Das schweigende Wissen
Die Menschen kennen ihre Begierden; es ist eine laute und bewegte Welt, in der sowohl das Gute als auch das Böse existieren. Doch in der Welt der Menschen gibt es auch ein Schweigen; es ist das Schweigen des Wissens. Dieses Schweigen befindet sich mitten im Lärm, und nirgendwo anders. Diejenigen, denen es gegeben ist, ihre Aufmerksamkeit auf dieses Schweigen zu lenken, erkennen, was Wissen bedeutet.
Barkié Kaboré, Bangba aus dem Stamm der Mossi,
zitiert von Kabire Fidaali in Le Pouvoir
du bangré (1987)
Rudy ist tief beeindruckt. Zunächst von dem Hof, diesem Hafen der Frische und des Lebens inmitten des trockenen Todes von Ouahigouya, diesem unerwarteten Paradies am Ende eines wahren Armageddons von Fahrt; dann von Hadé selbst, dieser stoischen Mama in ihrem bunten Boubou, die von ihren Patienten wie eine Heilige verehrt wird und die ihre Sprechstunde phlegmatisch und kompetent abhält, ohne Gefühlsregung und ohne je nervös zu werden, und zum Schluss von dem Fetisch im Hinterhof, den Abou ihm gezeigt hat, seinem ungemütlichen Anblick, den Amuletten und Talismanen und seiner blutigen Basis. Die ganze Atmosphäre erinnert ihn an die Reportagen, die er früher oft im Fernsehen als letzte Zeugnisse einer aussterbenden Lebensart gesehen hat. Damals hielt er diese Dinge für inszenierte Folklore und glaubte an eine schönfärberische Realität um der packenden Bilder willen - aber nein, alles ist tatsächlich wahr!
»Vielleicht hätten wir ein Huhn mitbringen sollen«, sagt er. »Kennst du die Formeln, mit denen man die Geister beschwört?«
Abou muss lachen.
»Nein, Rudy, so geht das nicht. Dieser Fetisch ist für die Leute da, die sich zusätzliche Unterstützung wünschen und glauben, dass die Mittel meiner Großmutter nicht ausreichen, um sie zu heilen, oder die befürchten, verhext worden zu sein. Der Fetisch, mit dem man ins Bangré blicken kann, befindet sich in der Hütte und darf von niemandem benutzt werden.«
»Oh, dann muss er ja ganz besonders schrecklich sein.«
»Du wirst sehen…«
Nachdem Hadé sie eine gute halbe Stunde hat warten lassen - Zeit, die sie für einen komplizierten Fall brauchte: einen von einer schlecht gereinigten Spritze mit Aids infizierten Mann -, lädt sie die beiden schließlich in ihre Hütte ein. Rudy sieht sich sogleich nach dem viel gerühmten Fetisch um. Sein Blick wird von den Masken mit den merkwürdigen Tiergesichtern gefesselt, dem Festgewand aus buntem Bast, den Kopfputzen aus Leder und Federn. Mit einem Nicken weist Abou ihn auf das mit Kaurimuscheln verzierte Tongefäß hin, aus dem ein dünner Rauchkringel aufsteigt. Rudy hebt die Augenbrauen - er hat das Ding für eine Art Backofen gehalten.
Hadé bietet ihnen einen Becher klares, frisches Wasser aus dem mit geometrischen Mustern verzierten, in feuchten Sand gebetteten Tongefäß an. Abou erwartet das übliche, lange Schweigen, das sich den Sprechstunden seiner Großmutter anschließt - ihre Zeit der Sammlung -, doch kaum hat sie ihre opulente Kehrseite in dem niedrigen Sessel untergebracht, spricht sie ihren Enkel mit strenger Stimme an.
»Abou, wozu dient das Bangré?«
»Da … dazu, im Unsichtbaren zu sehen«, antwortet Abou zögernd. Der verhaltene Zorn seiner Großmutter verwirrt ihn. »Dazu, die Geister der Toten und die zindamba zu treffen und Dinge der anderen Welt kennenzulernen.«
»Darf man mit dem Bangré Menschen beeinflussen?«
»Nein, Großmutter.«
»Möchtest du ein schwarzer Hexer werden oder ein Rufer des Todes, ein djinamory?«
»O nein!«
»Dann tu so etwas nie, nie wieder, Abou! Du weißt, wovon ich spreche!«
»Ja, Großmutter«, antwortet Abou beschämt.
Angesichts von Rudys Unverständnis besänftigt sich Hadé und erklärt ihm mit einem kleinen Lächeln:
»Dieser Strolch hatte die Idee, sein bisschen Wissen dazu zu gebrauchen, ein Mädchen an sich zu ziehen, in das er verliebt ist.«
»Laurie?«
»Eine Weiße mit blonden Haaren. Ich habe keine Anstalten gemacht, mehr über sie zu erfahren, denn das Alter für libidinöse Visionen habe ich längst hinter mir.«
Rudy prustet los. Hadé fällt in sein Lachen ein und macht sich über Abou lustig, der mit dem Kopf zwischen den Knien auf seiner Matte kauert. Plötzlich jedoch wird sie wieder ernst.
»Das Bangré ist eine ernsthafte Sache, die sehr gefährlich werden kann, wenn man damit Kräfte mobilisiert, die man nicht meistert. In Abous Fall wurde die unsichtbare Weltordnung allerdings kaum gestört, denn die Frau, die er im Visier hat, ist längst bereit. Aber wenn er weitergeht, könnte er sehr schädliche Kräfte auf sich ziehen. Einige schleichen schon um ihn herum.« Nach kurzem Schweigen setzt sie hinzu: »Sie sind auch in Ihrer Nähe, Rudy. Aus diesem Grund habe ich Ihnen gestattet, mein Haus zu betreten. Sie sollen Zeuge der Macht des Bangré werden. Vielleicht können Sie im richtigen Moment daraus die Kraft schöpfen, die bösen Kräfte zu bekämpfen.«
Erstaunt wartet Rudy auf mehr, doch es kommt nicht. Hadé hat die Augen geschlossen und scheint in ihrem niedrigen Sessel eingenickt zu sein.
»Können Sie mir vielleicht Genaueres dazu sagen?«, drängt er.
Ein Ellbogenstoß Abous und ein auf die Lippen gelegter Zeigefinger bedeuten ihm zu schweigen. Rudy gehorcht nur widerwillig, aber gut, möglicherweise handelt es sich ja um ein Ritual oder um eine gewisse Zeit für die Enthüllungen, die er nicht ins Wanken bringen darf. Doch wie dem auch sei, er schwört sich, dass er die Hütte nicht verlassen wird, ohne erfahren zu haben, woran er sich halten soll und wen er bekämpfen muss.
Nach einer halben Ewigkeit, während der Rudy mehrfach nicht übel Lust hat, aufzustehen und zu gehen, jedoch immer von Abou zurückgehalten wird, und während der er sich nicht nur einmal fragt, ob sie den ganzen, mühsamen Weg nur gemacht hatten, um einer etwas exzentrischen alten Frau bei ihrer Siesta zuzusehen, richtet sich Hadé plötzlich auf und öffnet die Augen.
Sie haben alle Farbe verloren.
Zwei abgrundtiefe Wasserlöcher, die sich auf das Unsichtbare richten.
Mit tonloser Stimme und ohne ihn anzusehen, fordert sie Abou auf, die ihm bekannte Kalebasse zu holen und drei Prisen des darin enthaltenen Pulvers in den Fetisch zu streuen.
Abou tut wie geheißen. Kaum ist das Pulver im Fetisch, als ein dichter, brauner, herber, erstickender Rauch aus der Öffnung des Tongefäßes steigt. Abou kehrt an seinen Platz auf der Matte vor dem Sitz seiner Großmutter zurück. Beiden scheint der Rauch nichts auszumachen, doch Rudy hat Erstickungsanfälle, hustet und blinzelt. Am liebsten hätte er den Vorhang am Eingang geöffnet, um ein wenig Luft in den Raum zu lassen, doch Abou hält ihn mit einem leichten Kopfschütteln davon ab.
»Schau mir in die Augen«, fordert Hadé ihren Enkel auf. »Und atme langsam.«
Abou kniet sich vor seine Großmutter hin, um auf gleicher Augenhöhe zu sein. Sein Atem wird langsam und tief. Rudys Kopf dreht sich. Mit roten Augen und gereiztem Hals flüchtet er sich in die Nähe des Eingangs, um wenigstens ein bisschen Luft zu schnappen. Von seinem Standort aus, vor einem Hintergrund aus wirbelnden Rauchschwaden, die von vereinzelt durch die geschlossenen Läden dringenden Sonnenstrahlen gestreift werden, kommen ihm Abou und Hadé wie zwei Heiligenfiguren vor, wie die lebendigen Abbilder eines weiblichen Buddhas und ihres vor ihr knienden Schülers. Er hat den Eindruck, ein chinesisches Schattenspiel zu betrachten, eine Projektion, deren Ursprung sich … weit weg befindet. Selbst ihre Stimmen klingen vernebelt, erstickt und fern.
»Was siehst du, Abou?«
»Ich sehe … Bäume.«
»Was für Bäume?«
»Große Bäume … Baobabs.«
»Und weiter?«
»Am Fuß eines Baobabs ist etwas. Eine Hütte?«
»Eine Hütte? Bist du ganz sicher?«
»Ja … Nein. Es ist ein Speicher, ein Hirsespeicher. Eine Ruine.«
»Richtig, Abou. Geh jetzt näher ran und sieh hindurch!«
»Ja, Großmutter. In dem Speicher ist etwas. Etwas … Lebendiges.«
»Richtig, Abou. Und jetzt geh noch näher.«
»Es ist … ein Tier? Nein. Es ist … Oh, es ist Moussa!«
»Gut, Abou! Aber pass auf, lass dich nicht von deinen Gefühlen übermannen, sonst verschwindet die Vision. Konzentriere dich. Atme. Atme. Schau mir in die Augen … Gut. Was siehst du jetzt?«
»Irgendwelche Dinge am Fuß der Bäume … Sind es Gebäude? Ich kann es nicht mehr gut erkennen.«
»Du musst dich konzentrieren. Atme … und schau hin.«
Plötzlich geht Abous Atem stoßweise und schwer. Er zittert. Seine Lider beginnen zu flattern, er hustet … und dann sinkt er um Luft ringend und krampfend auf der Matte zusammen.
Rudy ist mit einem Satz auf den Beinen.
»Hey! Was hat er? Wir müssen irgendetwas tun!«
»Geben Sie ihm ein wenig Wasser, wenn Sie möchten«, sagt Hadé mit müder Stimme. »Und lüften Sie den Raum …«
Sie liegt träge in ihrem Sessel. Ihre Augenlider sind geschlossen, und sie scheint außer Atem zu sein.
Hastig öffnet Rudy den Vorhang und alle Fensterläden, taucht eine Kalebasse in das tönerne Wassergefäß und besprüht Abous Gesicht, ehe er versucht, ihm zu trinken zu geben. Mit viel Mühe flößt er ihm erst einen, dann einen zweiten Schluck ein. Abou blinzelt, öffnet die Augen, hustet noch einmal und atmet tief und erlöst die warme Luft, die aus dem Hof hereindringt. Der bräunliche Rauch verflüchtigt sich allmählich.
Schließlich gelingt es Abou, sich aufzusetzen. Ein wenig zittrig lächelt er seine Großmutter an, die noch immer mit geschlossenen Augen dasitzt, und dann Rudy, der ihn stützt.
»Geht schon«, sagt er. »Ich habe Schlimmeres erlebt. Manchmal drückt sie meinen Kopf direkt in den Rauch.«
Er zeigt auf den Fetisch, aus dem jetzt wieder das bläuliche, nach unbekannten Kräutern duftende Rauchgekräusel aufsteigt.
Als Rudy ganz sicher ist, dass es Abou wieder gut geht, nähert er sich der Großmutter, die reglos in ihrem Sessel ruht.
»Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Madame? Kann ich …«
Er bricht ab. Hadés Antwort ist ein ruhiges Schnarchen.
Abou macht Rudy ein Zeichen, die Hütte zu verlassen und seine Großmutter schlafen zu lassen.
»Es ist sehr ermüdend, ins Bangré zu sehen«, erklärt er draußen im Hof. Sie blinzeln in die grelle Sonne. »Außerdem wird meine Großmutter langsam alt. Deshalb hat sie auch angefangen, mich einzuweisen, denn das Wissen muss weitergegeben werden. Man darf es nicht für sich behalten.«
»Apropos nicht für sich behalten: Es gibt da etwas, das sie mir noch hätte erklären sollen. Was sind das für böse Kräfte, die ich ihrer Meinung nach bekämpfen soll?«
»Ich habe da so eine Ahnung, allerdings weiß ich nicht, ob ich es dir sagen darf. Ich werde sie beim nächsten Mal danach fragen.«
Rudy schneidet eine verärgerte Grimasse.
»Nach allem, was ich gesehen habe, kannst du es mir sicher sagen, Abou. Mich geht es doch ebenso an wie dich, oder?«
»Nein, denn du bist nicht eingewiesen.«
»Pah! Aber das, was du im Rauch gesehen hast, darfst du mir doch hoffentlich sagen.«
»Natürlich, denn deswegen sind wir ja hergekommen.«
Nachdem sie sich von Hadés Assistentinnen Bana und Magéné verabschiedet und den im Hof wartenden Patienten eine gute Besserung gewünscht haben, steigen sie wieder in den kleinen, am Hoftor geparkten Hyundai. Obwohl sie die Fenster offen gelassen hatten, herrscht im Innenraum eine Bullenhitze, der die Klimaanlage kaum beikommen kann.
»Dann schieß mal los«, fordert Rudy Abou auf, während sie die sterbende Stadt durchqueren. »Ich hoffe, du erinnerst dich noch.«
»Sicher. Es ist wie ein Traum, nur dass die Bilder recht klar sind.«
Abou beschreibt seine Vision, die Baobabs, den Hirsespeicher und den darin gefangenen Moussa. Und die anderen Dinge am Fuß der Bäume - möglicherweise Gebäude.
»Und weißt du auch, wo all das ist?«
»Das nicht, aber es kann nicht sehr weit von Kongoussi entfernt sein. Wir müssen uns nur erkundigen.«
»Gut, aber wenn niemand einen Hirsespeicher unter Baobab-Bäumen kennt?«
»In diesem Fall«, antwortet Abou ungerührt, »müssen wir eben suchen. Oder meiner Großmutter noch einen Besuch abstatten.« Er schweigt einen Moment, tief in Gedanken verloren. »Vielleicht weiß ich es ja sogar. Könnte sein, dass mir der Ort im Traum erscheint oder ich die Straße wiedererkenne. Im Bangré gibt es Dinge, die man sieht und hinterher beschreiben kann, doch es gibt auch das schweigende Wissen, und das ist manchmal viel wichtiger. Aber auch schrecklicher.«
»Ah! Dann kommt also das, was deine Großmutter von den düsteren Kräften gesagt hat, die uns umschleichen, von diesem schweigenden Wissen?«
»Richtig. Und genau das macht mir große Angst.«