war.
»Du siehst fahl oder anämisch, also irgendwie sehr blutleer und kränkelnd aus … ist dir übel?«
Faunus kommentierte Thanasis Grinsen mit einer Grimasse. »Schon gut, ich habe dich verstanden … bist du eigentlich der Einzige mit guter Laune hier? Als der Nebel erschien, waren mehrere meiner Aspekte auf dem gesamten Gelände verteilt. Es sah aus, als wäre der Nebel vom Himmel herabgefallen. Als ich meine Inkarnationen zurückzog, brachten sie die gesammelte Menge des Betäubungsmittels mit sich. Normalerweise hätte mich das Zeug wohl verschont, aber so habe ich ein Vielfaches auf einmal aufgenommen.« Er schluckte schwer und hatte offenbar Mühe, ein erneutes Aufkommen der Übelkeit zu überwinden. Thanasis lächelte Kassandra an, die wohlauf schien und das Wort an ihn richtete.
»Ich erwachte urplötzlich wie aus einem tiefen Schlaf. Dann wurde mir … übel. Nun ist alles in Ordnung.«
Seraphia nickte bestätigend. »So erging es mir auch.«
Kassandra warf Thanasis einen vielsagenden Blick zu. Seraphia sah blass und krank aus. Ihre Augen sprachen von den Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen und die ihr vermutlich mehr zugesetzt hatten, als der Nebel. Sie kämpfte offensichtlich mit den Erfahrungen, die sie während des Kampfes mit der Eishexe im Tempel gemacht hatte. Die Dunkle Flamme war eine schwere Bürde, eine Herausforderung, die ihre letzte Trägerin nicht gemeistert hatte. Kassandra sorgte sich um Seraphia, das konnte Thanasis ihrem Blick entnehmen. Er teilte ihre Sorge, doch im Augenblick musste er sich um schwerwiegendere Probleme kümmern.
»Es scheint, ich bin der Einzige, der sich nicht übergeben hat. Muss an meiner guten Laune liegen«, er grinste Kassandra an. »Wie auch immer. Jenara ist mit Olana und dem Barbarenkönig Gorak vor Charna getreten und hat sie beschuldigt, für das Verschwinden der Sidaji verantwortlich zu sein. Lachhaft! Mikar war dabei und ist nun in Charnas Auftrag unterwegs, um die Artefakte der Sidaji zu finden. Er ist allerdings genauso ratlos, wie ich.«
Faunus trank einen Schluck Wasser aus einer Karaffe und meldete sich dann zu Wort. »Und Charna und Cendrine?«
»Charna hat sich irgendwohin teleportiert und Cendrine müsste bald hier auftauchen. Ich … wo ist eigentlich dieser Mehmood hin?« Thanasis sah sich um.
»Hier.«
Sie wandten sich um und alle Gespräche im Raum erstarben, als eine Sjögadrun hereinkam. Sie trug eine tote junge Frau auf den Armen, die ihre Zwillingsschwester sein konnte.
»Das ist nicht der Ort für Euch, Eishexe! Verschwindet!«, rief der Diener mit der Platzwunde am Kopf aufgebracht.
»Ruhe!«, zischte Kassandra und öffnete die Tür zum Baderaum. Sie winkte die Eishexe heran und sprach zu Thanasis.
»Schnell! Mach dich unsichtbar und sieh nach, ob das jemand mitbekommen hat!«
Thanasis schaltete sofort und eilte unsichtbar zu Tür hinaus. Er hatte die Sjögadrun erkannt. Es war diejenige, die er tot in ihrem Zimmer aufgefunden hatte.
Er hastete lautlos den Gang entlang, doch niemand war zu sehen. Es schien, dass keiner das Verschwinden der toten Eishexe bemerkt hatte. Thanasis kehrte zurück und betrat den Baderaum in Faunus Unterkunft.
Vor ihm stand eine zierliche Eishexe mit hellroten, langen Haaren und einer Platzwunde am Kopf. Ihre blauen Augen sahen ihn wissend aus einem jugendlichen Gesicht an. Die Sjögadrun musste nach oben starren, um ihn anzusehen. Am Boden lag ihre tote Doppelgängerin, deren Kopf in einem unnatürlichen Winkel abgeknickt war. Seraphia und Faunus traten in den Baderaum. Seraphia fixierte die Eishexe mit einem Blick, der schwer zu deuten war.
Thanasis schloss die Tür. »Ich hatte deine Aura also richtig gedeutet, Mehmood. Du bist ein Gestaltwandler. Ich nehme an, du willst in ihre Rolle schlüpfen und ein bisschen herumspionieren.«
Mehmood nickte und zuckte mit seinen verwandelten Schultern.
»Dass du die tote Eishexe hierher gebracht hast, könnte aber auch riskant sein. Ich hatte ihren Körper vorhin gefunden. Was, wenn Jenara oder jemand anderes ebenfalls ihren Tod festgestellt hat? Wie willst du erklären, dass »du« auf wundersame Weise von den Toten zurückgekehrt bist?«
»Das muss ich gar nicht. Seht ihr das hier?« Mehmood öffnete die Bluse der toten Eishexe und deutete auf ein fremdartiges Lebewesen, das sich in Höhe des Bauchnabels in die Haut der jungen Frau verkrallt hatte. Es sah aus wie eine Mischung aus Krustentier und Spinne mit einem feucht wirkenden Panzer aus einer schwarzen Kruste. Es zuckte, als Mehmood darauf tippte.
»Bei Sarinaca!«, fluchte Kassandra und hielt sich die Hand vor den Mund. »Was ist das für ein Ding?«
Mehmood drehte die Tote um und deutete schweigend auf das gebrochene Genick. Unter der Haut waren knotige Stränge zu erkennen, die sich bewegten und zuckten.
»Ein Parasit? Was hat das zu bedeuten?«, fragte Thanasis mit einem überraschten Blick auf Mehmood.
»Es sind Lebewesen aus Disdahals Reich. Seral und ich sind den Trägern der Kurakpor, so heißt diese Krebsart, bereits einmal begegnet. Sie wird regenerieren, ihr Tod ist mehr eine Art Koma. Ein Genickbruch ist da gar nichts, wenn ich daran denke, was Seral und ich Disdahals Wächtern zugefügt hatten. Immer, wenn man dachte, man hätte ihnen endlich den Garaus gemacht, tauchten sie wieder auf. Ein verdammt lästiges Pack.«
Kassandra hielt eine Hand auf die Stirn der Bewusstlosen und schloss kurz die Augen. »Er hat recht, ihr Geist ist stumm, aber fest in ihrem Leib verankert. Wie lange dauert es, bis sie erwacht?«, fragte Kassandra mit einem angewiderten Blick auf den Meeresbewohner.
»Einige Stunden. Manchmal dauert es auch Tage.«
»Könnte …«, sagte Seraphia leise und alle sahen sie an. Sie räusperte sich und sprach lauter. »Könnte es sein, dass die Eishexe, die mich attackiert hat, so ein Ding an sich hatte?«
»Ich habe die Leiche untersucht. Das war nicht der Fall«, sagte Mehmood mit der Stimme der jungen Frau.
Seraphia legte ihre Arme um sich und sagte nichts mehr.
Thanasis schüttelte den Kopf. »Wir kennen weder den Namen der Sjögadrun noch ihre Aufgaben, Freunde oder irgendetwas aus ihrem Leben«, sagte er überlegend.
»Der Genickbruch und die Platzwunde müssen als Erklärung herhalten. Ich werde einen Gedächtnisverlust vortäuschen, was angesichts der Verletzung sogar plausibel erscheint. Auf diese Weise komme ich an Informationen, die wir sonst nie erhalten würden.«
»Wir sollten das mit Charna abklären«, sagte Kassandra.
Thanasis zuckte mit den Schultern. »Wenn Mehmood als Serals Gesandter auftritt, kann sich der Orden immer noch von seiner Spionage offiziell und diplomatisch distanzieren«, sagte er überlegend und Mehmood nickte zustimmend. »Im Moment ist es wichtiger, dass wir die Artefakte der Sidaji finden. Da könnte Mehmood an erster Stelle sein, wenn die Eishexen uns bei einem Artefakt zuvorkommen sollten und es ihnen entreißen.«
»Habe ich etwas verpasst?«, fragte Mehmood. Thanasis erklärte die Situation und Charnas Anweisungen.
»Dann ist es also Ordnung, wenn ich mich als Eishexe ausgebe und ein bisschen herumspioniere?«, fragte Mehmood und wirkte unruhig.
»Ja«, sagte Thanasis.
Kassandra schürzte die Lippen und neigte widerstrebend den Kopf. »Thanasis hat hier als Ranghöchster das letzte Wort. Ich würde Charnas Urteil abwarten.«
Faunus bückte sich zu der Eishexe am Boden herab und begutachtete ihre Kleidung und ihren Schmuck. »Ich denke, wir können davon ausgehen, dass es sich nicht um eine Sjögadrun niederen Ranges handelt. Ihr Rock und ihre Bluse sind aus teurem Stoff, der Schmuck ist alt und womöglich ererbt. Ein Wappen ist auf der Innenseite des Ringes zu sehen. Sie riecht nach Rosenöl und hat außerordentlich gepflegte Hände und Nägel. Sie könnte also eine wichtige Position bekleiden.«
»Dies ist nicht die Zeit zum Warten. Wir müssen handeln«, sagte Thanasis ruhig und sah Kassandra an.
»Ich habe mit diesen Entscheidungen keine Erfahrung und ich mische mich nicht ein. Was machen wir mit der Eishexe, wenn sie erwacht?«, fragte sie.
Thanasis und Mehmood wechselten einen langen Blick.
»Muss sie wieder erwachen?«, fragte Mehmood schließlich vorsichtig.
Faunus schüttelte den Kopf.
Kassandra richtete sich auf und hielt die Hände abwehrend von sich. »Davon will ich nichts hören. Ich bin kein Mörder.«
Thanasis warf ihr einen Blick zu und öffnete den Mund für eine Erwiderung, aber Seraphia schnitt ihm das Wort ab.
»Lasst sie am Leben!«, ihre Stimme war leise aber bestimmt.
»Seraphia hat recht. Wir sind hier nicht auf dem Schlachtfeld und ich werde es nicht zulassen, dass ihr diese junge Frau umbringt«, sagte Kassandra.
»Sie könnte älter sein als du, nach allem, was wir wissen«, sagte Thanasis vorsichtig.
»Danke, mein gehörnter Held, charmant wie immer. Ich fühle mich jung genug, um noch ein paar Jahrhunderte zu leben. Dieser Frau mag es nicht anders gehen.«
»Na ja«, sagte Mehmood und stieß mit den Zehen an den Kopf der Frau, der mit einem Knirschen zur Seite abknickte. »Das Genick ist hin.«
»Mehmood!«, rief Kassandra entsetzt und schlug ihm mit der flachen Hand an den Hinterkopf.
Mehmood zog eine Grimasse und zog die Schultern hoch.
»Wenn sie davon genesen kann, dann sollten wir ihr die Chance geben. Als Gefangene ist sie uns zudem vielleicht noch nützlich«, sagte Kassandra.
Thanasis seufzte. »Nun gut. Dann geh, Mehmood, und sei vorsichtig. Wir kümmern uns um die Eishexe. Sollte sie erwachen, werde ich sie aushorchen. Womöglich erfahren wir mehr über sie und können so deine Tarnung verbessern.«
Mehmood nickte, richtete seine Kleidung und blieb überrascht mit den Händen an seinen Brüsten hängen. Er knetete grinsend einen Moment. »Nicht schlecht«, kommentierte er.
Kassandra und Seraphia sahen ihn vorwurfsvoll an.
Thanasis unterdrückte ein Lächeln und schob Mehmood hinaus. »Mach das nicht zu oft, sonst wissen die, dass etwas nicht stimmt.«
Kassandra schüttelte den Kopf. Thanasis zuckte mit den Schultern und folgte Mehmood. Er ging an ihm vorbei und bedeutete ihm, stehen zu bleiben, bevor er sich unsichtbar werden ließ. Er schlich sich bis in die Räumlichkeiten der Delegation der Frostreiche und sah, dass hier einiges an Betrieb war. Vor dem Zimmer der verunglückten Eishexe standen zwei Männer aus Jenaras Leibgarde und unterhielten sich. Einer zeigte in den Raum und zuckte ratlos mit den Schultern, während er seinem Vorgesetzten in der rauen Hochsprache der Frostreiche Bericht erstattete.
Der optimale Zeitpunkt.
Thanasis schlich zurück und ließ sich sichtbar werden. Er winkte Mehmood herbei und erklärte ihm die Situation.
»Viel Glück!«, flüsterte er.
Mehmood stolperte an der Wand entlang und vermittelte überzeugend das Bild einer geschwächten, verwirrten Frau. Thanasis ließ sich erneut unsichtbar werden, folgte ihm und beobachtete ihn einen Moment. Als die Wächter die verletzte Sjögadrun sahen, kamen sie ihr vorbehaltlos zur Hilfe, besorgt, wie es schien. Thanasis nickte zufrieden und kehrte zu den anderen zurück.