Kapitel 7
Seraphia folgte Faunus in den Wandelgang. Es war düster zwischen den Gebäuden und sie waren bisher niemandem begegnet. Sie blickte zur Seite auf den vom Mond erleuchteten Platz hinaus und sah eine andere Inkarnation des Herrn von Garak Pan in einen Hauseingang treten. Es war schwer verständlich, Faunus hier zu sehen und zu wissen, dass er gleichzeitig an vielen Orten war. Ein jeder seiner abgespaltenen Aspekte zeigte eine alternative Seite seiner Persönlichkeit. Sie ahnte, dass diese verschiedenen Charakterzüge immer einseitiger wurden, umso größer der Grad seiner Zerteilung war. Der Faunus, der jetzt neben ihr ging, unterschied sich allerdings kaum von jenem, mit dem sie vor zwei Stunden gesprochen hatte.
»Weißt du die ganze Zeit, wie »viele« du bist?«
Faunus warf ihr ein charmantes Lächeln zu. Sie konnte nicht anders, als es erwidern. Er war im Moment der Einzige, der dazu in der Lage war, ihr schweres Gemüt aufzuheitern.
»Stets einer zu wenig«, sagte er lachend.
Seraphia lachte leise. »Für mich nicht.«
Faunus sah sie überrascht an. »Ist das jetzt ein Kompliment oder etwas anderes?«
Seraphia lachte. »Ich bin sehr ungeschickt in Komplimenten. Ich sollte vielleicht direkt sagen, was ich denke«, sie sah ihm in die Augen. »Ich mag dich, Faunus. Aber die Sache mit der Eishexe geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich …«
Faunus ergriff ihre Hand und Seraphia ließ es geschehen.
»Als ich die Dunkle Flamme empfing, war das ein gutes Gefühl. Man hat mir seit meinem zehnten Lebensjahr beigebracht, dass ich die Herrin der Dunklen Flamme sein würde. Aber gestern da … habe ich … sie ist tot, verstehst du?«
Faunus nickte. »Sie wollte dich töten, du hast dich verteidigt. Wärest du an ihrer Stelle, wäre niemandem geholfen.«
Seraphia wandte sich von Faunus ab und starrte Irian an. Sie schüttelte den Kopf. »Ich spürte da etwas, eine Stimme sprach zu mir. Ich weiß nicht, Faunus, das kann nicht richtig sein«, sagte sie und drehte sich zu ihm um.
»Haben sie dir gesagt, was mit der vorherigen Herrin der Dunklen Flamme geschah?«
Seraphia sah ihn überrascht an. Konnte das sein? Sie wusste nicht, dass jemand vor ihr die Bürde getragen hatte.
»Aha. Lass mich raten! Davon steht auch nichts in den Geschichtsbüchern und alten Aufzeichnungen, die man dich lesen ließ?« Faunus lehnte sich an eine Säule. »Ihr Name war Kujaan. Sie wurde durch die Macht der Dunklen Flamme … verändert.«
Seraphia war schockiert.
Wieso hat man das verschwiegen? Warum haben Cendrine und Charna mich angelogen?
Sie trat näher an Faunus und ergriff seinen Arm. »Ich muss mehr darüber erfahren!«
Er lächelte sie an. »Ich war nie ein Freund von dieser Sache. Es liegt etwas Unnatürliches darin und ich mag solche Dinge nicht. Wenn ich dir von Kujaan erzähle, musst du das für dich behalten. Sie würden nicht wollen, dass ich das tue, aber ich halte es für das Richtige.«
Seraphia nickte.
»Kujaan war eine junge Frau, ach, ein Mädchen! So wie du. Schön, aber unschuldig. Ehrgeizig, jedoch gewissenhaft. Sanft, trotzdem voller Wildheit.« Faunus lachte, wie in alte Erinnerungen versunken. Dann wurde sein Blick hart. »Sie starb durch Sarinacas Hand.« Er sah Seraphia in die Augen.
Sie trat einen Schritt zurück, schockiert. »Wieso steht das nirgendwo geschrieben? Weshalb weiß niemand etwas davon?«
»Bin ich ein Niemand? Und zu den geschriebenen Worten: Es wird Aufzeichnungen darüber geben, aber ich bin mir sicher, dass diese nicht leicht zu finden sind.«
Seraphia schüttelte ungläubig den Kopf.
»Sie wollen nicht, dass du mächtiger wirst als sie …«
Das Flüstern in Seraphias Gedanken ließ sie zusammenzucken.
Faunus ergriff behutsam ihren Arm. »Alles in Ordnung?«
»Lass mich!«, sagte Seraphia und Faunus erschrak, als er das Licht des Mondes in ihren plötzlich schwarzen Augen glitzern sah. Sie schüttelte seine Hand ab, senkte die Lider und atmete tief ein und aus. »Lass mich eine Weile allein!«
»Wir haben Anweisungen …«
»Es kümmert mich nicht!«
Seraphia eilte fort und ließ Faunus zurück. Ziellos lief sie eine Weile umher, bis sie in einen Bereich kam, der ihr besonders ruhig erschien. Sie setzte sich auf eine Ruhebank aus Stein und zog die Beine an. Am liebsten hätte sie sich in einer dunklen Höhle verkrochen. Immerzu sah sie das brennende Gesicht der Eishexe und fürchtete, jeden Augenblick könnte die abscheuliche Stimme zurückkehren, die sie mit ihren Einflüsterungen in den Wahnsinn trieb. Sie fühlte sich elend und allein, als ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Sie dachte an ihre Mutter und ihren Vater, die so weit weg waren, und wünschte sich, sie wäre jetzt bei ihnen. Sollte der ganze verdammte Orden ihr doch gestohlen bleiben! Was nutzte ihr die Macht der Dunklen Flamme? Es war ein Fluch, nur ein elender Fluch …
Seraphia spürte einen Einstich im Hals und erlebte ein Schwindelgefühl. Sie ahnte, dass sie im Begriff war, das Bewusstsein zu verlieren, als ihr Blick auf eine schattenhafte Gestalt fiel, die hinter ihr aufragte. Eine Woge der Angst überflutete sie, als sie die Gewissheit spürte, dass etwas Eigenartiges mit ihr geschah …
Kujaan schlug die Augen auf. Sie erwachte mit dem Gefühl, einen großartigen Tag vor sich zu haben und die Aufregung durchströmte sie wie eine starke Energie. Sie war nervös, aber auch voller Vorfreude.
Heute würde sie mit der Äbtissin das Portal durchschreiten! Kitaun würden sie bereisen, wo der Orden ein Kloster errichtet hatte, das vorwiegend von den wunderschönen Kitaunern betrieben wird, die man gelegentlich im Tempel antraf. Kujaan hatte sich ihr ganzes Leben lang darauf gefreut, eine fremde Welt zu bereisen und jetzt konnte sie kaum glauben, dass es so weit sein sollte.
Nachdem sie sich gewaschen hatte und ihre Tasche gepackt war, verließ sie ihr Zimmer. Sie machte sich auf den langen Weg durch die verzweigten Stollengänge Idraks hinauf ins Innere Sanctum, wo die Äbtissin womöglich bereits auf sie wartete. Kujaans Zimmer lag an einem besonders belebten und sehr breiten Tunnel, an dem sich zahlreiche Händler und Handwerker niedergelassen hatten. Vom Licht tausender Öllampen erhellt und erwärmt, war dieser Ort ein vor Leben und Aktivität pulsierender Ort. Sie liebte es, wenn die Händler, deren Stimmen durch die Korridore hallten, ihre Waren anpriesen und Reisende aus ganz Iidrash in fremden Sprachen um den besten Preis feilschten.
Sie sah eine Reisegruppe aus Kitaun und konnte nicht anders, als ihnen hinterherschauen. Es waren drei Priesterinnen des Ordens, mit dem traditionellen Pentacut geschmückt und in leichte Stoffe gehüllt. Kitauner waren keine Menschen. Ihre großen gelben Katzenaugen und ihr wallendes, oft hüftlanges Haar waren eigenartig genug, doch am auffälligsten waren die Farben ihrer Haut, die grundsätzlich den gleichen Ton hatten, wie die Haare. Die drei Priesterinnen vor ihr zeigten ein intensives Blau, ein cremefarbenes Weiß und ein tiefes Nachtschwarz. Sie hatten ihre Haare in komplizierte Zöpfe geflochten und trugen ungewöhnlichen Haarschmuck in Form von Ringen und Bändern. Als die Gruppe in ein kleines Geschäft eintrat, eilte Kujaan an ihnen vorbei.
Bald sehe ich ganz viele Kitauner! Und dann muss ich mal eine dieser Frisuren ausprobieren …
Das Hämmern und Klopfen, Schleifen und Feilen der Gold- und Silberschmiede ließ Kujaan stets innehalten und nicht einmal heute konnte sie der Versuchung widerstehen, einen Blick auf die Waren zu werfen. Doch das war nicht die einzige Versuchung, auf die sie hier traf. Sie liebte die Arbeit eines jungen, charmanten und auf verwegene Art gutaussehenden Silberschmieds, der besondere Haarkämme anfertigte, die er mit dem roten Perlmutt der Dschajna-Muscheln verzierte. Er warf ihr einen langen Blick zu, schon bevor sie seinen Stand erreicht hatte. Kujaan konnte nicht anders, als einen Moment innehalten und in der Auslage stöbern. Sewenas, der Handwerker, der die Kämme anfertigte, begrüßte sie lächelnd. Er kannte Kujaan bereits. Heute legte er seine Arbeit beiseite, holte etwas aus einer Schatulle und trat zu ihr.
»Es scheint, Ihr seid an meinen Kämmen interessiert.«
Kujaan lächelte. »Sie sind wunderschön! Ich muss noch etwas sparen, aber in den nächsten Wochen komme ich vorbei und dann …«, sie hielt überrascht inne, als der junge Silberschmied etwas aus einem Tuch nahm und in ihr schwarzes, hochgestecktes Haar schob. Seine Hände waren kräftig, aber feinfühlig. Er nahm einen Spiegel vom Tisch und übergab ihn Kujaan.
Sie sah den Kamm und riss überwältigt die Augen auf, als sie die filigranen Muster begutachtete. Das dunkelrot und besonders tief leuchtende, makellose Perlmutt in ihrem dunklen Haar schimmerte unvergleichlich. »Oh! Das ist der mit Abstand schönste Kamm, den ihr bisher gemacht habt, Meister!«
»Es ist ein außergewöhnliches Einzelstück. Die Dschajna-Muschel, die dafür ihr Perlmutt spendete, war schwarz. Die Muscheltaucher und Fischer sagen, dies wäre die Königin der Dschajna-Muscheln. Die letzte Muschel dieser Art wurde zu einem Diadem verarbeitet, das ein verliebter Ehemann seiner Braut zu Verlobung gab. Sie lebten lange und glücklich zusammen. Später zeugten sie einen Sohn, der beschloss, seinen Beruf als Krieger zugunsten seiner Leidenschaft aufzugeben.«
Kujaan hing an den Lippen des lächelnden Mannes, der den Sitz des Kammes prüfte und dabei auch seinen Blick an ihrem Hals entlanggleiten ließ.
»Und für welche Leidenschaft gibt ein Krieger seinen Beruf auf?«, fragte Kujaan leise.
»Das Silberschmieden natürlich«, sagte Sewenas lachend.
»Dieser Silberschmied, der einst ein Krieger war, trägt den Namen Sewenas?«
Der Silberschmied, der tatsächlich einst ein Krieger war, lächelte und Kujaan sah ihm einige Momente lang in die Augen, bevor sie den Blick senkte.
»Ihr seid ein geschickter Verkäufer, aber ich habe das Geld für diesen Kamm nicht.«
Sewenas warf ihr einen Blick zu, den sie nicht deuten konnte und Kujaan wurde etwas nervös. Sie machte Anstalten, den Kamm aus ihren Haaren zu entfernen, doch er legte seine Hand auf ihre. Kujaan schluckte. Seine Berührung ließ sie zittern.
»Das kann ich nicht annehmen! Wirklich. Das …«
Sewenas legte ihr einen Finger auf den Mund und schüttelte langsam den Kopf. Kujaan war sprachlos, doch Sewenas füllte die Stille mit leisen Worten.
»Tragt den Kamm für mich! Und falls Ihr möchtet, besucht mich, wenn Ihr von Eurer Reise zurück seid. Bitte!«
Kujaan lächelte und fühlte sich, als würde sie über dem Boden schweben. Sie gab Sewenas einen Kuss auf den Mund und freute sich diebisch, als sie ihn mit einem verblüfften Ausdruck stehen ließ. Sie packte ihre Tasche und winkte ihm zu, als sie ging. Sewenas sah ihr mit leuchtenden Augen hinterher, als sie in einen Tunnel bog.
Ich werde ihm etwas Schönes von Kitaun mitbringen! Ich weiß gerade nicht, ob ich nicht lieber hier bliebe! Aber nein! Die Reise wird bestimmt spannend und aufregend. Und wenn ich zurück bin, wird es noch aufregender mit Sewenas!
Kujaan erreichte in euphorischer Stimmung das Innere Sanctum und absolvierte die rituelle Reinigung mit routinierter Schnelligkeit. Eine Adeptin hatte bereits Anweisungen erhalten und nahm ihr das Gepäck ab, brachte es zum Portal. Eine Ordensschwester verriet ihr, dass die Äbtissin Kujaan bat, beim Portal zu warten. Alle wirkten so verbissen und angespannt, doch Kujaan konnte sich ihre gute Laune durch nichts trüben lassen. Sie betrat die heiligen Hallen und erschrak. Eine Präsenz war anwesend.
Kann es sein? Unsere Göttin ist in Idrak?
Kujaan drehte sich um und sah die Flammen in den Schalen am Eingang brennen. Sie loderten ausschließlich, wenn Sarinaca im Tempel war. Kujaan hatte es in ihrer Aufregung und Vorfreude völlig übersehen. Sie fummelte nervös an ihrem Haar, blieb mit den Fingern an dem Kamm hängen und wusste nicht, wohin damit, da sie dem Protokoll entsprechend keine Robe trug. Sie zupfte ein paar Strähnen darüber und hoffte, dass es niemandem auffallen würde. Eigentlich war es untersagt, persönlichen Schmuck zu tragen, wenn man das Innere Sanctum betrat.
Warum haben mich die Adeptinnen nicht darauf hingewiesen?
Sie ging gemäßigten Schrittes zwischen den Säulen zum Zentrum des Inneren Sanctums, wo sich ein Thron aus erstarrten Flammen vor dem mit Lava gefüllten Abgrund erhob. Sarinaca saß jedoch nicht dort, sondern stand mit der Äbtissin ins Gespräch vertieft vor einem großen Tisch an der Seite. Mehrere Dokumente lagen ausgebreitet darauf.
Oh nein! Ich muss ihr gegenübertreten? Und dass auch noch mit dem auffälligen Kamm im Haar?
Sie ging nervös weiter und betrachtete die Göttin des Feuers verstohlen aus der Ferne. Sie war klein und trug nichts bis auf ein Pentacut, das an allen Stellen mit ihrem Körper verbunden war. Anders als bei den Priesterinnen und Kujaans eigenem magischen Schmuck war das Metall von Sarinacas Pentacut mit der Haut und den Knochen verwachsen. Es schmiegte sich vollständig an ihren zarten Körper, wuchs an Knochenvorsprüngen und Gelenken deutlich daraus hervor und schien von innen heraus zu glühen, als ob es unvorstellbare Energien zurückhielt. Es war mehr ein Teil des Körpers, als etwas, das man nachträglich angefügt hatte. Die langen Haare der Göttin waren schwarz und rot wie glühende Kohlen, ihre Augen leuchteten wie Rubine. Sie beugte sich über den Tisch und wies auf eine Landkarte, auf der die Berge und Ebenen miniaturhaft nachgestellt waren. Es sah aus, als würde man auf ein Modell blicken, nur dass über der Landkarte Wolken schwebten und Kraindrachen umherflogen, ganz so, als würde es sich um einen verkleinerten Ausschnitt der wirklichen Welt handeln. Kujaan hatte so etwas noch nie gesehen. Die Äbtissin, muskulös und groß neben der zierlichen Göttin, stand mit verschränkten Armen daneben und schüttelte den Kopf.
Kujaan hielt in respektvollem Abstand zu Sarinaca und der Äbtissin an und fiel auf die Knie. Sarinaca drehte sich um und warf den Blick ihrer alles durchdringenden Augen auf Kujaan, die sofort das Haupt neigte.
»Steh auf, Kujaan!«
Die Stimme der Göttin war freundlich, aber resonierte machtvoll in Kujaans Ohren. Sie erhob sich und verbeugte sich erneut, bevor sie Sarinaca ansah. Die roten Augen schimmerten geheimnisvoll. Ein Lächeln umspielte die Lippen der Göttin. Noch nie war Kujaan ihr so nahe gewesen. Noch nie hatte sie mit der Göttin des Feuers gesprochen, auch wenn jedes ihrer Gebete seit so vielen Jahren nur ihr gegolten hatte. Ihre Handflächen waren feucht und Schweiß lief ihr Rückgrat hinab. Sie fürchtete, dass sie anfing, vor Nervosität zu zittern.
Passiert das wahrhaftig? Stehe ich vor Sarinaca?
»Komm zu mir, Kind!«
Kujaan zögerte und fühlte sich entrückt. Doch dann erlangte sie den Mut, einen Fuß vor den anderen zu setzen und trat vor ihre Göttin. Sarinaca umfasste Kujaans Schultern und musterte ihr Pentacut.
»Das ist eine solide Arbeit. Ich hatte mit Gritrok, dem Meisterschmied der Shedau‘Kin gesprochen, bevor er sich daran gemacht hat. Es sollte einige Verbesserungen enthalten. Bist du zufrieden damit?
Kujaan schluckte. Die Göttin Sarinaca selbst hatte ihr Pentacut beim Meisterschmied der Zwerge in Auftrag gegeben? Sie erinnerte sich an ihr Initiationsritual und den auffallend alten Zwerg, der mit seinen Hautzeichnungen und seiner Glatze einen furchterregenden Eindruck erweckt hatte.
Sie neigte zur Bestätigung das Haupt. »Ja, oh Sarinaca, Herrscherin über Kabal!«
Sie spürte den Finger der Göttin unter ihrem Kinn und hob den Blick.
»Du wirst dich daran gewöhnen müssen, mit mir zu sprechen, Kujaan. Deine Gemächer werden heute im Laufe des Tages hierher verlegt. Du wirst einen offiziellen Titel im Inneren Sanctum erhalten und neue Pflichten und eine gehörige Portion Verantwortung übernehmen.«
Die Göttin sah den Kamm in Kujaans Haar und lächelte. Sie winkte eine Priesterin herbei und richtete das Wort an sie.
»Sag dem Quartiermeister, er soll ein Gemach mit Doppelbett und Räumen für zwei Personen für die Herrin der Dunklen Flamme vorbereiten.«
Sie entließ die Priesterin mit einem Nicken und wandte sich der erröteten Kujaan zu, die Schwierigkeiten hatte, die rechten Worte zu finden.
Wie peinlich! Aber sie hat ganz anders reagiert, als ich gedacht habe. Soll ich mich jetzt einfach bedanken oder gibt es irgendwelche offiziellen Worte, die mir gerade nicht einfallen? Verdammt!
Sarinaca strich der verunsicherten Kujaan über die Wange und lächelte warm. Ihre Zähne waren makellos aber die Eckzähne waren auffallend lang. Wie bei einem Raubtier.
»Entspann dich! Du wirst heute zum ersten Mal Kabal verlassen, wie ich höre?«
Kujaan räusperte sich vorsichtig. »Das ist richtig, oh Göttin des Feuers!«
Sarinaca und Cendrine lachten leise.
»Die offiziellen Worte benötigen wir hier nicht, Kujaan«, sagte die Äbtissin und fuhr dann fort. »Es wäre ein wenig anstrengend, mit den ganzen »Ohs« und Titeln eine Unterhaltung zu führen, findest du nicht?«
Sie schüttelte erst den Kopf und nickte dann hastig.
Ich bin so dumm, verflucht nochmal!
Sarinaca lachte erneut. »Du hattest recht, Cendrine, sie ist wirklich süß.«
Süß? Sarinaca, die Göttin des Feuers und Herrscherin über Kabal findet mich - süß?
Kujaan runzelte die Stirn und bedachte Sarinaca mit einem verwirrten Blick.
Die Göttin winkte sie zum Tisch herüber und deutete auf die eigenartige Landkarte. »Die Zeit drängt.«
Kujaan trat an den Tisch. Sie entdeckte einen Strom dahinziehender Ameisen, die sich bei genauerem Hinsehen als eine imposante Herde von Bisons entpuppte, die am Rande der Karte dahinzog. Dort ging die Wüste in eine Steppe über. An der Küste lag eine große Stadt, Berge begrenzten ein Tal, das am ehesten einer Sandwüste glich.
»Das ist eine Region Kitauns, mit der Gegend um die Stadt Juragas an der Küste«, erklärte Cendrine und zeigte auf winzige Häuser, Türme und Straßen, auf denen kleine Punkte umherwanderten, die nur Menschen sein konnten. »Hier befindet sich das Kloster der Flammenden Verkündung, die Botschaft des Tempels und Kabals auf Kitaun. Es gibt ein Portal genau hier«, Cendrine deutete auf eine Pyramide, die sich in einiger Entfernung zum Tempel und zu der Stadt erhob und inmitten des sandigen Tals lag. »Diese Straße verbindet das Portal, den Tempel und Juragas. Eine Horde marodierender Wesen ist vor einer Woche durch das Portal gekommen und hat unsere Verbindung zum Kloster und Juragas abgeschnitten.«
Kujaan war überrascht. Im Kloster sollten eigentlich genug Ordensschwestern anwesend sein, um den Wegelagerern innerhalb einer Woche den Garaus zu machen.
»Die Priesterinnen im Kloster sind doch sicher in der Lage, die Kontrolle über die Straßen zurückzuerlangen?«
Sarinaca sah auf. »Sollte man annehmen, nicht? Wir haben in der Tat seit einer Woche nichts von ihnen gehört. Der Planet wird geblockt, was bedeutet, dass das Portal und jeder Zugang per Teleportation unterdrückt wird. Ich werde mit Gewalt das Portal öffnen. Auf diese Weise kann eine begrenzte Anzahl Personen nach Kitaun gebracht werden. Es ist aber gefährlich und ich kann euch keinen Schutz gewähren, da ich das Portal von dieser Seite aus geöffnet halten muss. Du wirst mit Cendrine und so viel Priesterinnen und Mikarianern hindurchtreten, wie möglich. Thanasis wird euch begleiten.«
Der Herr des Schwarzen Labyrinths begleitet uns? Was ist eigentlich passiert? Das sind doch nicht nur irgendwelche Wegelagerer.
»Erlaubt mir eine Frage«, sagte Kujaan zögernd.
»Ich hoffe, es ist mehr als eine«, sagte Sarinaca lächelnd und Kujaan versuchte selbst zu lächeln, doch sie war zu aufgeregt.
Sie sprach mit nervöser Stimme. »Gibt es eine Vermutung, wer hinter dem Überfall steckt? Die Sache klingt sehr ernst.«
»Oh, die Sache ist todernst. Wir haben seit einiger Zeit mit so etwas gerechnet. Dies ist der Vorstoß einer groß angelegten Offensive, die den gesamten Sektor bedroht, nicht nur Kitaun und Kabal.«
Die Bedrohung betrifft auch Kabal?
»Wir vermuten hinter den Überfällen eine unbekannte Macht, die seit einigen Jahrzehnten in die benachbarten Sektoren vordringt und immer mehr Einfluss erhält. Welten, die einst ohne Problem über die Portale erreicht werden konnten, sind nun abgeschnitten, wie es auch mit Kitaun geschieht. Wir müssen das Vordringen dieser Macht mit aller Gewalt zurückhalten. Daher wird Thanasis euch begleiten und auch die Soldaten. Wenn ich nicht ständig den Aufruhr der Nomadenvölker im Norden bekämpfen müsste, sondern deren Unterstützung bei der Verteidigung Kabals erwarten könnte, wäre es möglich, mehr Kräfte nach Kitaun zu schicken. Also sind uns die Hände gebunden, wollen wir Kabal nicht wehrlos zurücklassen. Zum Glück sendet uns Ihadrun dreizehn seiner besten Sjögadrun zur Hilfe, doch die Nomaden sind ein Problem, das seine und meine volle Aufmerksamkeit benötigt. Disdahal behauptet, er hätte die Sjögadrun mit einer besonderen Macht ausgestattet und gewährt so seine Form von Unterstützung. Der Namenlose Abgrund kann uns in diesem Fall nicht helfen.«
»Und die Echsen?«, fragte Kujaan.
»Die Echsen …«, Sarinaca seufzte, »Die Sidaji sind uns keine große Hilfe. Immerhin schützen sie ihr Reich und die umliegenden Inseln vor allen Angriffen. Ich habe auch mit Kukulkan gesprochen, jedenfalls so weit das möglich ist. Er wird vornehmlich seine Sidaji verteidigen, aber wenigstens überwacht er den Himmel über Kabal, so viel dürfte sicher sein.«
Cendrine zeigte auf die Pyramide. »Wir werden in Gruppen durch das Portal nach Kitaun springen. Es ist notwendig so zu handeln, falls das Portal zusammenbricht, bevor alle hindurch sind. Danach müssen wir ohne das geringste Zögern zum Kloster vordringen. Sobald wir es zurückerobert haben, werden wir die Gegend um Juragas sichern. Es ist entscheidend, dass wir eine besondere Vorrichtung finden.«
Kujaan nahm eine Schriftrolle von Sarinaca entgegen, auf der ein Gebilde illustriert war, das anfing, sich zu drehen, sobald Kujaan es ansah. Es war, als würde sich die Zeichnung selbst auf dem Papyrus bewegen. Sie kannte diese Art Schriftrollen aus den Archiven und prägte sich die Form des eigenartigen Artefaktes ein. Es sah aus wie ein Juwel auf drei Beinen, aus dem in regelmäßigen Abständen Dornen herauswuchsen. Eine Person war als Größenmaßstab daneben abgebildet. Das Artefakt musste hoch wie zwei Häuser sein, jede seiner Stützen dick wie ein alter Baum. Die Schrift auf der Papyrusrolle war ihr nicht geläufig, daher konnte sie die Beschreibung nicht lesen.
»Sein Name ist Gaar. Es dient der Blockierung der Portale und schirmt auch gegen die Teleportation ab. Wir müssen es finden und zerstören«, sagte Cendrine.
»Was soll ich tun? Ich komme mir nicht so vor, als könnte ich besonders hilfreich sein«, sagte Kujaan und sah die Äbtissin hilflos an.
Cendrine warf Sarinaca einen vielsagenden Blick zu. Kujaan wunderte sich darüber, dass Cendrine mit der Göttin umging, als handelte es sich um eine gleichberechtigte Person. Die Äbtissin war bekannt für die Festigkeit ihres Glaubens, doch hier erkannte Kujaan, dass sie diese Frau nicht wirklich kannte. Dies war nicht nur ihre Lehrerin und die zweitmächtigste Person auf Kabal. Sie ging auch mit Sarinaca vertraulich um und die Göttin selbst begegnete Cendrine wie einer guten Freundin, nicht wie einer Untergebenen. Kujaan verwirrte das sehr.
»Klär sie auf, oder ich mach‘s!«, sagte Cendrine.
Kujaan ließ den Mund herunterklappen und Cendrine versteifte sich, als sie den ungläubigen Blick der jungen Frau auf sich spürte. Zu Kujaans vollkommener Verblüffung willigte Sarinaca ein.
»Du trägst eine große Macht in dir, mein Kind. Wir kennen unseren Gegner und wir wissen, dass er über dieselbe Macht verfügt. Du bist unsere Geheimwaffe in diesem Kampf. Wir alle, mich eingeschlossen, müssen darauf vertrauen, dass du die Dunkle Flamme nutzen wirst, um uns in dieser Auseinandersetzung zu unterstützen.«
Kujaan sah Sarinaca ernst an. Sie fühlte sich seltsam. Die Macht der Dunklen Flamme war ihr als ein Segen der Göttin erschienen. Doch nun fragte sie sich, wie viel davon Berechnung war. Welche Rolle spielte sie in diesem Kampf, der scheinbar schon seit einiger Zeit wütete? Wurde sie nur benutzt? Nein, so durfte sie das nicht sehen! Sie straffte sich. Solche Gedanken waren frevelhaft. Sie hatte eine Kraft erhalten und natürlich nicht zu ihrem persönlichen Vergnügen, sondern zum Wohl des Ordens und Kabals.
Kujaan neigte das Haupt. »Die Macht der Dunklen Flamme zu tragen ist eine große Ehre. Ich werde meinen Dienst für den Orden mit Stolz leisten und sein Fortbestehen mit meinem Leben verteidigen, wenn es sein muss!«
Sarinaca lächelte, doch die Falte zwischen ihren Augen blieb erhalten. Sie nickte und ignorierte Cendrines starren Blick.
Sie beendeten die Besprechung als Thanasis zu ihnen trat. Er wechselte einige Worte mit Cendrine, während Sarinaca Kujaan beim Arm erfasste und zum Portal hinüber geleitete.
»Ich weiß nicht, was dich auf Kitaun erwartet. Halte fest an allem, was dir wichtig ist, was du liebst und verehrst, wenn du gegen den Feind vorgehen musst«, Sarinaca berührte den Kamm in Kujaans Haar, »Und denke dran, hier wartet jemand auf dich. Darf ich fragen, wer das ist?«, sagte die Göttin mit einem verschwörerischen Lächeln.
Kujaan lächelte zaghaft. Wie konnte man seiner Göttin eine Bitte abschlagen? »Es ist Sewenas, ein Silberschmied. Er macht die schönsten Kämme.«
Sarinaca streichelte über Kujaans Wange. »Ich kann schon verstehen, warum dieser Sewenas einen Narren an dir gefressen hat.«
»Ich danke euch. Eure Worte sind meiner nicht würdig.«
»Oh doch, Kujaan. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass Sewenas nichts geschieht, während du fort bist. Deine Konzentration darf nicht unter Sorgen leiden. Gibt es noch etwas, das ich für dich tun kann?«
Kujaan sah auf. Die Göttin meinte es ernst.
»Meine Familie. Ich …«
»Ich kümmere mich darum, dass man über sie wacht. Noch etwas?«
Kujaan schüttelte den Kopf.
»Dann überlass ich dich jetzt deinen Reisevorbereitungen.«
Sarinaca ging mit einem Lächeln fort, erteilte einer hochrangigen Priesterin einige Anweisungen und sprach dann mit Thanasis und der Äbtissin. Wenige Augenblicke später eilte eine Ordensschwester zu der Gruppe und deutete auf den Eingang. Dreizehn Mädchen standen dort. Man hatte ihnen gestattet, ihre Kleidung anzubehalten, denn es waren die Sjögadrun, die Eishexen aus den Frostreichen, die Ihadrun, der Gottkaiser, wie ihn seine Untertanen zu nennen pflegten, zur Unterstützung gesandt hatte. Der Titel war ein Affront gegenüber dem Orden und Sarinaca, doch die Göttin und Ihadrun waren seit langer Zeit Verbündete. Sarinaca duldete die Bezeichnung offiziell, um den Aufstand der Nomadenvölker nicht weiter zu schüren, denn wenn Ihadrun sie endlich besiegte, brauchten sie einen mächtigen Herrscher, keinen Vasallen des Ordens aus Iidrash. Kujaan hielt das für etwas zu viel Gnade und Entgegenkommen gegenüber den Aufständischen. Wie konnten sie gegen die Göttin des Feuers rebellieren? Sie war hier, sie wachte über Kabal. Warum sich dagegen erheben? Die Nomaden erschienen ihr arrogant und primitiv gleichermaßen.
Die Sjögadrun wirkten fremdartig auf sie, aber sie waren ganz anders als die nicht sesshaften Völker des Nordens. Zivilisiert, gebildet, gepflegt, aber in allem nicht ganz so hoch entwickelt wie die Bewohner Iidrashs. Sie musterte die Eishexen. Die blassen und sehr jung aussehenden Frauen waren oft viel älter, als es ihr Erscheinungsbild vermuten ließ. Sie hatten weiße, hellblaue, manchmal auch rote oder blonde Haare. Ihre Kleidung sah fest und warm aus, nicht vergleichbar mit den luftigen Stoffen, die Männer und Frauen in Iidrash bevorzugten. Die Sjögadrun sahen sich unsicher um. Sie trugen alle Rucksäcke, die auf einem Gestell aus Holz auf ihrem Rücken befestigt waren. Ihre Kleidung war ein bisschen schmutzig und sie sahen müde aus. Vermutlich waren sie eben erst mit Kraindrachen in den Tempel gelangt.
Kujaan ging zum Portal, sah ihre Tasche dort und öffnete sie. Ihre Robe lag darauf und sie nahm an, dass es angesichts der bevorstehenden Reise mit dem Protokoll vereinbar war, wenn sie sich ankleidete. Sie vergewisserte sich, dass der Kamm fest in ihrem Haar steckte und lächelte beim Gedanken an Sewenas.
Die Eishexen wurden von einer Priesterin zu Sarinaca geleitet, die auf ihrem Thron Platz genommen hatte. Ordensschwestern höheren Ranges bezogen neben ihr Aufstellung. Die Sjögadrun knieten nieder und neigten dem Protokoll entsprechend das Haupt vor der Göttin. Eine Frau mit hellblauen Haaren und auffallend edler Kleidung erhob sich vor Sarinaca, die ihr zunickte. Kujaans Interesse war geweckt. Sie näherte sich, so weit es möglich war und versuchte den Worten zu lauschen, die zwischen Sarinaca und der imposanten jungen Frau gewechselt wurden.
»Mein Vater entsendet Grüße, oh Göttin des Feuers, Herrscherin über Kabal. Ich bringe euch die Unterstützung der Frostreiche und leite die zwölf Tjolfin an. Unsere Macht und Loyalität dem Orden und Kabal!«
Die zwölf Frauen riefen aus ganzer Kraft und mit erstaunlich kräftiger Stimme ein langes und kehlig klingendes Wort, das Kujaan nicht verstand. Offenbar handelte es sich um einen Treueschwur in einer der alten Sprachen der Frostreiche.
Sarinaca nickte und ließ von den Priesterinnen Amulette an die Sjögadrun austeilen. Es waren goldene Anhänger mit dem Symbol Sarinacas darauf. Damit waren die Sjögadrun offiziell dem Orden unterstellt. Die junge Frau mit hellblauen Haaren lächelte, als Sarinaca vertraut auf sie zutrat und stille Worte mit ihr wechselte, die Kujaan nicht verstehen konnte. Sie hielt eine Priesterin auf, die an ihr vorbeiging und fragte nach dem Namen der Eishexe.
»Oh, das ist Jenara, Ihadruns Erstgeborene. Er schickt sie mit den Sjögadrun zu uns, um sich als loyaler Verbündeter zu erweisen. Möglicherweise ist er es auch. Es heißt, er liebt seine Tochter sehr. Sie ist aber auch seine imposanteste Waffe. Man sagt, ihre Macht sei immens. Sie ist älter, als es den Anschein hat, müsst ihr wissen.«
Kujaan bedankte sich bei der Priesterin, die weitereilte.
Einige Minuten später trat Cendrine mit dem Herrn des Schwarzen Labyrinths zu ihr. Seine Minotaurengestalt war furchteinflößend und der Blick seiner roten Augen jagte Kujaan einen Schauer über den Rücken.
»Mein Herr Thanasis«, sagte Kujaan und neigte das Haupt.
Der Minotaur tat es ihr gleich und seine Stimme erdröhnte so tief, dass Kujaan sie in ihrem Bauch spürte.
»Herrin der Dunklen Flamme.«
Sie gingen gemeinsam zum Portal und die versammelten Soldaten nahmen Aufstellung an, als sie Thanasis mächtige Gestalt sahen. Es waren Mikarianer, viele von ihnen Kentauren, die das Zeichen Mikars - einen Speer, der ein Huf kreuzte - als Spange oder Amulett trugen. Kujaan schätzte, dass es rund zweihundert waren. Gut fünfzig Priesterinnen hatten sich ebenfalls vor dem Portal versammelt. Cendrine sprach zu ihnen und ließ sie Aufstellung nehmen. Je vierzig Mikarianer und zehn Ordensschwestern bildeten eine Staffel. Das Ziel war es anscheinend, die Gruppen so zu teilen, dass auf jeden Fall Soldaten und Priesterinnen hindurchkamen, auch wenn das Portal vorzeitig zusammenbrechen sollte.
Als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, deutete Cendrine mit der Hand auf das Portal. Die Äbtissin konzentrierte sich und gestikulierte. Endlich öffnete es sich und Flammen schossen impulsiv daraus hervor. Thanasis erteilte den Mikarianern Befehle. Er sah zu Sarinaca hinüber und nickte. Sie trat vor das Portal und erhob sich in die Luft.
Kujaan spürte ein Vibrieren in der Atmosphäre, ein Aufbäumen der Elemente, wie sie es nie zuvor gespürt hatte. Flammen schossen aus dem Lava-Abgrund und ein Donnern fuhr durch das Gestein des Berges Idrak. Sie wechselte in die Aurasicht und erstarrte vor Angst. Sarinaca bündelte die Kraft aller fünf Elemente auf einmal und formte mit unvorstellbarer Gewalt einen Weg, der sich wie ein Stachel durch das Portal bohrte. Ihre Aura glühte so machtvoll, dass der Anblick in den Augen schmerzte und schlichtweg unerträglich wurde. Kujaan ließ die Aura-Sicht fallen und spürte ihr Herz klopfen, als das Leuchten die Halle des Inneren Sanctums erhellte.
Über Hand und Meißel wird das Wirken Sarinacas an diesem Tage seinen Weg in die Reliefs der Mauern Idraks finden! Dies ist ein Tag, den ich nicht vergessen will …
Kujaan war voller Stolz und fühlte ein Gefühl der Erhabenheit, als sie ihre Göttin in der Luft sah. Sarinacas Gestalt war zu einem weißleuchtenden Energiewesen geworden, das übergroß und grell scheinend über dem Portal schwebte. Alle Anwesenden außer Cendrine und Thanasis schirmten ihre Augen ab. Kujaan war überrascht, dass sie selbst noch imstande war, etwas zu sehen. Sie erschauerte bei dem Gedanken an die Macht der Göttin, die das Gefüge des Universums zerriss und nach ihrem Wunsch neu ordnete, um einen Weg durch die Sterne weit hinaus bis Kitaun zu ebnen.
Ihre Macht ist ungeheuerlich! Wie muss es sein, so etwas zu spüren?
Ein Kreischen ertönte und die leuchtende Gestalt Sarinacas flackerte ein wenig. Das Kreischen nahm an Intensität zu und viele der Soldaten hielten sich die Ohren zu.
Das muss die Barriere sein, das Gaar. Irgendwo auf Kitaun steht das Artefakt in diesem Augenblick und versucht der Macht unserer Göttin zu widerstehen! Es wird ihm nicht gelingen!
Sarinacas Gestalt leuchtete intensiv auf und ein Grollen rumpelte durch das Gestein des Gebirges über ihren Köpfen. Etwas Staub und einige lose Steine fielen herab. Das Kreischen brach ab und Kujaan hörte unruhige Stimmen überall in der Halle.
Der Weg nach Kitaun war geebnet, der feurige Tunnel, den Sarinaca ins Gefüge von Raum und Zeit gestoßen hatte, lag unbeständig zitternd vor ihnen. Kitaun war weit entfernt, das Ende des Tunnels daher nicht zu sehen.
»Das wird kein Spaziergang. Wir müssen uns beeilen!«, rief Thanasis und brüllte den Soldaten Befehle zu. Der erste Tross mit zehn Priesterinnen in der Mitte marschierte zügig voran und Kujaan schlang sich ihre Tasche über die Schulter.
Sobald die Soldaten den Tunnel erreichten, wurden sie hineingerissen und fortgeschleudert. Viele von ihnen schrien. Ob vor Überraschung oder Schmerz, konnte Kujaan nicht sagen, bis sie an der Reihe war. Ihr Herz klopfte wie wild in ihrer Brust. Thanasis brüllte Befehle und Cendrine packte unvermittelt Kujaans Hüfte mit einem kräftigen Arm. Die Äbtissin sprang mit ihr in einem mächtigen Satz über die Soldaten hinweg mitten hinein ins Portal. Kujaan schrie auf, als die Energien des Tunnels nach ihr griffen und schmerzhafte Impulse in ihre Nerven sandten. Sie klammerte sich an Cendrine fest, die unbeeindruckt und mit großer Kraft durch den Tunnel voranschnellte. Sie blickte zurück und sah einen dunklen Schattenriss am Eingang des Tunnels erscheinen. Es war Thanasis. Etliche der Soldaten und Priesterinnen folgten, doch das Gefüge der infernalischen Röhre zitterte und erbebte. Kujaan bekam immer wieder Atemnot und hatte das Gefühl, das die Luft ungewöhnlich dünn war. Ihr Kopf sandte ein Schwindelgefühl in ihren Magen, die Hitze um sie herum war erstickend. Ihr Herz raste, als die feurigen Wände um sie herumrotierten und der Tunnel wie ein Wirbelsturm hinabfiel.
Sie schrie laut auf und fühlte eine ungeheuerliche Angst. Sie befürchtete, die Kontrolle über ihre Blase zu verlieren, doch der Gedanke daran, die Äbtissin mit ihrem Urin zu beschmutzen, ließ sie zusammenzucken. Sie riss die Augen auf und stellte sich der Todesangst. Wenn sie schon sterben musste, dann wollte sie nicht jammernd und weinend dahingerafft werden.
Die Äbtissin jagte mit rasender Geschwindigkeit voran und sie überholten die Soldaten, die vor ihnen in den Tunnel gestürzt waren. Die Männer schrien in Entsetzen und Kujaan sah, wie einer von ihnen eine Fontäne Blut ausspuckte. Sein Körper erzitterte und trudelte darauf in die Tunnelwand, wo er verglühte.
Das kann nicht richtig sein! Sarinaca! Steh uns bei!
Die Luft wurde noch dünner und Kujaan schwanden einen Moment die Sinne. Danach sah sie, wie Thanasis zwei Männer packte und davon abhielt, in den Flammen zu verglühen, die jetzt immer wieder aus den Wänden hervorschossen und nach ihnen leckten wie gierige Zungen. Eine dieser Flammen hüllte die Äbtissin und Kujaan ein und ihr blieb für einen Lidschlag die Luft zum Atmen weg. Sie spürte die Macht des Pentacuts, das rot aufleuchtete und sie vor dem sicheren Tod bewahrte. Kujaan blickte zurück und sah, wie der Anfang des Tunnels verschwand. Die Wände brachen ein, fraßen einander auf und verschlangen jeden, der dazwischen geriet.
»Der Tunnel! Er bricht in sich zusammen!«, brüllte Kujaan und Cendrine warf einen schnellen Blick zurück.
»Wir sind fast da! Halt dich fest!«
Sie schossen in einer brüllenden Feuersbrunst aus dem Tunnel in eine eiskalte, finstere Halle. Cendrine setzte Kujaan ab und fing die Männer und Frauen auf, die aus dem Tunnel hervorschossen. Viele von ihnen waren ohnmächtig oder gar tot. Kujaan sammelte sich und half Cendrine, so gut sie konnte. Als Thanasis aus dem Tunnel schwebte, zwei Mikarianer unter den Armen, brach der Weg hinter ihm zusammen. Die Flammen waren plötzlich fort und eine bedrohliche Stille und undurchdringliche Dunkelheit lag in der Halle, nur durchbrochen vom Stöhnen und Jammern der Verletzten. Die Priesterinnen, geschützt durch die Macht des Pentacuts, hatten die Reise besser überstanden als die Männer und ließen Lichter in der Luft erscheinen, die die Halle erleuchteten. Kujaan zählte zwölf Männer und acht Priesterinnen. Die Verluste waren verheerend. Cendrine richtete ihre Hand zum Portal, das hier dreieckig und aus Bronze errichtet war.
Ihre Stimme zitterte. »Das ist Irrsinn! Wir können die anderen nicht da durchholen!«
Cendrine sah sie mit festem Blick an. »Es geht nicht anders. Und jetzt sei still! Ich muss mich konzentrieren.«
Thanasis trat neben sie und erhob ebenfalls seine Hand. Sie konzentrierten sich darauf, das Portal zu öffnen, um Sarinaca zu Tunerstützen. Mit einem Mal brachen die Flammen neuerlich daraus hervor. Der lange Tunnel entstand ein weiteres Mal und die Wände der Pyramide, in der sie sich nun befanden, zitterten und knirschten von der brutalen Beanspruchung, die das wahnsinnige Unterfangen mit sich brachte.
Kujaan schüttelte den Kopf und stolperte entsetzt zu den Verletzten hinüber. Die Priesterinnen waren nicht weniger durcheinander als sie, doch die Älteren gaben Befehle und auch einige der Soldaten standen jetzt auf und halfen ihren Kameraden. Kujaan erwirkte Heilungen, wo sie konnte und spürte, dass die Beschaffenheit Kitauns eine andere war, als die ihres Heimatplaneten. Die Elemente reagierten unterschiedlich auf ihre Befehle und fügten sich nur widerwillig. Dennoch gelang es ihr, drei Soldaten von Verbrennungen zu heilen. Die Männer erhoben sich bald, und als laute Stimmen vom Portal herüberschallten, wusste Kujaan, das der nächste Tross herüberkam. Diesmal waren es kaum mehr Männer und Frauen als das letzte Mal, bevor der Tunnel erneut zusammenbrach und Kujaan sah mit blankem Entsetzen auf die verbrannten Arme, Beine und Gesichter der Soldaten. Einer war ohne Kopf und mit verkohltem Leib durchgekommen. Thanasis hatte seinen Körper zur Seite geschafft. Sie hörte das Schreien der Verletzten, roch den abscheulichen Geruch angesengten Fleisches und taumelte im Beben des Bodens. Sie schrie auf, als ein Steinbrocken ihren Kopf traf, und rannte voller Panik in eine Ecke der Halle. Sie weinte, zitterte am ganzen Körper und war entsetzt, als Cendrine erneut die Hand erhob, um das Portal von Neuem zu öffnen. Fauchend schossen die Flammen daraus hervor und der Tunnel formte sich abermalig bebend und zitternd. Die Pyramide gab knirschende Geräusche von sich, während Staub und Mörtel von der Decke in die Halle fielen. Thanasis konnte der Äbtissin offenbar nicht helfen, also fing er die Männer und Frauen auf, die bewusstlos aus dem Portal flogen. Er erteilte Befehle, während Cendrine mit geschlossenen Augen und erhobenen Händen alles daran setzte, den Tunnel zu stabilisieren. Kujaan wischte ihre Tränen fort.
Ich muss mich zusammenreißen! Ich muss meine Angst überwinden! Hoch mit dir, Kujaan!
Sie eilte zu Thanasis.
»Kann ich irgendetwas tun?«
»Eventuell könnt ihr Cendrine unterstützen. Ich kann zwar ein Portal öffnen, doch was Cendrine dort macht, übersteigt meine Fähigkeiten.«
Kujaan schluckte und sah zur Äbtissin hinüber. Sie wechselte in die Aura-Sicht und erkannte, dass sie die statische Energie des Erd-Elementes nutzte, um den Tunnel zu beruhigen. Sie trat mit klopfendem Herzen neben Cendrine, die nur kurz die Augen öffnete und dann einige angestrengte Worte murmelte.
»Schau genau hin … ich brauche Deine Hilfe!«
Kujaan sah die Bemühungen der Äbtissin und fühlte, dass sie tatsächlich dringend Unterstützung brauchte. Die Röhre vibrierte bereits. Kujaan hob die Arme und rief die Macht der Dunklen Flamme in ihre Fingerspitzen. Ihr Bewusstsein erfasste mit einem Mal die Struktur des Tunnels, erkannte die Schwachstellen und stärkte sie mit Energie, die sie den Tiefen des Planeten entzog. Sie pumpte die Kraft Kitauns, die ein unerschöpfliches Potential bot, in ungeheuerlichen Mengen in den Verbindungsweg zwischen den Welten. Es reichte aus, aber nur knapp. Ein neues Beben erschütterte den Boden der Pyramide, doch der Tunnel hielt diesmal stand. Immer mehr der Mikarianer und Priesterinnen schwebten jetzt durch das Portal, Kujaan sah ihre Essenzen im Inferno der Feuerröhre wie die Funken eines Lagerfeuers hervorschießen und fühlte ihre Gegenwart die Halle füllen. Es verlangte sie danach, die Lichterfunken zu berühren, doch sie wusste auch, dass das falsch gewesen wäre.
Sie sind nah! Du brauchst die Kraft dringender als sie! Nimm dir, was dir zusteht!
Kujaan schüttelte den Kopf und vertrieb die eigenartigen Gedanken, die sich ihrer bemächtigt hatten. Sie spürte den Nachhall einer Gier nach Energie, die sie sich nicht erklären konnte. Sie atmete ruhig und das falsche Gefühl verflog.
Nach einer Ewigkeit, wie es ihr schien, legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Es war Cendrine, die erschöpft neben ihr stand und ihr lächelnd zunickte.
Kujaan sah sich um und entdeckte viele Mikarianer und Priesterinnen. Man hatte die Verletzten aufgereiht, heilte wo möglich und nötig die schlimmsten Verwundungen. Die Eishexen hatten sich unter die Priesterinnen gemischt und Kujaan sah Jenara über einem Mann knien, dessen Bein verkohlt war. Sie legte die Hände darauf und ein Eispanzer wuchs über die verbrannte Haut des Kriegers, der sofort erleichtert schien. Kujaan sah ein Leuchten inmitten des Eises und einen Moment später zerfloss das Eis zu Wasser. Das Bein darunter war noch gerötet, aber der Mann bewegte es und bedankte sich überschwänglich bei Jenara, die sofort zum nächsten eilte.
»Wir haben es geschafft. Wir sind drüben«, sagte Thanasis. Ein Mikarianer trat zu ihm.
»132 Soldaten, 33 Ordensschwestern, 13 Sjögadrun, mein Herr!«
Thanasis nickte und entließ den Mann. »Das ging nicht so gut, wie vermutet, aber nach dem ersten Durchgang hatte ich mit schlimmeren Verlusten gerechnet. Ihr habt hervorragende Arbeit geleistet!«, sagte Thanasis und sah dabei zu Kujaan.
Sie machte eine nervöse Geste. »Es beschämt mich, dass ich anfänglich in Panik verfallen bin. Verzeiht mir bitte!«
Sie spürte Cendrines Hand auf der Schulter.
»Das ist schon in Ordnung. Das nächste Mal zögere nicht, die Macht der Dunklen Flamme einzusetzen.«
Kujaan spürte ein Auflodern des Verlangens in ihr, als Cendrine die Dunkle Flamme erwähnte.
»Ich werde nicht noch einmal zaudern!«
Thanasis durchquerte die Halle und befahl den Mikarianern, Aufstellung zu nehmen. Er schritt ihre Reihen ab, die schnell von den Geheilten verstärkt wurden. Kujaan sah eine Gruppe toter Soldaten in einer Ecke der Halle liegen. Andere waren im Tunnel verendet, als dieser anfänglich zusammengebrochen war. Hätte sie rascher reagiert, wäre das zweite Zusammenbrechen womöglich vermieden worden. Sie hockte sich neben die Toten und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. All jene, die im Tunnel zwischen den Welten gestorben waren, wurde nicht einmal diese würdelose Aufreihung in einer kalten Halle fern ihrer Heimat zuteil.
Ich darf nie wieder in Panik verfallen! Ich muss stark sein! Ich muss die Macht der Dunklen Flamme nutzen, ohne Zögern, ohne Überlegung …
Sie wischte sich mit einem Zipfel ihrer roten Robe den Rest des zerlaufenen Lidstrichs von den Wangen, den sie sich heute Morgen aufgetragen hatte, und nahm ihre angesengte Tasche ab. Der Inhalt war durch ein großes Brandloch herausgefallen. Mit einem Mal dachte sie an den Kamm. Sie griff in ihr Haar - da war er! Wie durch ein Wunder war er stecken geblieben. Sie steckte ihn erneut ins Haar und dachte an Sewenas. Der Gedanke an seine starken und sanften Hände tröstete sie. Diese Reise verlief ganz anders, als sie noch vor Stunden angenommen hatte, doch wenn sie zurückkehrte, dann wollte sie in Sewenas Arme sinken und sich fallen lassen. Bis dahin musste sie jedoch stark sein, kämpfen, wie nie zuvor.
Kujaan erhob sich. Sie warf die verbrannte Tasche fort, sah, dass ihre Robe in verkohlten Fetzen herabhing, nahm sie ab und bedeckte den Körper eines toten Mannes damit. Sie trat zu Cendrine, die in diesem Augenblick ihre Rüstung und die Sengende Klinge herbeirief. Die Äbtissin sah entschlossen und mächtig aus. Kujaan wollte ein Beispiel an ihr nehmen.
Thanasis trat zu ihnen, begleitet von einem Hauptmann und einer ranghohen Priesterin. Er trug keine nennenswerten Waffen, nur ein kleines Messer an seinem Gürtel. Kujaan wusste jedoch, dass Thanasis jedem Sterblichen überlegen war und keine Waffen benötigte. Sie war nun froh, dass er sie begleitete.
»Die Pyramide ist verschlossen, wir werden das Tor mit Gewalt öffnen und uns einen Überblick über die Lage verschaffen.«
Thanasis eilte mit dem Hauptmann davon. Sie verschwanden in einem Tunnel, der aus der Halle hinausführte. Cendrine erteilte der Priesterin Befehle.
Kujaan wollte sich nützlich machen, doch niemand sagte ihr, was als Nächstes zu tun war. Sie überlegte, kam zu dem Schluss, dass sie außerhalb der Pyramide womöglich einem unbekannten Gegner gegenüberstanden, und versuchte sich vorzustellen, wie dieser aussah. Dann fielen ihr Sarinacas Worte ein. Die Göttin hatte sie als »Geheimwaffe« bezeichnet. Die Macht der Dunklen Flamme war etwas, das sie mit ihrem Feind teilte. Kujaan überlegte, wie sie die Dunkle Flamme gegen verschiedene Gegner einsetzen konnte, und prägte sich ein, nicht vor Angst zu erstarren. Ihr Zögern sollte nie wieder jemandem das Leben kosten. Sie dachte an den Hunger nach Energie, den sie verspürt hatte, als sie die Dunkle Flamme benutzt hatte, um den Tunnel zwischen den Welten zu stabilisieren. Es hatte sich angefühlt, als ob die sie nach der Lebensenergie der Menschen getastet hätte.
»Kujaan, komm mit, das Tor ist offen und Thanasis wartet auf uns!«, Cendrine winkte ihr und Kujaan folgte ihr durch den Korridor hinaus in eine sternenklare Nacht. Der Himmel zeigte fremde Konstellationen und ein kleiner Vollmond hing rechter Hand über den Gipfeln eines nahen Gebirgszuges. Das Tal, in dem sie standen, wurde links und rechts von Bergen gesäumt, von denen Kujaan wusste, dass sie bis zum Meer vor ihnen reichten. In der Dunkelheit war der Horizont nur ein blasser Schimmer. Die Stadt Juragas war weit entfernt, nahe der Küste. Etwa dort, wo der Mond über den Bergspitzen zu sehen war, musste das Kloster liegen. Das Tal vor ihnen war trocken und nur spärlich bewachsen, mehr eine Wüste. Kujaan spürte den Sand unter ihren Füßen. Er war weich und kalt.
»Hier entlang!«, rief Thanasis und der Tross setzte sich in Bewegung. Die Priesterinnen sondierten die Umgebung, die Mikarianer umgriffen fest ihre Waffen. Vor ihnen lag eine breite, halb von Sand begrabene Straße, deren rissige Oberfläche aus einer einzigen Schicht geformt worden war. Kujaan erkannte, dass es sich um Glas handelte. Man hatte den Wüstenboden verbrannt, wie es der Orden auf ganz Iidrash seit langer Zeit tat. Die Straße gabelte sich direkt vor ihnen und sie erinnerte sich an die Karten, die Sarinaca ihr gezeigt hatte. Die Straßen zwischen der Pyramide, dem Kloster und Juragas bildeten ein Dreieck. Sie folgten der Glasstraße, die sie zum Kloster der Flammenden Verkündung führte.
»Ich habe zwei Trupps mit Spähern ausgesendet, unter ihnen magisch begabte Männer. Wir werden geradewegs zum Kloster vordringen, jeden Widerstand bezwingen und versuchen, dort ein Lager zu errichten. Eine Gruppe Kentauren habe ich nach Juragas geschickt, damit sie ein Auge auf die Situation werfen.«
Ein Ton unterbrach ihr Gespräch. Thanasis hob seinen Armreif, aus dem eine Stimme ertönte. Es war eines der alten Fernsprechgeräte, von denen nur noch wenige existierten.
»Mergoth hier, mein Herr! Wir sind auf ein Gasthaus gestoßen, das vollkommen zerstört worden ist. Selbst die Kinder wurden … sie sind alle verbrannt, mein Herr, aber nicht innerhalb des Gebäudes. Es sieht aus, als wären sie von den Flammen erfasst worden, wo sie gingen und standen. Aber keine Spur von den Angreifern.«
»In Ordnung, Mergoth. Haltet die Augen offen! Weitermachen!«
»Jawohl, mein Herr!«
Sie setzten ihren Marsch zum Kloster fort und folgten der alten Straße durch die kalte Nacht der Wüste, die sich in einer weiten Ebene um sie herum ausbreitete. Im Verlauf der nächsten zwei Stunden, die sie angespannt und in Erwartung einer Attacke verbrachten, wollte kein Gespräch aufkommen. Männer und Frauen schwiegen, hielten die Ohren offen und lauschten auf jedes Geräusch. Die Stille war beinahe absolut, kein Tier war zu hören. Nur der Wind strich zuweilen in einer leichten Brise über den Sand und trieb trockenes Geäst über den glatten Boden der Glasstraße. Der Weg führte sie in den Schatten der steilen Tafelberge, an deren Fuß sich das Kloster anschmiegte. Kujaan sah in der Ferne ein Licht und glaubte, die Mauern eines ausgedehnten Bauwerks zu erkennen.
Thanasis ging der Gruppe voran und Kujaan sah, wie er in sein Armband sprach. Er blieb stehen und wartete auf sie.
»Die Späher haben das Kloster gefunden. Es scheint belagert zu werden. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass wir entdeckt worden sind. Wir greifen sofort an.«
Cendrine nickte und rief den Priesterinnen Befehle zu. Der ganze Tross eilte im Laufschritt voran. Sie drangen tiefer in die Schatten des Tafelberges vor und erreichten bald eine Senke, die sich vor dem Kloster ausbreitete. Im Halbdunkel erkannte Kujaan ein Heerlager, das in tausend Schritt Abstand vor den Mauern des Klosters lag. Das Bauwerk des Ordens war ein imposanter, aber wenig wehrhafter Bau, der aus vielen Säulengängen und offenen Terrassen errichtet worden war. Weite Teile des Gebäudes waren zerstört. Im vorderen Bereich erkannte Kujaan schwach, was eine Art Oase gewesen sein musste, mit Wandelgängen und schattenspendenden Lauben. Feuer hatten darin gewütet und alles Lebendige vertilgt. Zahlreiche Leichen lagen verstreut auf dem Gelände.
Thanasis eilte voran und teilte die Kentauren ein, die in einem Trupp zur Flanke des Heerlagers preschten. Im Lager vor ihnen regte sich endlich etwas. Niemand hatte mit einem Angriff gerechnet, doch jetzt erklang ein eigentümliches Horn. Lichter entfachten und eigenartiger Lärm ertönte. Mit einem Mal rannte der Tross los. Blitzende Vögel mit starren Flügeln erhoben sich und sausten ihnen entgegen.
»Sie haben Flugmaschinen! Holt die Dinger aus der Luft!«, brüllte Cendrine und sprang mit einem gewaltigen Satz auf eines der geflügelten Metallmonster, die Kujaan einen gehörigen Schrecken einjagten.
Nicht zögern! Tu, was Cendrine befohlen hat!
Kujaan rief die Macht der Dunklen Flamme herbei und erhob sich in die Luft. Ihre Wahrnehmung erfasste ein dünnes Band, das zwischen den Maschinen und einem Zelt auf dem Lager verlief. Sie folgte dem Band und schoss wie ein Blitz über das Lager. Unter ihr stießen die Truppen des Feindes, menschenähnliche Wesen in Rüstungen, auf die Mikarianer. Sie erreichte das Zelt, aus dem eine lange schmucklose Stange in den Himmel ragte, und warf ein heiß brennendes Feuer auf den Stoff des Zeltdaches. Schreie ertönten aus dem Zelt und Kujaan sah die Lebensfunken der Wesen, die in den Flammen um ihr Überleben kämpften. Sie ließ das Feuer erlöschen.
Ich kann einfach nicht! Das ist grausam!
Die Wesen eilten aus dem Zelt und zerrten eine verletzte Gestalt mit sich. Die zarten Bande der Energie zwischen den Fluggeräten und dem, was in dem Zelt mit ihnen verbunden war, waren noch intakt. Kujaan sah, wie Cendrine eine der Flugmaschinen in der Luft auseinanderriss. Die anderen Metallmonster fielen über die Priesterinnen her und warfen Gegenstände ab, die zwischen den Frauen detonierten. Die Angreifer schlugen sich mit den Mikarianern und die Flugmaschinen machten kehrt, um erneut ihre Fracht abzuwerfen.
Tu doch endlich etwas!
Kujaan schleuderte einen Feuerstrahl auf die lange Stange und die Reste des Zeltes und verbrannte alles, bis nur noch ein gläserner Krater auf dem Wüstenboden übrig blieb. Die zarten Energiebande flackerten - und schossen in eine andere Richtung davon, schienen eine neue Verbindung zu finden. Kujaan folgte dieser Verbindung mit den Augen, doch sie erkannte schnell, dass sie weit über die Berge führte. Sie musste aber hier bleiben und sich um ihre Gefährten kümmern.
Cendrine ließ zwei der mindestens drei Dutzend Maschinen mit einem telekinetischen Befehl gegeneinanderprallen. Sie explodierten in der Luft, rissen mit ihren Trümmern jedoch sowohl die Angreifer als auch einige der Mikarianer zu Boden.
Thanasis warf jetzt gewaltige Felsbrocken nach den fliegenden Gegnern, doch viele seiner Geschosse verfehlten die flinken Maschinen.
Plötzlich ertönten gellende Schreie unter Kujaan und sie sah einige der Angreifer eine Gestalt in einem dunklen Umhang beschützen, die mit ausgebreiteten Armen ein Ding dirigierte, das unter den Mikarianern Angst und Schrecken verbreitete. Das Wesen war eine Inkarnation der Dunklen Flamme, wie Kujaan sie beherrschte. Es ließ die Körper der Männer in Flammen aufgehen und sandte ihre Essenzen in den Angreifer zurück, dessen Aura immer machtvoller glühte.
Kujaan starrte angeekelt und fasziniert auf das Schauspiel weit unter ihr und hörte eine Stimme in ihrem Kopf.
»Du kannst sie retten! Töte die Gegner! Nutze deine Macht! Zögere nicht mehr, oder deine Verbündeten sterben …«
Kujaan entließ die Macht der Dunklen Flamme auf die Gestalt im Umhang. Die Kapuze fiel zurück und eine junge Frau schrie entsetzt auf, wehrte Kujaans Angriff ab und sah mit hasserfülltem Blick zu ihr herauf. Sie ließ einen weiteren Feuerstrahl auf die Frau im Umhang herabfahren, doch diese fegte ihn mit einer Hand beiseite. Kujaan spürte ein heftiges Ziehen und fühlte, wie sie zu der Frau hinabgezerrt wurde. Sie versuchte, sich zu wehren, aber es war vergeblich. Sie tat das Einzige, was ihr übrigblieb und verstärkte die Bewegung. Sie schoss mit den Füßen voran hinab und überrumpelte ihre Gegnerin, indem sie einen heftigen Tritt gegen ihren Kopf ausführte. Die Frau wurde in den Sand geworfen und Kujaan ließ im Reflex einen Flammenstrahl auf sie niedergehen.
Sie Schrie auf und erreichte nur eine halbe Abwehr, woraufhin ihr Arm Feuer fing.
Nutze deine Macht! Lass mich frei! Nimm, was dir zusteht!
Kujaan sah die Lebensenergie der Frau aufleuchten. Sie hatte die Essenzen ihrer Feinde vereinnahmt, der Krieger, die an Kujaans Seite kämpften und sich auf sie und ihre Macht verließen. Eine wahnsinnige Wut entbrannte in Kujaan und sie entließ die Dunkle Flamme aus ihren Händen. Das Ding, das Wesen aus Schwärze und Nichts, das sie zuvor unter der Kontrolle ihrer Feindin gesehen hatte, schoss jetzt aus ihren Händen auf die Frau zu, die entsetzt die Augen aufriss und sogar ihren brennenden Arm zum Schutz von sich streckte. Kujaan sah den Leib ihrer Feindin in Brand aufgehen, als die Inkarnation der Dunklen Flamme sich auf sie legte. Ihre Lebensenergie, angereichert mit den Essenzen der Mikarianer, die sie zuvor getötet hatte, schoss in Kujaan. Sie vereinnahmte die Energie, lachte und stöhnte vor Erregung und sog alles Leben auf.
Kujaans Lachen und vergnügtes Aufschreien schlugen die Gegner um sie herum in die Flucht. Doch sie ließ sie nicht gehen. Die schwarze Gestalt der Dunklen Flamme fuhr zwischen sie und mit jedem verbrannten Angreifer vermehrte sich Kujaans Kraft. Sie verschlang die Essenzen ihrer Feinde und spürte eine Erregung, die von ihrem ganzen Leib Besitz ergriff. Ihr Bewusstsein wuchs über ihre körperliche Wahrnehmung hinaus und sie sah die Lebenslichter der Wesen um sie herum aufleuchten. Sie folgte ihrem Instinkt und sprang von einem zum nächsten, Schreie der Lust und wildes Gelächter entstiegen ihrer rauen Kehle.
Drei der Flugmaschinen schossen auf sie herab. Sie ergriff sie mit einem telekinetischen Machtwort und rammte sie mit solcher Gewalt in den Wüstenboden, dass ein Beben durch den Grund fuhr.
Sie fühlte eine Präsenz hinter sich und wirbelte herum, leckte sich die Lippen nach dieser besonders kräftigen Essenz. Sie streckte ihren Arm aus …
»Kujaan!«, rief Cendrine.
Kujann zuckte zusammen. Sie entließ die Macht der Dunklen Flamme und spürte, wie ihre Wahrnehmung schrumpfte, die Ekstase, die von ihr Besitz ergriffen hatte, verging und hinterließ ein kaltes Brennen in ihrer Seele.
»Wir haben gesiegt, Thanasis und die Mikarianer kümmern sich um den Rest der Gegner.«
Cendrine trat zur Leiche der jungen Frau, die Kujaan getötet hatte.
»Sie gebot über die Dunkle Flamme, doch du hast sie besiegt. Wie?«
Kujaan versuchte, in Worte zu fassen, was sie getan hatte, aber es fiel ihr schwer. »Sie war überrascht, glaube ich. Es war … das erste Mal, dass ich mit der Macht der Dunklen Flamme getötet habe.«
Cendrine stieß die Sengende Klinge in ihre Halterung auf dem Rückenstück ihrer Rüstung und trat zu Kujaan.
»Wir verlangen sehr viel von dir. Keiner kann dir helfen, bei den Erfahrungen, die du machst, denn niemand von uns weiß, wie die Macht der Dunklen Flamme zu gebrauchen ist. Du bist die Erste unter uns, die darüber gebietet und es liegt an dir, diese Überlegenheit zum Guten zu nutzen. Deine Hilfe hat uns heute den Sieg gebracht. Ich danke dir.«
Kujaan nickte und dachte an die Lust und das Verlangen, welches sie durchströmt hat, als sie die Lebensenergie ihrer Gegner aufgesaugt hatte. Sie ekelte sich plötzlich vor sich selbst, doch sie wollte nicht, dass irgendjemand davon erfuhr, wie es ihr erging.
Sie lächelte Cendrine an. »Diesmal habe ich euch nicht enttäuscht.«
Cendrine sah sie ernst an. »Wie kommst du darauf, dass du jemanden enttäuscht hättest, Kind?«
Kujaan schüttelte den Kopf, Tränen fortblinzelnd. »Wegen der Sache mit dem Portal.«
Cendrine trat näher und drückte sie an sich. »Du hast mehr getan, als jeder von dir erwartet hat. Deine Macht hat vielen das Leben gerettet. Ich bin stolz auf dich!«
Kujaan schluckte. Sie wollte Cendrine sagen, wie sich die Macht der Dunklen Flamme anfühlte und dass sie sich wegen des Gefühls schämte, dass sie überkommen hatte.
Sie öffnete den Mund, doch im nächsten Moment kam eine Priesterin zu ihnen. Sie wollte offensichtlich etwas von Cendrine. Die Äbtissin lächelte Kujaan entschuldigend an und wandte sich ab.
Kujaan fühlte sich allein. Sie musste ihre Sorgen teilen, doch ihre Eltern waren fern, kein Freund in der Nähe, dem sie vertraute. Die Last der Verantwortung lag schwer auf ihr. Sie vermischte sich mit der Begierde, die Macht der Dunklen Flamme zu nutzen, um nochmals die Ekstase zu fühlen, die besser war als alles, was sie je zuvor gespürt hatte.