Klarblick
Meine Damen, meine Herren, liebe Kollegen,
ich freue mich, Ihnen voller Glück und Stolz einen weiteren Sieg auf dem Gebiet der genetischen Behandlung einer Krankheit mitteilen zu können, von der Millionen Menschen befallen sind. Es ist eine Krankheit, für die sich der Westen bisher nicht interessiert hat, weil sie dort kaum verbreitet ist, doch das kann sich schnell ändern. Ich spreche von der Onchozerkose.
Nicht von der Erkrankung selbst, bei der es sich, wie Sie wissen, um eine durch eine Knäuelfilarie namens Onchocerca volvulus hervorgerufene Helminthiase handelt, die man auf klassische Art mit Diethylcarbamazin oder Ivermectin behandeln kann, sondern von ihren Folgen, der Schädigung im subkutanen und vor allem im okularen Bereich. Bei den Augenschädigungen ist vor allem die Linse betroffen, was eine völlige Erblindung nach sich ziehen kann. Nun, geschätzte Kollegen, die Folgeerscheinung der Erblindung haben wir ab sofort im Griff.
Wir haben eine Möglichkeit gefunden, durch eine Behandlung auf genetischer Basis unseren Patienten sozusagen zu neuen Augen zu verhelfen. Es scheint, als könne diese Art der Behandlung auch bei anderen Augenproblemen Wirkung zeigen, doch in dieser Hinsicht befinden wir uns noch im Forschungsstadium. Allerdings habe ich mich nach reiflicher Überlegung entschlossen, die Formel für die Behandlung dem am stärksten betroffenen Kontinent zu überlassen. Ja, Sie haben mich richtig verstanden. Ich werde die Formel nicht verkaufen, sondern verschenken.
Auszug aus der Rede von Dr. Kevorkian beim jährlichen OMS-Kongress am 3. Februar 2031
Das Empfangskomitee, das Saibatou Kawongolo bei ihrer Ankunft auf dem Flughafen von Mopti in Mali erwartet, ist deutlich größer als bei ihrer fast heimlichen Abreise an Bord von Fullers BBJ 3-A zwei Monate zuvor. Neben Yéri Diendéré sind Fatimata Konaté und ihr Amtsbruder Omar Songho, Präsident von Mali, nebst ihren jeweiligen Gesundheitsministern anwesend, außerdem Laurie und Abou, Amadou Diallo, stellvertretender Direktor der Bank für Entwicklung und Exehemann der Präsidentin, eine beträchtliche Anzahl von Ärzten sowohl aus Mali als auch aus Burkina Faso sowie einige Repräsentanten von Hilfsorganisationen, die hauptsächlich auf dem Gebiet der Medizin arbeiten. Und natürlich eine ganze Horde von Journalisten.
Die eigens von den Chinesen angemietete Antonov Long Range Cargo, die Saibatou aus Kansas nach Hause bringt, kommt nämlich nicht leer: Ihre ansehnlichen Frachträume sind bis oben hin voller Kisten mit dem Aufdruck: World Health Organization - Generic Medicine. Unter der anonymen Bezeichnung verbergen sich Millionen versiegelter, mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllter Spritzen, die mit dem sibyllinischen Code DNA-OCO47 bedruckt sind. Die Leute jedoch, die darauf warten, haben einen anderen, viel ausdrucksvolleren Namen gefunden: Klarblick. Saibatou, die als erster Mensch mit dem Medikament behandelt wurde, hat den Namen erfunden, als sie eines Tages mit Yéri telefonierte. »Mein Blick ist so klar geworden - geradezu unglaublich klar. Von meinem Zimmer aus kann ich die kleinsten Zweige an den Bäumen ganz hinten im Park erkennen. Ach, Liebste, ich freue mich auf unser Wiedersehen. Ich freue mich unendlich darauf, dein schönes Gesicht endlich wieder betrachten zu können!«
Trotz der brütenden Hitze dieser letzten Februartage wartet das Empfangskomitee geduldig in der Ankunftshalle, die einer Sauna gleicht. Das Flugzeug hat Verspätung. Die beiden Präsidenten diskutieren leise mit ihren Ministern über bestimmte Klauseln ihres Partnerschaftsvertrages mit China. Als Gegenleistung für den finanziellen Aufwand des Charterns der Antonov sind die Chinesen am Patent des OCO47 interessiert. Die Ärzte studieren interessiert die von Dr. Kevorkian an Fatimata geschickte E-Mail, in der er nicht nur detailliert die Wirkungsweise des Medikaments auf die Linse beschreibt, sondern auch die möglichen Nebenwirkungen anführt, die allerdings noch nicht über einen längeren Zeitraum hinweg nachgewiesen wurden. Auch das Protokoll von Saibatous Behandlung hat er mitgeschickt. Die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen, deren Lkws im Frachtbereich zum Beladen bereitstehen, planen mit ihren Organizern in der Hand die erste Auslieferungsphase. Amadou Diallo begrüßt seinen Sohn und lernt Laurie kennen, die er »sehr schön und äußerst charmant« findet; Abou gefällt der Blick, mit dem sein Vater Laurie betrachtet, ganz und gar nicht. Yéri Diendéré schließlich, die eigentlich bei Fatimata bleiben müsste, um dem Gespräch zuzuhören und die einzelnen Vorschläge zu notieren, geht nervös in der Ankunftshalle auf und ab und wendet den Blick nicht von Uhr und Ankunftstafel.
Erst kürzlich hat Fatimata von der Verbindung zwischen ihrer Sekretärin und Saibatou erfahren, und zwar anlässlich von Yéris häufigen Telefonaten mit der Klinik in Kansas und der auffälligen Nervosität, mit der ihre sonst so phlegmatische Sekretärin das Resultat der Behandlung erwartete.
»Was ist denn los, Yéri?«, fragte die Präsidentin irgendwann aufgebracht. »Warum interessierst du dich denn dermaßen für Saibatou? Was hat das zu bedeuten?«
»Wir lieben uns«, gestand Yéri mit verschämt in den Händen vergrabenem Gesicht.
Im ersten Augenblick blieb Fatimatas Mund vor Überraschung offen, dann aber brach sie zur großen Überraschung ihrer Sekretärin in ein herzliches Lachen aus.
»Na, so was! Aber jetzt verstehe ich endlich, warum ich dich noch nie mit einem jungen Mann gesehen habe, obwohl es ja eine Menge gut aussehender Kandidaten gibt, die gar nicht abgeneigt wären. Und auch, warum du Saibatou Modell gestanden hast. Ich dachte immer, du wolltest dir eine Kleinigkeit nebenher verdienen. Weißt du, dass ich sogar einmal vorhatte, dich Abou vorzustellen?«
»Dann sind Sie mir also nicht böse, Fatimata?«
»Dir böse sein? Warum sollte ich? Ich bin nicht deine Mutter, und es steht dir frei, dich zu entscheiden, wie es dir Spaß macht. Außerdem kann ich nur sagen, dass du eine wirklich gute Wahl getroffen hast, dich in eine so große Künstlerin wie Saibatou zu verlieben.«
»Danke, Fatimata. Vielen, vielen Dank.«
Yéri fiel der Präsidentin um den Hals und gab ihr einen herzhaften Kuss. Sie war sichtlich erleichtert, endlich ihr Geheimnis los zu sein, dass sie eine Frau liebte. Seither ist die ohnehin schon innige Beziehung zwischen der Präsidentin und ihrer jungen Sekretärin noch intensiver geworden. Fatimata hat Yéri sogar gestanden, dass sie sich immer eine Tochter wie sie gewünscht habe, woraufhin Yéri erwiderte, dass sie Fatimata immer schon so geliebt habe, als wäre die Präsidentin ihre wahre Mutter.
»Verstehen Sie, Fatimata, die Männer interessieren sich nur für meinen Hintern. Frauen aber können erkennen, dass ich auch ein Herz und einen Kopf habe…«
Endlich landet die geräumige Antonov. Yéri hält es in der Halle nicht mehr aus. Sie läuft in den Ankunftsbereich und duckt sich unter den entrüsteten Rufen der Zollbeamten unter der Zollschranke durch, ehe die Flughafenpolizei sie erwischt. Sie wehrt sich mit so viel Wut und veranstaltet ein derartiges Theater, dass Präsident Songho schließlich aufmerksam wird.
»Ist das nicht Ihre Sekretärin, die da drüben von der Polizei festgehalten wird?«, erkundigt er sich bei Fatimata.
»Aber ja, das ist Yéri! Was, zum Teufel, ist mit ihr los?«
Gefolgt von einer Schar Journalisten, die einen Eklat wittern, nähern sie sich dem Handgemenge. Die Polizisten haben große Schwierigkeiten, Yéri in den Publikumsbereich zurückzubringen. Sie windet sich wie ein Aal und tritt so heftig um sich, dass einer der Polizisten schließlich seinen Gummiknüppel zückt. Sofort geht Fatimata dazwischen:
»Lassen Sie sie los. Die Dame ist meine Sekretärin und stellt keine wie auch immer geartete Gefahr dar.«
»Aber sie ist unberechtigt in einen für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Bereich vorgedrungen«, argumentiert der Polizist empört.
»Gut, dann erteile ich ihr in meiner Eigenschaft als Präsidentin von Burkina Faso ab sofort die Berechtigung. Ihre … ihre Tante ist soeben gelandet, und sie hat das Recht, sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit als Erste zu begrüßen. Oder spricht von Ihrer Seite aus etwas dagegen, Präsident Songho?«
»Nicht, dass ich wüsste«, nickt dieser. »Lassen Sie die junge Dame bitte sofort los!«
Widerwillig lassen die Polizisten Yéri laufen. Wie ein Wirbelwind saust sie durch die Gänge und rennt auf das glühend heiße Rollfeld hinaus, wo die Frachtmaschine gerade mit pfeifenden Reaktoren zum Stehen kommt. Kaum ist die Treppe an die Flugzeugtür gefahren worden, als Yéri sie auch schon hinaufstürmt. Sobald die Tür geöffnet wird, ist Yéri so schnell im Innern der Maschine, dass sie Saibatou, die sich gerade zum Aussteigen fertig macht, fast umrennt. Sehnsüchtig nimmt sie ihre Liebste in die Arme und presst sie an sich.
»Saibatou! Liebling! Endlich bist du wieder da!«
»Yéri? Bist du das?«
Erschrocken weicht Fatimatas Sekretärin einen Schritt zurück und schaut in Saibatous Gesicht.
»Siehst du mich denn nicht?«
»Doch…«
Saibatous neue Augen sind hinter einer großen Sonnenbrille verborgen. Langsam nimmt sie die Brille ab und schaut Yéri an, die bestürzt ihren Blick erwidert. Zwar sind die Augäpfel der Künstlerin wieder makellos weiß, doch ihre ehemals tiefschwarze Iris schimmert jetzt in der Farbe eines klaren Bergsees und verleiht ihrem Blick etwas Fremdes, fast Beängstigendes.
»Mein Gott, Saibatou! Was haben sie mit dir gemacht?«
»Eine unvorhersehbare Nebenwirkung … Aber ich schwöre dir, ich sehe absolut klar.« Sie kneift die Augen zusammen und unterdrückt eine schmerzliche Grimasse. »Helles Licht macht mir noch ein wenig zu schaffen, aber daran werde ich mich wohl mit der Zeit gewöhnen.« Saibatou umschlingt Yéris schlanke Taille. »Aber ich kann dich sehen, Liebste. Ich sehe dich gut - allzu gut!«
»Allzu gut?«, hakt Yéri mit erhobenen Augenbrauen nach.
»Ich sehe jetzt auch deine Aura, Yéri. Ich kann die Wellen und Schwingungen erkennen, die du ausstrahlst. Es sieht aus wie ein goldener Schein, der dich umgibt. Zum Beispiel kann ich deine Liebe sehen. Sie entspringt dort«, Saibatou legt ihre Hand auf Yéris Bauch, »und wickelt lange Kupferfäden um mich herum, die in mich eindringen und mein Herz zum Beben bringen. Wirklich, Yéri, ich kann es sehen«, fügt sie hinzu und muss angesichts der bestürzten Miene ihrer Freundin lächeln.
Unter den amüsierten Blicken der taiwanesischen Stewardess, die geduldig darauf wartet, dass ihre »ehrenwerte Passagierin« endlich aussteigt, tauschen Yéri und Saibatou einen langen, leidenschaftlichen Kuss. Dann setzt Saibatou ihre Sonnenbrille wieder auf und betritt vorsichtig die Plattform. Dabei hält sie Yéris Hand ganz fest. Die dunklen Augengläser mildern zwar die blendende Helligkeit der Sonne, doch die glänzenden Aluminiumstufen kann sie gut erkennen. Trotzdem wirkt ihr Schritt ein wenig zögernd - es ist die Folge einer langen Gewohnheit.
»Diese Aura«, fragt Yéri, »siehst du die nur bei mir oder bei allen anderen auch?«
»Bei allen. Zum Beispiel kann ich erkennen«, setzt sie leise hinzu, »dass die Stewardess uns mit vanillefarbenen Sympathiewellen umgibt. Und die zwei Typen da unten auf dem Elektrokarren schicken uns ungesund purpurne Schwingungen der Begierde. Pfui! Ihre Aura ist scheußlich!«
»Aber - stört dich das denn gar nicht?«
»Ob es mich stört? Im Gegenteil, ich finde es ungeheuer spannend. Yéri, mein Schatz, was glaubst du, wie ich jetzt malen werde! Meine Bilder werden vielleicht seltsam aussehen, aber sie zeigen die ganze Wahrheit.«