Opfer

Pathologische Befunde im Zusammenhang mit Sonneneinstrahlung

Erhebung aus dem Jahr 2030 (in Bezug auf das Jahr 2000)

Karzinome:+ 287,3 %

Grauer Star:+ 63,1 %

Konjunktivitis:+ 54,8 %

Dermatosen:+ 132,6 %

Immunschwächen:+ 343,8 %*

Insolationen:+ 430,9 %

(davon mit tödlichem Ausgang:+ 128,6 %)

Melanome:+ 176,1 %

* Mehrfachursachen möglich

Jahresbericht 2031 der Weltgesundheitsorganisation

Laurie geht es nicht gut. Wie ein Häufchen Elend schleppt sie sich durch die Gärten von Kongoussi, zwischen Bohnenstangen, Reihen von Tomatenpflanzen, Salatbeeten, Feldern mit Süßkartoffeln und Dattelplantagen hindurch. In den einzelnen Gevierten sind Messfühler für bioprogrammierte Bewässerung eingelassen. Mit unsicheren Schritten steigt sie über die unter Druck stehenden Rohre aus Kevlar, hydrostatische Sprinkleranlagen und Drain-Back-Systeme, schwankend weicht sie den solarbetriebenen Hebepumpen aus, die hier und da auf dem Hügel stehen und deren Gehäuse mit dem Logo von Tensing versehen sind. Mit einer müden Handbewegung begrüßt sie die Bauern, die damit beschäftigt sind, zu graben, zu harken, zu verziehen oder zu ernten. In ihrem Kopf dreht sich alles, und ihre Beine fühlen sich an, als wären sie voller Blei. Sie schwitzt stark, ihre Haut brennt, und ihre tränenden, verschleierten Augen flimmern trotz der Sonnenbrille, die sie jetzt praktisch ununterbrochen trägt. Laurie ist müde - unendlich müde.

Zu Beginn dachte sie, dass ihr Unwohlsein mit den drastisch steigenden Temperaturen des herannahenden Sommers zu tun hätte und sowohl Haut als auch Augen durch den ständig wehenden Sandwind gereizt würden. Sie hat die Sonnenbrille aufgesetzt, sich mit Sunblocker eingerieben und Medikamente gegen Parasiten jeglicher Art geschluckt. Abou hat sie nichts gesagt, um ihn nicht zu beunruhigen. Natürlich bemerkte er trotzdem ihre Erschöpfung, die sie auch mit langen Siestas und durchgeschlafenen Nächten nicht in den Griff bekam; er sah, dass ihre klaren blauen Augen sich verschleierten, dass die Schönheitsflecke und Muttermale sich auf ihrer hellen Haut vergrößerten und zu unschönen, braunen Stellen wurden und dass sich auf ihrer samtigen Haut an Armen, Hals und Schenkeln feine Fältchen bildeten. Abou nahm jedoch an, es handele sich bei den Symptomen um die Folgen des Zaubers durch den von Félicité beauftragten wackman aus Kongoussi, und war sich sicher, er könne dazu beitragen, dass sich das Übel nicht verschlimmerte, indem er Laurie von ganzem Herzen liebte und so oft wie möglich mit ihr schlief, wie Hadé es ihm nahegelegt hatte. Doch inzwischen ist es so weit, dass sie sich nichts mehr vormachen können.

Moussa, der sie atemlos und durchgeschwitzt im Büro vorfand, schickte sie mit dem dringenden Rat nach Hause, einen Arzt aufzusuchen. Laurie stieg in ihren kleinen Dienstwagen - in dem es so heiß war, dass ihr fast schlecht wurde -, doch anstatt ihrem »Chef« zu gehorchen, fuhr sie in die Hügel und suchte nach Abou, der dort seit drei Monaten ein eigenes Stück Land bewirtschaftet.

Abou hat sich inzwischen entschlossen, nach dem Wehrdienst seine Militärkarriere endgültig an den Nagel zu hängen und sich als Heiler niederzulassen. Weil dieser Beruf allerdings abgesehen von einigen Naturalspenden eher wenig einbringt, hat er sich überlegt, dass er sich mit ein paar Hühnern und einem eigenen Garten wenigstens einigermaßen über Wasser halten kann.

Abou ist gerade dabei, die feinporigen Rohre zu überprüfen, mit deren Hilfe seine Parzelle bewässert wird, denn er ist der Meinung, dass zu wenig Wasser heraussickert. Allerdings wird die gesamte Bewässerungsanlage von den Büros der CooBam aus mit Computern der Firma Tensing gesteuert. Er sieht Laurie kommen und richtet sich lächelnd auf. Doch sein Lächeln erlischt schnell wieder, denn Laurie verhält sich ganz anders, als er es gewohnt ist. Anstatt auf ihn zuzulaufen und ihm um den Hals zu fallen, zieht sie die Füße nach, schwankt und stolpert häufig. Er ist es, der auf sie zustürmt und sie gerade noch rechtzeitig auffängt, ehe sie ohnmächtig wird.

Ihr Zustand hat sich derart verschlechtert, dass sie keinen Augenblick verlieren dürfen. Abou hebt sie auf - sie hat stark abgenommen und wiegt in seinen muskulösen Armen fast gar nichts mehr - und hastet fast im Laufschritt den Hügel hinunter zum Auto. Laurie hat ihm inzwischen das Autofahren beigebracht, doch wirklich gut kann er es immer noch nicht. Jetzt aber muss es einfach klappen! Er findet den Schlüssel in der Tasche ihrer Shorts, lässt den Motor aufjaulen und irrt sich bei den Gängen. Das Auto schleudert und holpert so heftig über die Spurrillen der Piste, dass Laurie wieder zu sich kommt.

»Abou? Was tust du da? Wo fahren wir hin?«

»Zu Großmutter, mein Schatz. Dir scheint es gar nicht gut zu gehen.«

»Ich glaube, ich brauche eher einen Arzt.«

»Ärzte können nichts gegen einen bösen Zauber unternehmen«, erklärt Abou kategorisch.

»Dann lass wenigstens mich fahren…«

»Dazu bist du nicht mehr in der Lage.«

Er erreicht die geteerte Straße, fädelt sich ohne den kleinsten Blick über die Schulter ein und gerät erneut ins Schleudern. Der Hyundai rutscht über den Asphalt, doch Abou schafft es, ihn abzufangen. Der Fahrer eines völlig überladenen Motorrollers, der bei diesem Manöver in die Botanik abgedrängt wird, schreit ihm eine ganze Kaskade von Flüchen hinterher. In voller Geschwindigkeit und mit aufgeblendeten Scheinwerfern durchquert er die Stadt, hupt ständig, wird an den Kreuzungen keinen Deut langsamer und handelt sich jede Menge Beleidigungen und Ärger ein. Es grenzt an ein Wunder, dass sie ohne größeren Schaden die Straße nach Ouahigouya erreichen. Laurie neben ihm bekommt von alledem nichts mit, denn sie ist erneut bewusstlos geworden.

Abou schafft die hundertfünfzehn Kilometer von Kongoussi nach Ouahigouya in kaum einer Stunde, was angesichts seiner mangelnden Fahrpraxis, des schlechten Straßenzustands und des Verkehrs, der seit den Zeiten der Trockenheit deutlich zugenommen hat, ein echter Rekord ist. Mehrfach hat er großes Glück, dass es nicht zu einem schweren Unfall kommt, er überholt, ohne sich darum zu kümmern, ob ihm jemand entgegenkommt, scheucht Fußgänger, Radfahrer und Motorräder rücksichtslos von der Straße, sprengt erst eine Ziegen-und später eine Kuhherde auseinander, ohne ein einziges Tier auch nur zu berühren, muss sich aber von den Fulbe-Hirten die schlimmsten Verwünschungen nachrufen lassen, weil ihre Tiere in die Savanne davongelaufen sind. Endlich erreicht er Hadés Hof. Der Wagen ist völlig überhitzt. Mehrere Warnleuchten blinken. Abou nimmt die immer noch ohnmächtige Laurie auf die Arme und trägt sie im Laufschritt zu seiner Großmutter, die gemeinsam mit Banaund-Magéné die relative »Abendkühle« im Schatten der Tamarinde genießt.

»Großmutter! Großmutter! Laurie geht es sehr schlecht. Es ist mir nicht gelungen, sie vor dem Zauber des wackman zu schützen!«

Vorsichtig legt Abou Laurie auf die Matte zu Füßen des Baumes.

»Welcher Zauber? Welcher wackman?«

»Erinnerst du dich nicht? Félicité hat doch im vergangenen Winter einen wackman bezahlt, der Laurie verzaubern sollte. Du hast mir damals gesagt, dass meine Liebe genügen würde, sie davor zu schützen.«

Mühsam geht Hadé neben Laurie in die Knie. Sie untersucht die junge Frau gründlich, tastet Arme, Hals und Gesicht ab, fährt mit ihrer pummeligen Hand unter ihr T-Shirt, hört ihr Herz ab, betastet ihren Plexus und ihren Bauch. Schließlich sieht sie Abou an und schüttelt enttäuscht den Kopf.

»Schlimm, dass du wirklich so gar nichts behältst. Was macht es für einen Sinn, wenn du ins Bangré sehen kannst, wenn es dir nicht einmal gelingt, deinen liebsten Schatz richtig anzuschauen? Mit dieser Medizin der Weißen, die überall verteilt wird, kann das doch inzwischen jeder!«

Hadé spielt auf Klarblick an, die Gentherapie zur Behandlung von durch Onchozerkose hervorgerufenen Läsionen. Zwar heilt die Medizin tatsächlich, doch sie hat eine überraschende Nebenwirkung: Einige Patienten entwickeln eine Art »Zweites Gesicht« und können, wie Saibatou, die Aura und Gefühle von Menschen als farbige Lichtwellen erkennen. Inzwischen sind die Leute ganz wild auf das Medikament, und viele nehmen es in großen Mengen, aber ohne jeden Nebeneffekt ein, denn die Begabung entwickelt sich nur bei denjenigen, die wegen einer wirklichen Onchozerkose behandelt werden. Die Gesundheitsminister der westafrikanischen Länder sahen sich gezwungen, die kostenlose Abgabe von OCO47 zu unterbinden, das Medikament als psychotrope Substanz zu klassifizieren und es nur noch auf Rezept abzugeben, was allerdings einen blühenden Schwarzmarkt nicht verhindern konnte. Viele Amulettverkäufer haben OCO47 in ihr Sortiment aufgenommen: Das Wundermittel, das Seherkräfte verleiht! Mit Klarblick erfährst du, ob deine Frau dich noch liebt. Klarblick zeigt dir, wer dein Feind ist. Mit Klarblick enttarnst du Lügner und Heuchler.

Doch im Fall Laurie handelt es sich um etwas völlig anderes. Während der Ausbildung hat Hadé versucht, Abou beizubringen, die Energie zu sehen, die in jedem menschlichen Wesen zirkuliert, ihre unterschiedlichen Formen zu erkennen und sich das Wissen darüber anzueignen, wodurch sich diese Energie verändert oder blockiert wird und wie man dagegen vorgehen kann. Es ist eine andere Art, mit dem Bangré umzugehen, wesentlich subtiler als das Herbeirufen von Geistern, der Kampf gegen zindambas oder auch die Beeinflussung des Geistes auf die Entfernung. Zu Hadés großem Missfallen zeigt Abou allerdings bisher keinerlei Sachkenntnis, was diese delikate Kunst angeht. Er ist noch meilenweit davon entfernt, ein so guter Heiler zu sein, wie er es gern wäre.

»Schau einmal genau hin, mein Sohn. Siehst du denn nicht, dass in Laurie nicht die geringste Hexerei am Werk ist?«

»Großmutter«, braust Abou auf, »jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine Lehrstunde. Vielleicht stirbt sie gerade!«

»Tss!« Hadé zuckt die Schultern. »Sie ist lediglich sehr schwach und vor allem völlig dehydriert. Magéné, hol mir bitte frisches Wasser und gib eine Prise von dem grauen Pulver hinein, du weißt schon, dem aus der Kalebasse darüber …«

Magéné nickt und verschwindet im Haus. In diesem Augenblick öffnet Laurie langsam die Augen.

»Ich habe Durst«, flüstert sie mit aufgesprungenen Lippen.

»Du bekommst gleich Wasser, Liebling.« Abou beugt sich über Laurie und küsst sie. Ihr Atem ist heiß und trocken. »Großmutter wird dir helfen…«

»Nein, Sohn«, unterbricht Hadé mit harter Stimme. »Du wirst ihr helfen. Beobachte sie. Sieh sie dir genau an, wie ich es dir beigebracht habe. Verändere deine Wahrnehmung, Abou. Erkenne!«

Zögernd und nervös gehorcht Abou. Er setzt sich auf die Fersen und tastet nun seinerseits Lauries abgemagerten Körper ab, streicht über ihre mit bräunlichen Melanomen übersäte Haut, als überflöge er eine Landschaft, und versucht, unter dem vordergründigen Erscheinungsbild den Fluss der Energie in der Tiefe zu entdecken. Seine Konzentration wird jäh von Magéné unterbrochen, die einen Becher mit trübem Wasser bringt. Er nimmt den Becher und flößt Laurie das Gebräu ein. Sofort kehrt etwas Farbe in ihre Wangen zurück, und sie scheint ein wenig zu Kräften zu kommen.

»Was tust du da, Abou? Du kitzelst mich! Aber doch nicht vor den Leuten…«

»Pst, Liebste! Ich versuche, deine Krankheit zu finden.«

Er nimmt seine Erforschung mit Händen und Augen wieder auf, wie er es viele Male bei Hadé gesehen hat. Er spürt das schwache Klopfen von Lauries Herz, fühlt ihre Muskeln unter seinen Fingern und hört das Gurgeln ihrer inneren Organe. Eine merkwürdige Hitze steigt von Lauries Haut auf, die an manchen Stellen so heiß ist, dass er sich zu verbrühen glaubt. Einen Augenblick lang meint er, eine Art dunkelroter Aura um sie zu sehen, die von den vielen braunen Flecken auf ihrer Haut ausstrahlt. Doch die Anstrengung der Konzentration ermüdet ihn; seine Unsicherheit und Nervosität gewinnen wieder die Oberhand. Er setzt sich auf die Matte und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

»Ich schaffe es nicht, Großmutter«, seufzt er. »Ich sehe zwar, dass sie krank ist, aber ich weiß beim besten Willen nicht, was es sein könnte.«

»Was hast du gesehen? Erzähl mir alles ganz genau.«

Abou erklärt ihr, was er gespürt hat. Hadé nickt bestätigend.

»Gut, Sohn. Für den Anfang war das gar nicht so schlecht. Und du hast erkannt, dass nichts davon mit Hexerei zu tun hat.«

»Ich weiß nicht … Was hat sie, Großmutter? Sag es mir.«

»Ganz einfach. Sie hat Hautkrebs. Es liegt an der Sonne.«

Beunruhigt setzt Laurie sich auf.

»Ich habe Krebs, Hadé? Sind Sie sicher?«

»Ja, mein Kind. Und zusätzlich noch ein paar andere kleine Übel, die jedoch nicht weiter gefährlich sind. Sagen wir, sie haben von Ihrem geschwächten Immunsystem profitiert, sind aber ganz einfach mit Pflanzen und Tinkturen zu heilen. Was allerdings den Krebs angeht…«

»Dagegen kann man auch etwas tun«, erklärt Laurie mit fester Stimme. »Ich habe gehört, dass neunzig Prozent aller Fälle mit Chemo-und Gentherapie heilbar sind.«

»Das ist sicher richtig«, nickt Hadé, »sofern man die Veränderung rechtzeitig erkennt und die entsprechenden Medikamente zur Verfügung hat. Ihr Krebs jedoch ist schon in einem sehr weit fortgeschrittenen Stadium, Laurie. Sie haben sich zu lang in der Sonne aufgehalten und vergessen, dass Ihre Haut weiß und damit erheblich anfälliger ist.«

»Und was tun wir jetzt?«

»Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder, Sie kehren nach Europa zurück und lassen sich mit Chemotherapie und genmedizinisch behandeln. Die Prozedur ist lang, teuer und schmerzhaft. Sie hinterlässt auf jeden Fall Spuren. Sie dürfen sich niemals wieder der Sonne aussetzen und müssen Ihr Leben lang Medikamente nehmen. So geht man im Westen gegen die Krankheit vor.«

»Und die andere Möglichkeit?«

»Ich befreie Sie in einer einzigen Nacht - heute Nacht - ein für alle Mal von dem Übel.«

»Ist das wahr?« Ein hoffnungsvolles Lächeln bringt Lauries Gesicht zum Strahlen.

»Ich bin noch nicht fertig. Es würde nämlich bedeuten, dass ich die Krankheit auf mich nehme. Der Vorgang ist so anstrengend, dass ich ihn vermutlich nicht überlebe; wenn ich aber nicht daran sterbe, werde ich so krank sein, dass mein Leben keinen Pfifferling mehr wert ist.«

Laurie reißt die Augen auf.

»So hoch ist der Preis?«

»Ja, Laurie, so hoch ist der Preis.«

Laurie und Abou wechseln einen schmerzlichen, unendlich hilflosen Blick. Dann schüttelt Laurie den Kopf.

»Nein, Hade. Auf keinen Fall werde ich Ihr Leben für meine Gesundheit opfern. Da nehme ich lieber die westliche Art in Kauf. Auch wenn ich mein Leben lang darunter leiden muss und auch wenn ich daran sterben sollte.«

Bei diesen Worten schießen Abou die Tränen in die Augen. Vergeblich bemüht er sich, sie zurückzuhalten. Laurie nimmt seine Hand und drückt sie sehr fest.

»Du kommst natürlich mit, mein Liebling. Mit dem, was du schon gelernt hast, kannst du die Nebenwirkungen der Chemo sicher auf ein Minimum reduzieren.«

»Darauf würde ich nicht wetten«, wendet Hadé ein. »Die Medizin der Weißen ist zu stark und zu zerstörerisch. Sind Sie außerdem wirklich sicher, Laurie, dass Abou Ihnen nach Europa folgen könnte?«

»Ich werde alles daransetzen.«

Doch tief in ihrem Innern weiß Laurie, dass sie nicht viel tun kann. Europas Grenzen sind verschlossen und verriegelt. Der Limes, der das Mittelmeer in zwei Hälften teilt, ist ebenso unüberwindbar wie die Plasmabarriere einer Enklave. Europa ist unendlich stolz darauf, die Einwanderungsrate auf null gedrückt zu haben. Moussa war einer der Letzten, die zum Studium zugelassen wurden, und als er nach Burkina Faso zurückkehrte, war ihm bewusst, dass es eine Rückkehr für immer war. Abou auf legale Weise nach Europa mitzunehmen würde einen so langen und so schwierigen Kleinkrieg bedeuten, dass Laurie wahrscheinlich sterben würde, ehe auch nur eine geringe Hoffnung auf ein Einreisevisum bestünde. Nein, realistisch betrachtet sähe es so aus, dass sie allein nach Europa zurückkehren müsste.

Abou verlieren oder Hadé verlieren … Es gibt nur diese Alternative.

Die alte Heilerin nickt lächelnd, als hätte sie Lauries Gedanken mitverfolgt.

»Da ist noch etwas, das ich Ihnen bisher noch nicht gesagt habe.«

»Was denn?«, begehrt Laurie auf. »Habe ich vielleicht auch noch Aids?«

»Nein. Sie sind schwanger.«

»Was? Aber wie … Ich habe meine Monatsblutung noch nicht gehabt …«

»Die werden Sie auch nicht bekommen.«

»Ist das wahr, Großmutter?« Abous Lächeln trocknet seine Tränen. »Sie ist schwanger? Von mir?«

»Natürlich von dir, Dummkopf!« Hadé wendet sich wieder der jungen Frau zu, die am Stamm der Tamarinde lehnt. »Wenn Sie eine Chemo-oder Gentherapie machen, muss der Fötus natürlich abgetrieben werden. Eine solche Behandlung und werdendes Leben schließen einander aus.«

Das ist zu viel für Laurie. Sie vergräbt den Kopf in den Händen. Erst Krebs und dann auch noch schwanger … Bis zur Stunde hat sie den Gedanken an ein eigenes Kind immer verdrängt. Was hätte es für eine Zukunft? In welcher Art von Welt würde es leben - oder überleben - müssen? Einige Forscher gehen inzwischen davon aus, dass die Menschheit keine hundert Jahre mehr überlebt, weil die Erde der Venus immer ähnlicher wird. Es wäre absolut unverantwortlich, ein Baby in eine solche Welt zu setzen.

Abou ist natürlich ganz anderer Ansicht: Sie lieben sich, sie leben zusammen, sie bekommen ein Kind und sichern damit die Zukunft - so ist die Normalität.

»Nicht viele Kinder«, sagte er eines Abends, »nicht einmal zwei - ein einziges genügt. Wenn es niemanden mehr gibt, der nach uns kommt, wozu leben wir dann? Was wäre das Ziel?«

Laurie konnte erklären, so viel sie wollte - die Klimaerwärmung, der Venuseffekt, die unsichere Zukunft der Menschheit -, Abou blieb verbohrt.

»Die Afrikaner sind an Hitze gewöhnt und wissen, wie man in der Wüste überlebt. Sie werden es überstehen.«

Nun ja, eine Generation mehr könnte man ihnen vielleicht zugestehen. Aber irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, wo nicht einmal mehr die Skorpione die Hitze aushalten werden. Und dann ein Kind? Nein danke.

Dabei blieb es schließlich, weil sie begriffen, dass die Frage nach einem Kind immer ein Streitpunkt zwischen ihnen sein würde. Streiten aber wollen sie sich so wenig wie möglich.

»Nun, Laurie, wie entscheiden Sie sich?«, fragt Hadé in ihre Gedanken hinein. »Falls Sie Skrupel haben, denken Sie daran, dass ich ohnehin alt bin. Ganz gleich, wie Sie sich entscheiden - ich habe sowieso nicht mehr lange zu leben. Still, Sohn, ich weiß, wovon ich rede. Einen Krebs zu heilen wäre für mich eine Vollendung - sozusagen der Gipfel meiner Kunst. Mein Lebenswerk hätte einen krönenden Abschluss, und ich könnte in aller Ruhe sterben. Allenfalls tut es mir leid, nicht mehr mitzuerleben, wie Abou seine Fähigkeiten weiterentwickelt. Aber die Grundzüge kennt er. Er muss nur weitermachen und viel an sich arbeiten. Magéné kann ihm dabei helfen, denn sie weiß alles über Heilkräuter und Arzneien. Genau genommen gibt es gar keine andere Wahl, denn eure Jugend, eure Liebe und das Kind, das ihr erwartet, sind das Opfer einer alten Frau am Ende ihres Lebens mehr als wert. Stehen Sie auf, Laurie, und kommen Sie mit in meine Hütte.«

»Nein, Hadé, warten Sie. Ich kann das nicht … kann das nicht annehmen!«

»Aufstehen, habe ich gesagt! Oder soll Abou Sie tragen? Trag sie, Sohn.«

»Ja, Großmutter.«

Abou nimmt Laurie in die Arme. Zunächst wehrt sie sich noch ein wenig, gibt aber schnell nach und schmiegt sich in die festen Muskeln ihres Liebsten. Er weint. Auch Laurie spürt, wie ihr die Tränen über die fleckigen Wangen rinnen. Hadé, die vor ihnen herwatschelt, dreht sich um und droht mit dem Finger.

»Jetzt hört endlich auf, herumzuheulen wie kleine Kinder. Ihr seid schließlich erwachsen, oder? Und ihr habt noch das ganze Leben vor euch. Außerdem«, fügt sie leiser hinzu, »wenn Abou mir ordentlich hilft, dann lebe ich vielleicht sogar lange genug, um die Geburt dieses Babys noch mitzuerleben.«

Mit diesen Worten schiebt sie den Batikvorhang vor ihrer Tür beiseite und betritt den duftenden Halbschatten ihrer Hütte. Abou folgt ihr mit Laurie auf den Armen, wie zwei Jungvermählte, die ihr Brautgemach aufsuchen.

Ödland - Thriller
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