Heiliger Bund
Nach der katastrophalen Überschwemmung im August 2005 und dem großen Brand im Juli 2023, ganz zu schweigen von den immer stärker werdenden Hurrikans, die Jahr für Jahr über die Region hinwegfegen, wurde New Orleans jetzt von einer weiteren Katastrophe heimgesucht: Ein Virus unbekannter Herkunft hat innerhalb von vierundzwanzig Stunden drei Viertel der schwarzen Bevölkerung im Stadtgebiet getötet - insgesamt etwa eine Million Menschen. Ersten Ermittlungen zufolge handelt es sich um einen terroristischen Anschlag. Es besteht jedoch kein Grund zur Sorge. Eine von BioGen Labs durchgeführte Studie beweist, dass es sich bei dem Virus um einen genetisch veränderten Abkömmling von Anthrax handelt, dessen Lebensdauer extrem kurz ist und der ausschließlich Schwarze befällt. Aus dem Schutz seines Bunkers heraus hat der Bürgermeister von New Orleans, Louis Birotteaux - ebenfalls ein Schwarzer -, eine Ausgangssperre verhängt, für das gesamte Gebiet den Notstand ausgerufen und die Stadt unter Quarantäne gestellt. Unsere Korrespondentin April Garrett ist für CNN nach New Orleans gefahren. Hören Sie ihren Bericht nach einer kurzen Werbeunterbrechung unseres Sponsors BioGen Labs …
»Ich glaube, Pamela, jetzt bist du wirklich völlig verrückt geworden. Was hast du dir denn dabei gedacht?«
»Findest du es wirklich so schlimm, wenn man armen Menschen und Waisen hilft, wenn man in der Furcht des Herrn und der Nächstenliebe lebt, wie Jesus es uns gelehrt hat, wenn man daran arbeitet, die Werte wiederherzustellen, auf die Amerika sich gründet und die allein die Kraft haben, uns aus der Dekadenz herauszuholen? Wenn das verrückt ist, dann bin ich stolz darauf, verrückt zu sein.«
Anthony Fuller vergräbt den Kopf in den Händen, um sie am Zittern zu hindern, doch es sind seine Lippen, die beben - eine Nebenwirkung des Neuroprofen oder vielleicht auch der Mischung von Dexomyl und Metacain. Er müsste eine Calmoxan einnehmen, um seine Nerven zu entspannen, doch auf keinen Fall vor Pamela, vor der er kein Zeichen von Schwäche zugeben will.
Beinahe wäre er diesem Vorsatz untreu geworden, als er bei seiner Rückkehr aus New York auf dem niedrigen Couchtisch im Wohnzimmer Broschüren und Prospekte der Göttlichen Legion vorfand und Pamela auf Knien betend auf dem Perserteppich in ihrem Zimmer vor einem riesengroßen Kruzifix überraschte, das seit Neuestem über ihrem Bett hängt. Gut, dass er nicht mehr mit ihr schläft! Er hätte wirklich Angst, dass das Ding sich lösen und ihn während der Nacht erschlagen könnte.
Die Göttliche Legion gehört zu Fullers Lieblingsfeinden - gleich nach den Chinesen. Diese rückschrittliche und gefährliche Sekte schadet den amerikanischen Interessen in der ganzen Welt. Der selbst ernannte Oberheilige Callaghan und seine Lämmchen wollen Amerika nach außen abschotten und aus dem gesamten Land eine Art überdimensionales Amish-Dorf machen, das sich auf Bigotterie, Puritanismus und seine verdammten Traditionen gründet und jede von außen kommende Erfahrung und jegliche Kultur jenseits der Bibel ablehnt. Als würdige Nachfolger des Ku-Klux-Klan scheuen sie weder vor Morden noch vor groß angelegten, rassistisch motivierten Attentaten zurück. Der jüngste Anschlag in New Orleans, zu dem sich die Sekte natürlich nicht bekannt hat, ist ein repräsentatives Beispiel. Verbrechen, die im Namen irrationaler Überzeugungen begangen werden, haben Fuller schon immer wütend gemacht - sie sind so kontraproduktiv!
Er atmet tief durch, richtet sich auf und blickt Pamela geradewegs in die Augen. Entgegen seiner Erwartung weicht sie seinem Blick nicht aus; auch sind ihre Augen nicht vom Prozac getrübt. Sollte sie etwa damit aufgehört haben?
»Okay, du hast deine Überzeugung, ich habe meine. Darüber haben wir oft genug diskutiert und wollen nicht wieder damit anfangen. Ich fordere dich lediglich auf, die Sache, für die du dich engagierst, einmal objektiv zu beurteilen. Bist du dir darüber im Klaren, dass du eine terroristische Organisation unterstützt, die in mehreren Bundesstaaten verboten ist?«
»Verboten? In welchen Bundesstaaten ist die Göttliche Legion verboten? Bestimmt in Kalifornien, diesem sezessionistischen Staat, diesem Sammelbecken für Ausländer, Schwule und Drogenabhängige! Oder in New York, das längst der Unterwelt und den Gelben gehört. Vielleicht auch in Florida, dem Reich der Ausschweifungen. Und natürlich in Louisiana, diesem Negernest, das Gott gerade erst mit seinem gerechten Zorn gestraft hat.«
Anthony schüttelt den Kopf. Pamelas Worte machen ihn sprachlos.
»Ich habe noch nie so viel Blödsinn von dir gehört, Pamela. Selbst unter dem Einfluss von Prozac hast du dir wenigstens immer noch einen Rest gesunden Menschenverstand bewahrt. Aber jetzt hast nicht du selbst gesprochen - das war Moses Callaghan! Und ganz nebenbei kann ich dir verraten, dass es nicht Gott war, der genetisch verändertes Anthrax in den Straßen von New Orleans verstreut hat. Das war das Werk der Göttlichen Legion.«
»Ach ja?«, trumpft Pamela auf. »Hast du etwa Beweise? Hat die Göttliche Legion sich dazu bekannt?«
»Das nicht, aber es ist sonnenklar. Man braucht doch nur Callaghan zuzuhören, wenn er über die Schwarzen herzieht und alles verurteilt, was nicht seinen Ansichten entspricht. Dann weiß man Bescheid.«
»Das stimmt doch überhaupt nicht! Reverend Moses ist kein Rassist. Die Göttliche Legion nimmt auch Schwarze auf, sofern sie ohne Sünde und zivilisiert sind, im Sinne der Heiligen Schrift leben und einen reinen, tiefen Glauben an den Tag legen.«
»Also weiße Schwarze, sozusagen. O ja, die gibt es. Einen von ihnen kenne ich sogar sehr gut. Aber normalerweise sind sie zu intelligent, sich deinem Verein von fanatischen Kriminellen anzuschließen.« Fuller denkt an seinen Anwalt Grabber, der nur allzu gern davon träumt, einen Angehörigen der Göttlichen Legion auf den elektrischen Stuhl zu bringen - am liebsten Callaghan höchstpersönlich. »Ich kann noch immer nicht begreifen, wie du dich von diesen Verrückten hast einwickeln lassen können! Hat das Prozac dein Hirn dermaßen aufgeweicht? Oder tust du es aus Langeweile? Du langweilst dich hier, nicht wahr? Aber dagegen kannst du etwas unternehmen: In Eudora gibt es nämlich eine ganze Menge Organisationen, über die du den armen Menschen wirklich helfen kannst.«
»Nein, damit hat es nichts zu tun. Jemand hat mir den Weg zum Licht Gottes gewiesen. Und außerdem…«
Sie wirft einen kurzen Blick auf Tony Junior, der zusammengesunken vor dem leise vor sich hin brabbelnden Fernseher sitzt, den er allerdings nicht anschaut. Stattdessen fixiert er seine Eltern mit den grauen Augen, die viel zu groß für sein verschrumpeltes Gesicht sind. Anthony folgt Pamelas Blick, begegnet dem seines Sohnes und wendet sich ab. Was hat Junior überhaupt hier zu suchen? Naja, soll er ihnen ruhig zuhören, wenn ihn das beschäftigt. Mit seinem Spatzenhirn versteht er ohnehin nichts!
»Aha. Kenne ich diesen Jemand?«
»Nein. Es ist mein Anwalt.«
Bei diesen Worten flackern Pamelas Augen für einen Moment, was Anthony durchaus nicht entgeht. Er verspürt einen leichten, eifersüchtigen Stich - nicht etwa, weil seine Frau einen Geliebten hat, das ist ihm völlig egal, sondern weil er selbst keine Mätresse mehr sein Eigen nennt.
»Ein Anwalt, der Mitglied der Göttlichen Legion ist? Wie heißt der Mann?«
Pamela scheint die Hintergedanken ihres Mannes zu ahnen, denn sie verzieht das Gesicht.
»Das spielt doch jetzt keine Rolle«, weicht sie aus. »Du kennst ihn ohnehin nicht.«
»Wo wir gerade von Anwälten sprechen - wie weit bist du mit deinem Scheidungsantrag? Ich nehme doch an, dass das der Grund ist, weshalb du dir einen Anwalt genommen hast.«
»Ich lasse mich nicht scheiden.«
»Wie bitte?«
»Gott gestattet nicht, dass man den heiligen Bund der Ehe auflöst.«
»Herr im Himmel…«
»Du brauchst den Namen des Herrn gar nicht erst anzurufen. Er ist ohnehin auf meiner Seite.«
Fuller vergräbt das Gesicht in den Händen und wünscht sich, dass das alles nur ein Albtraum wäre. Sobald er die Augen öffnen würde, würde nicht mehr Pamela, sondern Tabitha vor ihm stehen, splitterfasernackt, und ihm eine wollüstige Zunge herausstrecken.
Er öffnet die Augen. Pamela ist immer noch da, kratzbürstig und verstockt. Anthony seufzt.
»Auch gut. In diesem Fall reiche ich die Scheidung ein. Grabber wird sich freuen, mich vertreten zu dürfen.«
»Das darfst du nicht. Die Göttliche Legion verbietet es.«
Fuller spürt, wie seine Nerven mit ihm durchgehen. Mit Mühe und Not hält er sich zurück, das Buch Gott spricht zu mir zu packen, das auf dem Couchtisch herumliegt, und es Blatt für Blatt in den Mund seiner Frau zu stopfen, bis sie daran erstickt.
»Pamela«, sagt er kalt, »ich bin nicht Mitglied dieser Scheißsekte. Mir ist verdammt noch mal egal, was sie verbietet. Und ich werde diese blöde Scheidung einreichen und sie auch bekommen, weil du nämlich inzwischen Mitglied einer terroristischen Vereinigung geworden bist, was dein Nachteil ist. Und wenn deine neuen Freunde damit nicht einverstanden sind und dich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, dann freut mich das sogar! Vielleicht öffnet es dir die Augen. Aber inzwischen will ich diese Schweinereien nicht mehr auf meinem Tisch sehen und in meinem Haus den Namen der Göttlichen Legion nicht mehr hören. Hast du das kapiert?«
Pamela hat Tränen in den Augen, bleibt jedoch stolz und würdevoll auf ihrem Stuhl sitzen.
»Oh, ich denke, du wirst davon hören, ob es dir passt oder nicht. Oder muss ich dich daran erinnern, dass dies hier unser Haus ist? Es gehört laut Ehevertrag uns beiden zu gleichen Teilen.«
Fuller treten fast die Augen aus den Höhlen. Der Ehevertrag! So ein Mist! Er muss unbedingt mit Grabber sprechen, ob es eine Möglichkeit gibt, das Ding zu annullieren, einen Formfehler zu finden oder etwas Ähnliches. Himmel! So eine Kacke! Schnell, eine Calmoxan!
»Übrigens wirst du spätestens kommenden Samstag wieder davon hören«, fährt Pamela mit einem kleinen bösen Lächeln im Mundwinkel fort.
»Wieso am kommenden Samstag?«
»Weil ich einige Brüder und Schwestern zu uns eingeladen habe. Unter anderem auch Reverend Moses höchstpersönlich.«
»Was?« Fuller springt so hastig auf, dass er seinen Stuhl umwirft. »Das ist nicht wahr! Das hast du doch nicht wirklich getan?«
»Aber sicher«, freut sich Pamela.
»Aber … wieso … warum?«
»Unser Meister wünscht, Tony Junior kennenzulernen.«
Hastig schlägt sie sich die Hand vor den Mund. In der Freude über ihren Sieg hat sie eine geheime, interne Information ausgeplaudert, und das auch noch vor einem Ungläubigen! Zu spät!
»Was? Tony Junior? Was hat der damit zu tun? Du hast ihn doch nicht etwa ebenfalls aufnehmen lassen?«
»Aber nein. Die Mitgliedschaft ist freiwillig.«
»Also warum? Antworte, verdammt noch mal!«
»Bitte, Anthony, nicht fluchen.«
Anthony rennt um den Tisch herum und packt Pamela am hohen Kragen ihrer züchtigen Bluse. Er kann sich gerade noch bremsen, sie zu schlagen. Zornig faucht er sie an:
»Wirst du mir jetzt wohl antworten? Warum will Callaghan Tony Junior kennenlernen?«
Pamela sieht ihn aus großen, in Tränen schwimmenden Augen an. Lügen ist zwar eine Todsünde, doch ein Geheimnis auszuplaudern kann sich als ausgesprochen schädlich erweisen. Sie zieht sich mit einer Andeutung aus der Affäre.
»Weil Tony unter der Gnade Gottes steht.«
Anthony wendet sich seinem geklonten Sohn zu. Tony fixiert ihn mit seinen alles verschlingenden Augen. Ein breites Lächeln verzerrt die zerknitterten Züge.
»Hi, hi, hi«, lacht er.
Fuller lässt Pamela los, rennt ins Bad und schluckt drei Calmoxan auf einmal. Das Lachen Juniors verfolgt ihn und hallt in seinem Schädel wider wie das tödliche Lachen eines Dämons.