Der Antichrist
»Mister President, was gedenken Sie in der Entführungsangelegenheit Fuller und angesichts der willkürlichen Morde an amerikanischen Staatsbürgern in Burkina Faso zu unternehmen?«
»Die Verbrechen werden nicht ungesühnt bleiben! Wir sind eine mächtige Nation und lassen unsere Staatsangehörigen nicht von einem afrikanischen Schurkenstaat misshandeln, ohne sehr ernste Gegenmaßnahmen zu ergreifen.«
»Was bedeutet das konkret, Mister President? Werden Sie dem Land den Krieg erklären? Oder es vor einem internationalen Gericht zur Rechenschaft ziehen? Haben Sie vor, wirtschaftliche Sanktionen zu verhängen?«
»Ich schließe keine der genannten Maßnahmen aus. Selbstverständlich treffe ich eine solche Entscheidung nicht im Alleingang. Darüber entscheidet das Parlament. Im Augenblick sind wir dabei, geeignete Sanktionen zu prüfen.«
»China, Russland und die Drachenstaaten haben sich offen zu Burkina Faso bekannt und würden das Land im Fall eines militärischen Angriffs durch die Vereinigten Staaten unterstützen.
Befürchten Sie nicht, einen Weltkrieg heraufzubeschwören, wie es während des Mexiko-Konflikts unter Präsident Cornell im Jahr 2021 beinahe geschehen wäre?«
»Glücklicherweise verfüge ich über mehr Weitsicht als mein Amtsvorgänger. Natürlich müssen wir Vorsicht walten lassen; trotzdem möchte ich wiederholen, dass ein solches Verbrechen nicht ungesühnt bleiben darf. Hier steht die Ehre Amerikas auf dem Spiel.«
Pamela sitzt wie gebannt vor dem großen 3-D-Breitwandfernseher im Wohnzimmer und traut weder ihren Augen noch ihren Ohren.
Als sie aus der Kirche zurückkehrte, flimmerte der Nachrichtensender FoxNews über den Bildschirm, obwohl sie das Gerät vor dem Verlassen des Hauses zu Tonys Erbauung auf Lord’s Channel, den Sender der Göttlichen Legion, eingestellt hatte. Überrascht wollte sie gerade umschalten, als die schier unglaubliche Nachricht verkündet wurde, dass ihr Gatte entführt worden sei.
Sofort zappt sie sich auf der Suche nach mehr Information durch die Sender, ohne sich um das Verbot der Göttlichen Legion zu kümmern, für die alle amerikanischen Sender außer dem Lord’s Channel Teufelswerk sind. Junior neben ihr gluckst und sabbert, als amüsiere er sich großartig.
»Es gibt keinen Grund zur Freude, mein Schatz«, mahnt Pamela mit leisem Vorwurf. »Dein Papa ist in einer sehr schwierigen Situation und muss sicher viel erleiden.«
Tief in ihrem Innern jedoch fühlt sie sich fast erleichtert. Ist es möglich, dass diese Neger, die Anthony gekidnappt haben, Teil des göttlichen Plans sind, aus der heimischen Villa ein Haus Gottes zu machen, wie Reverend Callaghan es in seinen Visionen verkündet bekam? Gottes Wege sind unergründlich und nicht immer einfach. Würde er sich tatsächlich einer minderwertigen Rasse bedienen, um seine Ziele zu erreichen? Warum nicht! Außerdem hat Pamela kein Recht zu urteilen; ihre Aufgabe ist es, dem Herrn zu danken, dass er ihre Gebete erhört hat. Und wie oft hat sie gebetet! Immer wieder hat sie den Herrn angefleht, ihr die nötige Klarsicht zu verleihen und ihr zu helfen, eine Lösung zu finden. Und jetzt ist Anthony aus Nassau entführt worden - aus der sichersten aller Enklaven! Ist das etwa keine göttliche Intervention? Kein himmlisches Licht, das ihr den Weg aus der Verzweiflung zeigt?
Ehe Anthony zum Ökonogischen Forum nach Nassau aufbrach, schien er die Mächte des Bösen auf Pamela und Junior herabbeschworen zu haben, um sie während seiner Abwesenheit zu quälen. Zunächst kam Tony Juniors Arzt Dr. Kevorkian ins Haus und zeigte sich höchst besorgt, weil er erfahren hatte, dass Pamela die Medikamente seines jungen Patienten in den Müll geworfen hatte. Er bestand darauf, Junior mit in seine Klinik zu nehmen, wo er alle nötigen Untersuchungen durchführen wollte, und drohte Pamela, den Jungen gleich dazubehalten, falls sich herausstellen sollte, dass man ihn vernachlässigte oder nicht richtig pflegte. Allerdings kam bei den Untersuchungen heraus, dass Tony vor Gesundheit nur so strotzte und der beschleunigte Alterungsprozess seiner Zellen nicht nur verlangsamt, sondern offenbar sogar zum Stillstand gekommen war - etwas, das bisher keines der verabreichten Medikamente geschafft hatte. Da Pamela sich weigerte, Tony in der Klinik zu lassen, musste Kevorkian ihn wohl oder übel zurückbringen, verpflichtete sie allerdings dazu, sämtliche Medikamente neu zu kaufen. Seither vergisst Pamela regelmäßig, sie Tony zu verabreichen.
Anschließend musste Robert Nelson Pamela höchst zerknirscht gestehen, dass er, falls Anthony tatsächlich wegen der Scheidung vor Gericht ziehen wolle, sie leider nicht würde vertreten können. Die Zulassung für Kansas war ihm entzogen worden. Samuel Grabber hatte alle Register gezogen, um ihn aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Göttlichen Legion aus der Anwaltskammer entfernen zu lassen.
»Dreckiger Nigger«, schimpfte Nelson. »Aber irgendwie und irgendwann kriegen wir ihn.«
»Aber woher wusste er davon?«
»Wahrscheinlich über Ihren Ehemann.«
»Der kennt Sie doch überhaupt nicht!«
»Die Videoüberwachung der Villa! Sie haben öfter einmal vergessen, sie auszuschalten«, warf Nelson ihr sanft vor.
Allerdings versicherte er Pamela, dass seine Karriere durchaus nicht beendet wäre, denn ab sofort würde er die Göttliche Legion vertreten. Allerdings würden sie sich in Zukunft seltener sehen, denn:
»Reverend Callaghan hat mir mitgeteilt, dass in Montana eine Stelle neu zu besetzen ist.«
»Montana!«, rief Pamela erschrocken aus. »Aber das ist ja ganz oben im Norden!«
Enttäuscht und hilflos breitete Nelson die Arme aus - die Beschlüsse des Reverends duldeten keinen Widerspruch, denn schließlich stammten seine Eingebungen von Gott selbst. Nachdem er gegangen war, weinte Pamela. Bruder Ezechiel war ihr sehr ans Herz gewachsen, wirklich sehr. Keuchend vor Scham musste sie sich sogar eingestehen, dass sie ihn begehrte. Sie beichtete und kasteite sich, um ihre sexuellen Regungen zu unterdrücken, doch alles war umsonst. Sobald sie nachts allein im Bett lag, hatte sie unzüchtige Gedanken, die sich immer um Bruder Ezechiel drehten und mit einer pulsierenden Wärme zwischen ihren Schenkeln einhergingen, die mit Sicherheit Teufelswerk war. Sie hatte schamlose, unkeusche Träume, schreckliche Albträume, die sie an die Visionen mit Consuela erinnerten und in denen Bruder Ezechiel mit ihr und anderen obszöne Akte vollführte. Und morgens wachte sie auf und war ganz feucht! Mit Beten, Fasten und Buße bekam sie die satanische Versuchung langsam unter Kontrolle. Trotzdem spürte sie ununterbrochen Tony Juniors sarkastischen Blick auf sich ruhen. Er weiß Bescheid, dachte sie verunsichert. Der Herr wohnt in seinem Körper. Schließlich wurde sie von ihrer teuflischen Besessenheit durch das Bewusstsein geheilt, dass Tony sie bis in ihre schmachvollsten Gedanken hinein durchschaute. Dennoch weint sie auch jetzt noch manchmal bei dem Gedanken, dass Ezechiel bald sehr weit fortgehen würde.
Als ob das alles noch nicht genug wäre, tauchte eines Tages die Polizei bei ihr auf, um sie des Langen und Breiten und sehr streng über ihre Nachbarin Rachel zu befragen. Pamela hatte sich selbst schon gefragt, wo Rachel abgeblieben sein mochte. Die Nachbarin verließ Eudora so gut wie nie, und wenn doch, dann sagte sie eigentlich immer Bescheid. Der Inspektor lieferte ihr schließlich die Erklärung. Man hatte Rachels Leiche - oder das, was von ihr übrig war - im weitgehend ausgetrockneten Bett des Wakarusa mitten im Outer-Gebiet gefunden. Und nun wollte die Polizei von Pamela wissen, was sie dort zu suchen hatte. Wie sich herausstellte, war Pamela eine der Letzten gewesen, die Rachel lebend gesehen hatten, und zwar während des Besuchs von Moses Callaghan, bei dem die Nachbarin hätte aufgenommen werden sollen … Natürlich durfte Pamela dem Inspektor nicht alles erzählen, was dieser sehr wohl bemerkte und woraufhin er sie ordentlich in die Zange nahm. Die Göttliche Legion war ihm ein Dorn im Auge. Beinahe hätte er Pamela mit auf die Wache genommen; er drohte sogar damit, sie wegen des Verdachts auf Beihilfe zum Mord ins Gefängnis zu stecken. Glücklicherweise warf sich Robert Nelson für sie in die Bresche, gab sich als ihr Anwalt aus und schaffte es mit viel Autorität, die Polizisten von ihrem Vorhaben abzubringen.
»Ich behalte Sie im Visier«, sagte der Inspektor und wies mit einem anklagenden Finger auf sie. »Ich will alles wissen, was sich bei dieser Versammlung abgespielt hat - und ich werde es herausbekommen!«
Seither hat Pamela nichts mehr von der Polizei gehört. Nelson hat ihr mitgeteilt, dass er an »höherer Stelle« Bericht erstattet hätte, ohne ihr jedoch Einzelheiten mitzuteilen.
Aber jetzt scheint die Zeit der Prüfungen ihrem Ende zuzugehen. Endlich hat der Herr sie erhört und ihre geheimsten Wünsche erfüllt. Anthony ist von den Negern in ein afrikanisches Land mit einem unaussprechlichen Namen entführt worden! Sie ertappt sich bei dem Wunsch, dass er recht lang dort bleiben möge. Ein Lösegeld scheinen sie nicht zu fordern, jedenfalls sagen die Nachrichten nichts dergleichen. Wenn aber doch, was sollte sie tun? Bezahlen, damit er zurückkäme? Und wenn sie nun die Zahlung verweigern würde? Sie würden ihn töten … Bei dem Gedanken erschauert Pamela. Sie hat Anthonys Leben in der Hand. Er ist ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Immerhin scheint Präsident Bones über die Entführung ziemlich aufgebracht zu sein; vielleicht unternehmen ja auch die Vereinigten Staaten einen Vorstoß, um Anthony zu befreien. Während sie noch über die Situation nachdenkt, wird Pamela plötzlich klar, dass ihr sicher in absehbarer Zeit die Presse die Türen einrennen wird - der Vorstandsvorsitzende von Resourcing ist schließlich nicht irgendwer. Natürlich würde man eine in Tränen aufgelöste Ehefrau erwarten, die alles Erdenkliche unternehmen würde, um den geliebten Gatten bald wieder in die Arme schließen zu dürfen. Soll sie diese Farce mitspielen? Andererseits kann sie auch nicht in aller Öffentlichkeit behaupten, dass sie sich wünscht, die Neger würden ihn behalten! Mein Gott! Das scheint die nächste Prüfung zu werden …
Das Bildtelefon lässt seinen sanften Klingelton hören. Pamela zuckt zusammen. Die Medien!, regt sie sich auf. Jetzt schon! Zögernd betätigt sie den Knopf für den Verbindungsaufbau - und seufzt erleichtert. Es ist ein völlig aufgelöster Bruder Ezechiel.
»Pamela, äh … Schwester Salome, wissen Sie schon das Neueste?«
»Über meinen Mann? Ja, ich habe die Nachrichten gesehen«, gesteht Pamela errötend.
Ezechiel geht nicht auf die Missachtung der Regeln ein.
»Das ist fantastisch, Salome! Gott hat Sie erhört und all Ihre Probleme gelöst. Ihr Haus gehört uns - ich meine natürlich, das es von jetzt an ganz und gar Gott geweiht ist.«
»Glauben Sie wirklich? Und wenn Anthony zurückkehrt? Wenn er befreit wird?«
»Er kommt nicht zurück.«
»Wieso sind Sie sich dessen so sicher, Ezechiel?«
»Reverend Callaghan hat es mir gesagt. Der Herr ist ihm erschienen und hat verkündet, der Sünder Fuller würde im Wüstensand sterben.«
Wieder erschauert Pamela. Sie dreht sich zu Junior um, der seinen Sessel gewendet hat und sie intensiv mit brennenden Augen anstarrt.
»Hi, hi, hi«, feixt er.
»Was ist los, Pamela?«, fragt Nelson auf dem kleinen Bildschirm. »Sie sind ja ganz blass geworden.«
»Ach nichts. Es ist … es ist nur die schreckliche Nachricht, die Sie mir da überbringen, Bruder Ezechiel.«
»Schrecklich, meinen Sie? Ich finde sie eher fantastisch! Ich habe übrigens noch eine gute Nachricht auf Lager. Ich gehe nicht nach Montana. Reverend Callaghan hat mich auserwählt, mich persönlich um den Nachlass zu kümmern - ich meine, Ihnen bei der Regulierung aller im Zusammenhang mit dem Verschwinden Ihres Mannes auftretenden Probleme zu helfen, vor allem hinsichtlich seiner Geschäfte.«
»Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, Bruder Ezechiel. Aber jetzt möchte ich beten, um mich von all der Aufregung zu erholen und die Ausgeglichenheit wiederzufinden, die sich für die Mutter des Messias geziemt.«
»Das verstehe ich natürlich sehr gut, Pamela. Dann überlasse ich Sie jetzt Ihrer Andachtsübung und rufe einfach später noch einmal an.«
»Gut, einverstanden. Bis später.«
Nachdem sie das Bildtelefon abgeschaltet hat, tritt Pamela vorsichtig an Tony Junior heran, rückt den Rollstuhl wieder zurecht und murmelt mit zitternder Stimme:
»Mein Sohn, mein Schatz … ist es wirklich Christus, der in dir wiedergeboren ist? Oder etwa … der Antichrist?«