Albtraum
What have you done to the game
Was it a victory, a shame
Where have you gone before morning dew
The game will not end without you.
Deine Lakaien, »The Game«
(Kasmodiah, © Chrom 1999)
Rudy wird von einem Lichtstrahl geweckt, der genau in seine Augen scheint. Eine kurze Paniksekunde lang glaubt er, dass es sich um die Taschenlampe eines Polizisten handelt, schreckt auf dem Fahrersitz zusammen und schneidet sich an einem der Glassplitter, die im gesamten Innenraum verstreut liegen. Doch es ist nur die Sonne, die zwischen den Zweigen der Bäume hindurchblitzt. Das Wetter ist schön und kalt. Vögel singen. In einiger Entfernung summt der Verkehr der Autobahn. Rudy ist vor Kälte wie erstarrt. Seine Gliedmaßen sind steif und mit kleinen Glasscherben gespickt. Trotzdem lächelt er. Er lächelt die Vögel, die Bäume, die Sonne und den blauen Himmel an. Lange hat er keinen so schönen Tag mehr erlebt. Sein Lächeln kommt aus tiefer Seele - zum ersten Mal seit langer Zeit. Mühsam quält er sich aus dem H5, dehnt und streckt sich und läuft einige Schritte in der knackig kühlen Morgenluft. Er hat den Eindruck, endlich aus einem schrecklichen, endlosen Albtraum erwacht zu sein, in dem es nichts als Tod, Gewalt und Blut gab. Die Toten hat es in Wirklichkeit nie gegeben, oder? Alles war nichts als ein schlimmer Traum, ein holografisches Spiel, das Aufbäumen einer virtuellen Welt. Selbst der Tod von Aneke und Kristin war nur virtuell. Immerhin hat er die beiden weder gesehen noch berührt. Nichts von allem hat in Wirklichkeit stattgefunden, und eines Tages wird Rudy nach Swifterbant heimkehren, seine Frau und seine Tochter in die Arme schließen und seine geliebten Tulpen streicheln. Alles wird wieder sein wie früher. Wie früher …
Rudys Lächeln verzerrt sich zur Grimasse. Der Albtraum springt ihn wieder an wie ein brüllendes Ungeheuer. Doch, es hat ein »Früher« gegeben. Alles ist wirklich. Aneke und Kristin leben nicht mehr; die Tulpen und Swifterbant sind verschwunden. Es gibt kein Zurück. Drei Leichen werden auf Jahre hinaus sein Gewissen belasten, dessen ist er sich sicher. Schon jetzt kann er ihre verunstalteten Gesichter sehen, die in den Tiefen seiner Erinnerung einen makabren Totentanz aufführen. Und auch die Angst und die Gewalt, die sich wie Säure in seine Seele ätzen, sind Realität. Selbst der Luxusschlitten mit der zertrümmerten Scheibe ist wirklich, ebenso wie die Blutflecke auf den Ledersitzen und die drohende schwarze Pistole an der Stelle, wo der Tote gesessen hat. Das Spiel geht weiter, Rudy! Und du bist immer noch im Rennen.
Rudy macht sich daran, den Wagen notdürftig zu säubern. Er fegt die Glassplitter hinaus und wischt die Blutflecken fort. Die Pistole versteckt er im Handschuhfach, wo er eine angenehme Entdeckung macht: Er findet ein Bündel Geldscheine im Wert von 5000 Euro, ein Handy und eine Schachtel mit 100 Kugeln vom Kaliber 5,67, die in die Luger passen. Außerdem stöbert er ein Päckchen mit weißem Pulver auf. Er kostet es - es ist bitter. Vermutlich Heroin. Diese Entdeckung freut ihn allerdings ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Sie ärgert ihn. Zwar könnte er sicher eine ganze Stange Geld damit herausschlagen, doch in diesem schmutzigen Geschäft kennt er sich nicht aus. Und außerdem erinnert er sich nur allzu gut an die drei Typen mit ihren Panzerfäusten, die hier und dort in der Ruhr dümpelnden Leichen und die vielen blutüberströmten Toten. Ohne die geringsten Gewissensbisse wirft er den Stoff ins taunasse Gras. Bitte sehr, ihr Ameisen - fresst, bis ihr platzt!
Die 5000 Euro hingegen kommen ihm ausgesprochen gelegen. Als Erstes wird er in Koblenz anhalten, sich waschen und sich eine neue Garderobe zulegen. Den BMW will er dort stehen lassen; der Wagen ist zu auffällig, umso mehr, als er womöglich gestohlen ist.
Rudy dreht den Zündschlüssel. Der Bordbildschirm flammt auf.
»Retinamuster unbekannt. Bitte geben Sie den Sicherheitscode ein.«
Scheiße. Rudy sucht nach einer Tastatur, auf der er den ihm unbekannten Code eingeben könnte, und entdeckt sie hinter der eingebauten Hi-Fi-Anlage, die offenbar mutwillig mit Schraubenzieher und Brecheisen zerstört worden ist. Also doch ein gestohlener Wagen! Rudy tippt aufs Geratewohl, doch nichts tut sich. Die Tasten sind blockiert. Mist! Was tun? Um nicht tatenlos dazusitzen, dreht er den Schlüssel noch ein Stückchen weiter im Schloss.
Sofort springt der H5 an. Der ausgezeichnet eingestellte Wasserstoffzellen-Motor gibt ein sanftes Pfeifen von sich. Nur der Bordcomputer spielt verrückt.
Fatal Error, verkündet er. System failed, setzt er hektisch blinkend hinzu.
Rudy testet Scheinwerfer, Blinker, Scheibenwischer und die Lenkung, aber alles funktioniert bestens. Vorsichtig setzt er den Wagen in Bewegung, gibt Gas, bremst - auch hier findet er nicht das geringste Problem. Er kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, welcher Systemfehler da vorliegen soll… Rudy fädelt sich wieder in den Verkehr der Autobahn ein und überlässt es dem Auto, sich mit seinem elektronischen Gewissen auseinanderzusetzen.
In Koblenz angekommen, orientiert Rudy sich Richtung Industriegebiet, das sich an den früher auf Erdölverladung spezialisierten und inzwischen zum Umschlagplatz für Methan und Wasserstoff umfunktionierten Hafen anschließt. Er sucht nach einem möglichst unauffälligen Versteck für den BMW, denn je später man den Wagen findet, desto später kommt man ihm auf die Spur. Vermutlich würde die Polizei die Verfolgung aufnehmen - für ein solches Auto kann man sich ruhig einmal anstrengen -, vielleicht auch die Dealer, denen der Inhalt des Handschuhfachs sowie dessen Verbleib sicher am Herzen liegen, ganz bestimmt aber die Leute von Sektion 25, die Rudy den Tod ihres Kommandanten wahrscheinlich ziemlich übel nehmen. So, wie er seine ehemaligen Kameraden einschätzt, würden sie die Verfolgung nicht der Polizei überlassen, sondern sich hartnäckig und bösartig wie mannscharfe Pitbulls an seine Fersen heften. Er weiß genau, dass er Tausende von Kilometern zwischen sie und sich legen muss, um wirklich Ruhe vor ihnen zu haben. Vor allem, weil die Sektion 25 zum Kommando Survival gehört, das nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa aktiv ist. Mit einem Schlag wird Rudy klar, dass er nie sicher sein wird, solange er in Europa bleibt.
Zwischen zwei Docks entdeckt er ein düsteres, schmutziges, mit Unrat übersätes Gässchen. Er zwängt sich mit dem H5 hinein, fährt den Wagen bis zum Ende durch und setzt ihn gegen einen Stapel rostiger Fässer. Bedauernd lässt er die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Sie gibt einen satten Klang von sich. Schade um das schöne Gefährt!
Zu Fuß macht Rudy sich auf den Weg in die Innenstadt. Er besichtigt den Zusammenfluss von Mosel und Rhein, erfreut sich an dem schönen Park am Deutschen Eck, sieht Ausflugsdampfer, auf denen noch vereinzelte Touristen herumschippern, bewundert die imposante Feste Ehrenbreitstein, die vom anderen Ufer herübergrüßt, und genießt den Reichtum der Innenstadt mit ihren Einkaufsvierteln. Schnell allerdings entdeckt Rudy den Grund für so viel Üppigkeit: Auf Plakaten wirbt die Stadtverwaltung dafür, sich bei einem bevorstehenden Referendum für die Umwandlung der Stadt Koblenz in eine Enklave auszusprechen. Natürlich bedeutet ein solcher Schritt das Ende der Aufenthaltsgenehmigung fast sämtlicher Immigranten bis auf diejenigen, die für niedrige Arbeiten gebraucht werden. Man wird ihre unhygienischen Behausungen niederreißen, an deren Stelle Grünflächen oder luxuriöse Geschäfte schaffen und rings um die Stadt einen Elektro-oder Plasmazaun errichten, damit die Privilegierten unter sich bleiben und in maximaler Sicherheit ein abgeschiedenes Leben führen können. Vielleicht ist es heute das letzte Mal, dass Rudy als zufällig zu Geld gekommener Ökoflüchtling diese schicke Boutique betreten und dort 500 Euro für Klamotten lassen darf - unter anderem kauft er einen wundervollen Lederblouson als sehr gediegenen Ersatz für die gestohlene Bomberjacke -, ohne sich als Mitglied der Elite ausweisen zu müssen.
In der Umkleidekabine stößt er in der Tasche seiner Drillichhose zufällig auf den Ausdruck mit Stellenanzeigen, den die hübsche Blondine - wie hieß sie noch gleich? Ach ja, Marlene! - ihm in die Hand gedrückt hat. Zunächst will er ihn wegwerfen, doch dann besinnt er sich: Information hat noch nie geschadet.
Nachdem Rudy sich von Kopf bis Fuß in sein geliebtes Schwarz eingekleidet und bei dieser Gelegenheit gleich noch eine ganze Tasche voller neuer Klamotten erstanden hat, genehmigt er sich ein köstliches Mittagessen in einem Edelrestaurant am Rheinufer in der Clemensstadt. Beim Essen sieht er den Ausflugsdampfern nach und fragt sich, wie es mit ihm selbst weitergehen soll. Er muss fort von hier, so viel ist klar - aber wohin? Das Entsetzen und den Albtraum hat er hinter sich lassen können - wenngleich sie ihn weiterhin verfolgen -, und äußerlich hat er sich in einen zivilisierten Menschen zurückverwandelt. Vor ihm jedoch gähnt eine große Leere. Die 4500 Euro, die ihm geblieben sind, werden so rasch zusammenschmelzen wie Schnee in der Sonne. Und dann? Weiter fliehen? Aber wohin? Und was soll er mit seinem Leben anfangen?
Rudy zieht die Stellenanzeigen aus der Tasche, streicht sie auf dem Tischtuch glatt und liest sie durch, während er sich sein Tournedo Rossini schmecken lässt. Die aufgelisteten Jobs sind durch die Bank schauderhaft: Rückbau von Chemiefabriken oder stillgelegten Nuklearanlagen, Reinigung ausgemusterter Öltanker, Abbruch von Ruinen in Katastrophengebieten, Reinigung von verschmutzten Stränden, Aufräumen von durch Stürme vernichteten Wäldern. Lediglich eine einzige Anzeige zieht seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie scheint origineller zu sein als die anderen.
Hilfsorganisation s. erf. Chauffeur f. Transp. v. Bohrmaterial n. Burkina Faso
(Afrika). Kostenübernahmegarant. ARBEIT 55273
Burkina Faso. Rudy findet, dass der Name gut klingt. Weit entfernt, exotisch, fremd. Warm und trocken. Afrika. Er ist doch ohnehin schon in Richtung Süden unterwegs. Was spräche dagegen, dass er diesen Weg einfach fortsetzt und ihn bis zum Ende geht? Wäre das nicht die Lösung, nach der er gerade gesucht hat? Nach Burkina Faso würde ihm bestimmt niemand folgen. Das Kommando Survival wäre dort mit Sicherheit nicht aktiv, und Dealer mit schweren Waffen vermutlich ebenfalls nicht. Zwar ist er kein erfahrener Chauffeur, aber einen Lkw kann er fahren - die Auslieferung seiner Blumen erforderte den entsprechenden Führerschein. Außerdem fährt er gern. Bohrmaterial nach Afrika zu bringen heißt überdies, dass er die Hände nicht tief in die Scheiße zu stecken braucht und auch nicht für 10 Euro täglich den Dreck irgendeiner ww-Tochter wegräumen muss. Es bedeutet im Gegenteil, sich nützlich zu machen und seinem Leben einen Sinn zu geben, wie er es Marlene gegenüber ausgedrückt hat. Gut, er bekäme zwar keinen Lohn, sondern nur seine Kosten erstattet, aber mit seinen 4500 Euro könnte er dort unten wie ein Fürst leben und vielleicht sogar wieder eine kleine Plantage aufbauen … O ja, die Aussicht gefällt ihm. Mit einem Schlag kommen ihm Hunderte pfiffiger Ideen.
Er zögert keinen Augenblick länger und schaltet das Telefon ein, das umgehend zu klingeln beginnt. Was tun? Der Apparat klingelt weiter. Rudy nimmt das Gespräch an. Eine heisere Stimme redet hastig auf Deutsch auf ihn ein.
»Polizei!«, ruft Rudy in den Hörer. »Was wollen Sie?«
Sofort wird am anderen Ende aufgelegt. Jetzt wird man ihn wohl nicht mehr belästigen. Er hat das Zauberwort ausgesprochen.
Er tippt ARBEIT sowie die Chiffre der Anzeige ein. Ein Sprachcomputer macht ihn darauf aufmerksam, dass 30 Euro fällig werden, sobald er den Job annimmt und einen Termin mit dem Arbeitgeber vereinbaren möchte. Verdammt! Wie soll er das anstellen? Seine Bank hat seine Konten natürlich längst blockiert; damit ist eine telefonische Überweisung unmöglich. Schade, dass man nicht einfach 30 Euro in den Hörer stecken kann … Da kommt Rudy eine Idee. Er ruft den Ober.
»Haben der Herr seine Mahlzeit beendet?«, erkundigt dieser sich servil.
»Ich möchte Sie bitten, mir einen kleinen Gefallen zu tun. Ich muss dringend eine telefonische Überweisung tätigen, habe aber meine Bankkarte vergessen und weiß meine Kontonummer nicht auswendig. Wären Sie eventuell bereit, die Überweisung für mich vorzunehmen, wenn ich Ihnen den Betrag sofort in bar auszahle?«
Der Kellner runzelt misstrauisch die Augenbrauen.
»Ich weiß nicht recht … Können Sie wenigstens Ihre Mahlzeit bezahlen?«
Diskret zeigt Rudy ihm das Banknotenbündel, zieht einen 50-Euro-Schein heraus und reicht ihn dem Ober.
»Die Überweisung beläuft sich auf dreißig Euro. Der Rest ist für Sie.«
Die Augen des Kellners beginnen zu glänzen, aber er ziert sich nach wie vor.
»Ich hoffe, es handelt sich um nichts Illegales oder Unmoralisches.«
»Es geht um ein Stellenangebot. Bitte.« Rudy reicht dem Ober das Telefon. »Ich nehme an, Sie wissen, wie es funktioniert.«
Der Kellner steckt hastig den Geldschein in die Tasche, ehe er Schritt für Schritt den Anweisungen aus dem Hörer folgt. Anschließend gibt er Rudy das Telefon zurück.
»Bitte sehr - alles erledigt.« Er wird wieder servil. »Wünscht der Herr, dass wir das Gericht noch einmal aufwärmen?«
»O bitte, sehr gern«, antwortet Rudy, während er über das Telefon gebeugt alle nötigen Informationen herunterlädt.
Arbeitgeber ist die Hilfsorganisation Save OurSelves, das Treffen findet am Hauptsitz der Organisation in Straßburg, Avenue de l’Europe statt, Tag und Uhrzeit sollen direkt mit dem Arbeitgeber vereinbart werden, dessen Kontaktdaten folgen. Rudy ruft an. Eine junge Frau meldet sich, stellt ein paar Fragen und bittet ihn, so schnell wie möglich nach Straßburg zu kommen. Der Job sei ihm sicher, erklärt sie, denn außer ihm habe sich niemand gemeldet.
Als Rudy das Gespräch beendet, ist die Heiterkeit des Morgens zurückgekehrt. Na bitte - es gibt etwas zu tun und einen Ort, an den er gehen kann. Mit Genuss verspeist er das aufgewärmte Tournedo und denkt daran, dass es vielleicht das letzte seines Lebens ist. Denn sein Leben hat sich soeben grundlegend verändert. Er ahnt es. Er spürt es.