Kapitel 4
Faunus atmete die kalte Luft und sah den Boden unter sich wegfallen. Es war Nacht, genau wie bei seiner Ankunft in den Frostreichen. Die perfekte Zeit, um unerkannt zu bleiben. Das Gebiet um den Firahun-See glich einem Heerlager. Eine große Anzahl von Goraks Männern war in Zelten stationiert.
Die Wachen waren unaufmerksam gewesen, als er vorgestern dort eingetroffen war. Sie glaubten sich in Sicherheit und Faunus hatte kein Problem gehabt, sich an ihnen vorbei zu schleichen. Nur die Eishexen waren eine Herausforderung gewesen, bis er die Rüstung eines Offiziers aus dem Zelt einer Sjögadrun stehlen konnte. Er hatte das Paar belauscht und erkannt, dass Verbindungen unter Soldaten und Sjögadrun mit empfindlichen Strafen geahndet wurden. Der Mann würde ein Problem haben, wenn er den Verlust seiner Rüstung erklären musste und nackt aus ihrem Zelt stolperte.
Im Zwielicht der Dämmerung hatte Faunus sich durch das Lager geschlichen, viele Gespräche belauscht und Neuigkeiten erfahren. Nach einer kalten Nacht, die er in einem eingestürzten Schafstall in der Nähe des Lagers verbracht hatte, sah er Wiras auffällig große Gestalt mit den kurzen blonden Haaren im Besprechungszelt der Offiziere verschwinden. Er hielt sich in der Nähe auf und spaltete sich in mehrere Inkarnationen. Seine Fähigkeit erlaubte es ihm, die Kleidung zu vervielfältigen, die er gerade trug und so hatte er die Posten der Hälfte aller Offiziere um das Zelt herum belegt. Seine Ohren waren überall.
Wira sagte einen Satz, der ihm ausreichte.
»Die Äbtissin bleibt im Turm.«
Er verließ das Lager am Abend und lief im Schutze der Finsternis stundenlang zurück zu dem vereinbarten Treffpunkt. Sora erspähte ihn aus großer Höhe, stürzte wie ein Adler herab, und schnappte ihn mit einer Kralle vom Boden weg. Sie stieg mit kräftigen Flügelschlägen geschwind hinauf in den Himmel, bis sie über den Wolken war.
Faunus inkarnierte im Sattel und verlagerte seine Präsenz dorthin. Sein Körper im Griff von Soras Kralle verschwand. Die kalte Luft ließ ihn die Zähne zusammenbeißen, aber er wusste, dass sein Körper keinen Schaden nehmen würde. Er machte sich gefasst auf den anstrengenden Rückweg, als Soras Flügelspitzen verschwommen und zu leuchten begonnen. Auf dem Rücken des schnellsten Kraindrachens Kabals war der Rückweg eine Tortur. Sie überquerten Grandtal, die Sumpfreiche und erreichten schließlich Iidrash. Sora jagte über die Tempelstraße und verlangsamte erst, als sie in die Tiefen Idraks vordrangen.
Als sie gelandet waren, ließ Faunus sich erschöpft aus dem Sattel rutschen und dankte Sora. Grond eilte ihm entgegen und schüttelte seine goldgeschmückten Hörner. Sein Lachen hatte zu viel Ähnlichkeit mit dem einer Ziege, um nicht ansteckend zu sein.
»Ist das eine Rüstung dieser Barbaren? Du stinkst!«
Faunus zog eine Grimasse und riss sich den mit Metall verstärkten Lederharnisch herunter. Der Fellbesatz roch intensiv nach Met und Mist. Eine Wache nahm ihm das Teil mit spitzen Fingern ab, während er Stiefel, Hose, Helm und Handschuhe auszog.
»Wir bewahren die Rüstung auf. Könnte noch nützlich sein, wenn wir Cendrine befreien.«
»Du bist nackt.«
»Besser als eine Minute länger in diesem übelriechenden Ungetüm stecken.«
»Der Mief haftet an dir.«
Faunus stöhnte. »Ich muss mich waschen, bevor ich …«
»Faunus! Dein Hintern ist unverkennbar, auch wenn der Rest kaum wiederzuerkennen ist«, Charna eilte ihm entgegen.
»Du bist zurück aus …«, er fluchte, als er Jenara in ihrem Gefolge erkannte.
»Schickst du deine Späher immer nackt und schmutzig in die Welt hinaus, Charna?«, fragte Jenara mit einem spöttischen Lächeln und einem neugierigen Blick auf Faunus‘ kräftige Gestalt.
Er schloss aus der Tatsache ihrer Anwesenheit, was sich ereignet haben musste. »Gorak ist in Tojantur eingefallen?«
Jenaras Gesichtszüge wurden hart. Charna nickte und wedelte indigniert, als sie näher an Faunus trat und seinen Geruch wahrnahm.
»Die Details besprechen wir später, wenn du dich gewaschen hast. Ist Cendrine im Frostturm?«
»Ja. Ich habe Wira selbst belauscht, als sie mit Goraks Offizieren sprach. Es scheint, dass sie im Turm bleiben soll.«
Charna nickte. »Also ist es so, wie wir annahmen. Wir werden mit der Planung ihrer Befreiung beginnen, sobald du sauber bist. Ich würde an deiner Stelle das Badehaus aufsuchen, dort hat man womöglich mehr Erfahrung und ausreichend starke Seifen um dich in einen zivilisierten Mann zurückzuverwandeln.«
»Es ist ein natürlicher Geruch. Vielleicht sollten wir alle so riechen«, sagte Faunus freudestrahlend und wedelte mit den Armen. Die Anwesenden machten ein paar Schritte zurück.
»Ab ins Badehaus!«, rief Charna.
Faunus machte sich auf den Weg, vorbei an kichernden Adeptinnen, die er in übertriebener Höflichkeit grüßte, indem er sich tief verneigte. Er beschloss, einen Satz frische Kleidung aus seiner Unterkunft zu holen, bevor er sich zum Badehaus aufmachte. Er könnte sich zwar auch in seiner Unterkunft von diesem fürchterlichen Geruch befreien, aber die Aussicht auf die erfahrenen Hände der Baderinnen ließ ihn nach der Strapaze in den Frostreichen frohlocken. Außerdem hatte er so Gelegenheit, seine Gedanken zu ordnen und sich auf die Planung von Cendrines Befreiung vorzubereiten.
Ob Mehmood schon zurück ist? Zur Not müssen Charna oder Mikar ihn zurückteleportieren. Ich gehe davon aus, dass Wira nicht so dumm sein wird, ihren größten Schatz in nächster Zeit aus der Sicherheit des Frostturms zu entfernen.
Faunus war währenddessen bis zu den Thermen vorgedrungen. Der Boden einer natürliche Höhle mit einer Decke, die sich weit über ihnen in den Berg streckte, wurde durch einen unterirdischen Fluss geteilt. Sein Wasser, heiß durch die Hitze im Inneren Idraks, dampfte und kochte. Man konnte dieses frische, heiße Wasser direkt in größere und kleinere Becken umleiten, die in abgeschiedenen Nischen oder größeren Räumen angelegt waren. Hier war stets Betriebsamkeit und früh am Morgen war es besonders voll. Faunus war kaum durch den Eingang getreten, als eine attraktive Ordensschwester naserümpfend auf ihn zutrat.
»Euer Besuch ist mehr als überfällig. Kalla?«
Faunus lächelte, bis Kalla erschien. Der Mann war magisch begabt, hatte vier äußerst muskulöse Arme und betrachtete Faunus mit einer Mischung aus Erheiterung und Unglauben.
Die Ordensschwester wies mit dem Daumen auf Faunus. »Ins Einzelbad mit ihm. Sofort!«
Faunus wollte protestieren.
Der Bader lachte. »Komm schon, stell dich nicht so an!«
Faunus seufzte und folgte dem riesenhaften Kerl. Sie betraten eine mit einem Vorhang abgeteilte Nische mit einem Einzelbecken, das aus dem Felsen des Berges getrieben worden war. Kalla betätigte einen bronzenen Hebel und dampfendes Wasser schoss aus einem Hahn in das Becken.
»Dort sind Regale für die Kleidung. Ich hole schnell etwas von der starken Minzseife.«
Faunus zog eine Grimasse. Er hasste Minze. Seine Kleidung warf er in einem unordentlichen Bündel in das hölzerne Regal, prüfte das Wasser und erkannte, dass es zwar sehr warm, aber nicht zu heiß war. Er ließ sich hineingleiten, rutschte immer tiefer und schloss einen Moment die Augen. Kalla indes blieb länger fort, als er gedacht hatte. Schließlich raschelte der Vorhang. Faunus, träge von der Wärme des heißen Wassers, machte sich nicht die Mühe, die Augen zu öffnen.
»Hast du die Minzseife gefunden, Kalla?«
Keine Antwort, anstelle dessen sanfte Hände, die über seinen Nacken glitten.
»Oh, das sind doch nicht die Hände dieses vierarmigen Riesen, oder?«
Die kleinen Hände verteilten nun etwas schaumige Seife auf seinem Haar und massierten seine Kopfhaut eine Weile. Er genoss es, konnte seine Neugier jedoch nicht bezwingen. Als er sich umdrehen wollte, tropfte etwas in seine Augen.
Faunus schrie auf. Die Flüssigkeit brannte wie Säure. Einen Lidschlag später spürte er einen heftigen Schlag auf dem Hinterkopf, der ihn ins Becken rutschen ließ. Ihm wurde schwarz vor Augen, doch seine Instinkte waren stärker. Er teilte sich augenblicklich. Sein abgespaltener Aspekt sprang geschickt aus dem Becken, erkannte blinzelnd eine Gestalt mit verhülltem Haupt und erhobenem Rasiermesser. Er zögerte keine Sekunde und trat ihr gegen das Knie. Sie wich aus, rutschte jedoch auf dem nassen Steinboden aus. Eine dritte Inkarnation half mit einem ausgestellten Fuß und einer wohlplatzierten Hand auf einer weichen Brust nach.
Eine Frau? Verdammt ich sehe immer noch nichts!
Die Frau schlug hart auf den Boden auf, das Rasiermesser schnitt in ihre Hand. Dreimal Faunus war über ihr und riss ihr die Kapuze zurück, als das Blut aus ihrer Wunde sickerte. Sie war jedoch still geblieben. Die ätzende Flüssigkeit brannte in sechs Augenpaaren, schien aber nichts Schlimmeres, als ein stark aromatisiertes Öl zu sein.
»Du hast mir Massageöl in die Augen geschüttet? Was soll das?«
Mit einem Tuch und warmem Wasser klärte Faunus schnell seine Sicht, während er mit einer Inkarnation die Frau auf dem Boden festhielt.
Er erstarrte, als er die Gestalt erkannte. »Du!«
Er durchsuchte die Kleidung der Subrada. Eine Tasche enthielt mehrere Spritzen, die mit einer grünlichen Flüssigkeit vorbereitet waren. Messer und andere Gegenstände, die er nicht erkannte, waren ebenfalls darunter. Er riss der Frau, die er von seiner Phantomzeichnung her kannte, den Umhang herunter und untersuchte sie nach versteckten Waffen. Kalla betrat währenddessen wieder die Nische und rief entsetzt aus, als dreimal Faunus der Frau die Wäsche vom Leib riss.
»Ruf die Tempelgarde! Sag ihnen, der Herr von Garak Pan hat eine Spionin gefunden!«
Kalla lief fort. Seine Rufe nach der Tempelgarde hallten durch das Bad und sorgten für Unruhe.
Faunus packte die Frau am Kinn, ihr mittelbraunes Haar klebte an ihrer Stirn. Sie warf ihm einen hasserfüllten Blick zu und spuckte ihn an.
»Ihr werdet untergehen! Alle!«
»Wie lautet dein Name?«
»Für dich bin ich der Tod!«
Faunus zog eine Grimasse. »Ist dir etwas entgangen? Du bist im Begriff, in Idrak gefangengenommen zu werden. Die Aussicht darauf treibt selbst dem abgebrühtesten Verbrecher den Schweiß auf die Stirn.«
Die Frau lächelte.
Das gefällt mir nicht. Sie weiß etwas, das meiner Aufmerksamkeit entgeht. Wo bleiben die verdammten Wachen?
Mit einem Mal wurde ihm schwindelig. Seine Inkarnationen schwankten.
»Das war kein Massageöl.«
Faunus wackelten alle sechs Knie. Er fiel in einem ungeordneten Haufen übereinander, während die Spionin der Subrada ihm die Spritzen, ihre Ausrüstung und ihren Umhang entriss.
»Ihr werdet alle verbrennen!«
Faunus bäumte sich auf, rutschte schwach aus und fiel lang hin. Seine Inkarnationen stürzten in ihn zurück. Er sah den Fuß der Frau, bevor er sein Kinn mit einem schmerzhaften Aufprall erreichte.
Ein dickes schwarzes Tuch legte sich um ihn, sperrte sämtliche Empfindungen aus und hüllte ihn schließlich vollkommen ein.
Mit einem Aufschrei erwachte er aus seiner Ohnmacht. Hände hielten ihn behutsam fest. Seraphias Hände. Sie waren in Charnas Gemächern.
»Langsam! Trink!«
Faunus nahm einen Schluck Wasser, in das etwas hineingemischt war, das einen bitteren Nachgeschmack auf seiner Zunge hinterließ.
»Was ist das?«
»Ein Mittel gegen verschiedene Gifte. Wir sind uns nicht ganz sicher, was das ölige Zeug um deine Augen herum ist«, sagte Kassandra
Faunus sah sich um und erkannte sie und Charna. Kassandra überprüfte seinen Puls und fummelte an seinen Augen herum.
»Jetzt hör auf damit, verdammt! Ich bin wach, das muss reichen. Habt ihr die Subrada gefasst?« Das Aufzucken der Versammelten und ihre erschrockenen Blicke reichten ihm als Antwort. »Verfluchter Scheißdreck!«
Faunus stand schwankend auf.
»Du musst dich ausruhen!«, sagte Seraphia und schob ihn zu einem Sessel hinüber.
»Ich muss nicht sitzen, sondern diese verdammte Spionin finden.«
Charna ballte die Fäuste. »Die Garde sucht in ganz Idrak. Wir werden sie finden!«
»Sie sagte, dass wir alle verbrennen würden. Sie hatte Spritzen mit grünlicher Flüssigkeit in ihren Taschen und eine ganze Reihe seltsamer … Geräte.« Faunus überlegte angestrengt. »Was meinte sie damit, dass wir alle verbrennen würden?« Er fluchte und rieb sich die Augen.
Charna legte die Stirn in Falten.
Seraphia atmete tief ein. »Womöglich hat sie ihren Versuch, mich mit den Träumen in den Wahnsinn zu treiben gemeint.«
Charna ging unruhig auf und ab und schüttelte den Kopf. »Sie hat sich seit einiger Zeit unerkannt im Tempel aufgehalten. Eventuell hat sie mehr als nur eine Möglichkeit gesucht, den Orden zu schädigen. Wer weiß, ob sie nicht Unterstützung durch andere hatte? Was waren das für Geräte, die sie dabeihatte?«
Faunus überlegte. »Hast du Papier und Stift?«
Charna holte beides aus einer Schublade, und Faunus schloss einen Moment seine Augen. Er hatte die Gegenstände wegen des Giftes nur verschwommen gesehen, aber dafür aufgrund seiner Inkarnationen aus drei unterschiedlichen Winkeln. Er erinnerte sich darüber hinaus an das Gefühl in seinen Händen.
»Sie waren aus Metall. Zumindest größtenteils.«
Er zeichnete schnell und geschickt mit lockeren Strichen vier verschiedene Geräte, die den Eindruck erweckten, Handwerkzeuge zu sein. Er übergab Charna die Skizze.
Sie musterte die Zeichnung. »Gib mir den Stift!« Sie fügte einige Details hinzu und zeigte Faunus das Blatt Papier.
»Ja, das kommt hin, ich erinnere mich jetzt an diese Zackenform daran und diesen Hebel dort. Du weißt, was die Dinger sind?«
Charna wurde blass. »Evakuiert sofort den Tempel! Jeder muss augenblicklich hier raus. Ich werde die Kraindrachen um Hilfe bitten. Bringt die Leute fort von hier! So weit es geht weg vom Berg.«
Seraphia ergriff ihren Arm. »Was ist los?«
»Dies sind Werkzeuge, um an der Reaktionskammer des MA-Reaktors zu arbeiten.«
Kassandra sog die Luft ein.
»Tut, was ich gesagt habe!«
Charna verschwand in einem Aufblitzen.
Die Stimme der Seherin war nur ein Flüstern. »Wir werden alle verbrennen …«