Spielwiese
Erbe, Raum, Geist.
Glauben, kämpfen, siegen.
Ein Volk, ein Reich, ein Führer.
Aufschriften auf den Wänden der »Sektion 25«
Rudy hat die Nase gestrichen voll. Zehn Tage ist er nun schon in der Sektion 25 und findet es einfach nur zum Kotzen. Er ist nicht nur erschöpft, durchgenudelt und hat Muskelkater, sondern er fühlt sich innerlich von Wut und Hass wie zerfressen. Aber er hat nun einmal unterschrieben und muss noch zehn Tage durchhalten. Das Kommando Survival toleriert keine Deserteure.
Seine Einheit hat den Auftrag bekommen, eine alte Raffinerie am Ufer der Emscher, irgendwo mitten im Ruhrgebiet zwischen Bottrop und Gelsenkirchen, zu verteidigen. Das Terrain ist kaum zu kontrollieren, weil alle Gebäude mehr oder weniger aus Rohren, Pipelines, Türmen, Bottichen, Reservoirs, Becken, Treppen und Brücken bestehen, die samt und sonders eiskalt sind und immer noch nach Öl stinken. Die »Feinde« könnten in das Gelände eindringen, wo es ihnen beliebt. Doch im Augenblick kann Rudy von seinem Beobachtungsposten, einer großen Plattform auf halber Höhe einer Destillationsanlage, niemanden ausmachen.
Sein Blick irrt von dem düsteren Schauplatz der Kampfübung über die gigantische Ruine hinweg, die aus dem Ruhrgebiet geworden ist. Früher konzentrierten sich hier die wichtigsten petrochemischen Großkonzerne, doch die unvermeidliche Erdölverknappung brachte diesen Industriezweig ebenso zum Erliegen, wie es zuvor schon dem Kohleabbau ergangen war. Nur die erfolgreichsten Tochtergesellschaften der ww konnten ihre Produktion auf Wasserstoff und Biokraftstoffe umstellen. Einige bauten ihre alten Fabriken um, die meisten jedoch zogen einfach an anderer Stelle neue Produktionsstätten hoch. Die Unternehmen jedoch, die das Ende der Erdölära nicht abgesehen hatten und die Kurve nicht mehr kriegten, gingen sang-und klanglos unter. In der Folge wurde aus dem nördlichen Ruhrgebiet mit den Städten Duisburg, Oberhausen, Gelsenkirchen und Castrop-Rauxel eine der größten Industriebrachen der Welt und aus der Emscher, an deren Ufer die Fabrikleichen in sich zusammenfallen, der schmutzigste Fluss Europas. Die Landschaft, die von den Farbtönen Rost, Stahl und Beton dominiert wird, wirkt wie eine lebensgroße Allegorie auf den langsamen Todeskampf der Industriegesellschaft - schwarze, bröckelnde Schornsteine; vor sich hin rostende Behälter; durchlöcherte, korrodierte Rohre; altersschwache, mit Graffiti besprühte Gebäude, deren Fensterscheiben zerborsten sind; aufgeplatzte Böden; verdächtig schimmernde Pfützen zweifelhafter Herkunft; eingeknickte Kräne; Fahrzeugwracks; mit Trümmern und Müll übersäte Straßen. Und mitten durch diese verzweifelte Tristesse hindurch rinnt die braune und tote Emscher Seite an Seite mit dem ebenso braunen und toten Rhein-Herne-Kanal. Aus dem bleiernen Himmel, der sich über die Szene wölbt, fällt eine Art schmutziger Schnee, der auf den Kleidern fettige Spuren hinterlässt.
Die Grauzone der Industriebrache ist zum Tummelplatz für die sogenannten »Wilden« geworden, einer Spezies, neben denen sich die Ökoflüchtlinge der Drehscheibe wie Bonbondiebe ausnehmen. Kein vernunftbegabtes Wesen würde je einen Fuß in dieses Gelände setzen, doch die Sektion 25 des Kommandos Survival betrachtet es als seine Lieblingsspielwiese. Niemals hätte Rudy sich einschreiben dürfen!
Das Kommando Survival besteht nämlich aus echten, unbelehrbaren Neonazis.
Bisher ging Rudy davon aus, dass es sich bei dieser Ideologie um einen alten, mottenzerfressenen Mythos handelt - das Abfallprodukt einer Legende -, der lediglich von einem harten Kern nostalgischer Großdeutschland-Fanatiker hochgehalten wird, die den bombastischen Opernpomp des Dritten Reiches nicht vergessen können. Inzwischen ist ihm klar geworden, dass die Neonazis eine mächtige, weitverbreitete, in einzelne Sektionen aufgeteilte Organisation aufgebaut haben, die dank ihres Engagements für die Wiedereingliederung als gemeinnützig anerkannt und damit völlig legal ist und die mit ihren Überlebenstrainings - bei denen es sich in Wirklichkeit um Guerillacamps mit propagandistischem Hintergrund handelt - eine breite Masse erreicht.
Obwohl Rudy bei seiner Anmeldung ausgesprochen zurückhaltend war - dass die Organisation sich als »Kommando« bezeichnete, kam ihm zunächst ein wenig suspekt vor -, fasste er relativ schnell Vertrauen. Der Lehrgang war für Ökoflüchtlinge kostenlos, die Empfangsdame lächelte freundlich und behandelte ihn sehr zuvorkommend, die in einer ehemaligen Fabrik für Autoteile in Bochum gelegenen Büroräume waren sorgfältig renoviert, an den Fenstern standen Grünpflanzen, und es gab sogar einen kleinen Park. Die Broschüre, die Rudy während der Wartezeit durchblätterte, pries den Lehrgang an als »Abenteuer für echte Männer, bei dem es auf gegenseitige Hilfe und wahre Kameradschaft ankommt und das auf eine Verbesserung des persönlichen Unternehmungsgeistes, der Widerstandsfähigkeit, des Selbstwertgefühls und des Willens, den eigenen Erfolg zu verteidigen, abzielt.« Sämtliche aufgezählten Qualitäten waren unerlässlich für einen Ökoflüchtling, der sein Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen wollte.
Er zuckte ein wenig zusammen, als das Mädchen ihm ein Formblatt vorlegte, in dem er unterschreiben sollte, dass er sich der Risiken bewusst sei, die bei der Teilnahme am Lehrgang entstehen könnten, und dass er die volle Verantwortung dafür übernehme.
»Welche Risiken?«
Das Lächeln der Empfangsdame erlosch.
»Sie haben sich für ein Überlebenstraining eingeschrieben, klar? Sie werden lernen, wie man sich in schwierigen Situationen verhält - zu diesem Zweck aber müssen wir Sie zunächst in eine schwierige Situation bringen, die selbstverständlich gewisse Risiken birgt.«
Während sie das sagte, zuckte sie mit den Schultern, als ob es sich um eine völlig selbstverständliche Sache handele, über die man nicht groß reden müsse. Rudy hakte dann auch nicht weiter nach.
Er gab seine Illusionen erst auf, nachdem er seiner »Einheit« zugeteilt worden war. Die Gruppe wurde von einem jungen Glatzkopf mit vernarbtem Gesicht befehligt, der ihn ständig anbrüllte und ihm lautstark zu verstehen gab, er sei nichts als ein Stück Scheiße, ein Lump und der Abfall der sozialen Gesellschaft, doch er könne wieder zum Menschen werden, wenn er nur immer brav seinen Befehlen gehorche, sie ohne Murren ausführe, andächtig den Reden lausche und sich nichts zuschulden kommen lasse. Und auch, wenn er sich jetzt schinden müsse, würde er ihm später umso dankbarer sein, weil er dann nämlich stark, mutig und fähig wäre, die Welt zu erobern. »Nur die Starken überleben. Schwächlinge, Untermenschen und Schwuchteln werden mitleidlos ausgemerzt.«
Und dann entdeckte Rudy die Naziparolen auf den Wänden des Schlafsaals, er las die Propaganda, die überall herumlag - jede andere Lektüre ist verboten, und alle Bücher wurden bei der Ankunft konfisziert - und er hörte die als Endlosschleife ablaufenden Reden in deutscher Sprache, deren abstoßender Tonfall an Hitler erinnerte, die aber so machtvoll klangen, dass es kaum möglich war, sich ihnen zu entziehen. Er weigerte sich, die Filme anzusehen, was ihm einige Schikanen einbrachte. Schnell begriff er, dass die Drohung, Schwächlinge auszumerzen, keine leere Rhetorik oder braune Wichtigtuerei war, sondern hier wirklich zum Alltag gehörte.
Da sind zunächst die Deserteure - diejenigen, die es nicht aushalten und versuchen, aus dem Camp zu fliehen. Es gilt geradezu als Sport, sie zu verfolgen und ins Lager zurückzubringen, wo der Fantasie ihrer Folterer bei ihrer Misshandlung keine Grenzen gesetzt sind. Falls sie danach noch leben, lässt man sie irgendwo am Rand des Geländes liegen.
Dann gibt es diejenigen, die sich beklagen, sich gehen lassen, nicht gehorchen oder nicht schnell genug sind. Sie werden bei den gefährlichsten Missionen - wie zum Beispiel dem Ausheben eines Dealernests im Keller einer Fabrikruine - in die erste Reihe geschickt, wo sie wirklich ihr Leben riskieren.
Und schließlich gibt es auch noch eine Sonderbehandlung für Männer, die sich vor der Arbeit drücken, die eine ruhige Kugel zu schieben versuchen und Befehlen widersprechen sowie solchen, die verbotene Artikel wie unzulässige Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik, aber auch Drogen, Pornos, Telefone und andere Kommunikationsmittel ins Lager einschmuggeln. Sie werden im Verborgenen in einer »Nacht und Nebel« genannten Aktion bestraft, nach der man sie in aller Regel nicht wiedersieht. Wenn man sie zufällig doch einmal wiedersieht, sind sie kaum noch zu erkennen und haben nicht mehr viel zu sagen.
Die Lehrgangsteilnehmer werden dazu angehalten, bei den bewaffneten und unbewaffneten Kampftrainings sofort aufzuhören, wenn das erste Blut fließt oder der Unterlegene nicht mehr entkommen kann. Wird der Angreifer allerdings wütend oder packt ihn die Mordlust, darf er den Kampf nicht nur fortsetzen, sondern wird auch bis zu dem manchmal tödlichen Ausgang der Fehde von den anderen angefeuert. Auch sollten die Waffen, die bei den Geländekämpfen im Außenbereich benutzt werden - meist sind es deutsche GII und russische AK74 - mit Paintballs bestückt sein. Häufig geschieht es jedoch, dass richtige Kugeln in den Magazinen »vergessen« werden. Jeder fragt sich, ob nicht zufällig er die tödliche Waffe trägt und an diesem Tag zum Botschafter des Todes wird.
Nachdem das Kampfziel verkündet war, machte sich Rudys Einheit von Bochum aus im Laufschritt auf den Weg zur alten Raffinerie und verteilte sich nach einer gründlichen Durchsuchung auf dem Gelände. Jetzt erwartet man die »Roten«, die die Raffinerie angreifen und stürmen sollen. Mit Sicherheit wird es Verletzte und möglicherweise sogar Tote geben - vielleicht sogar durch Rudys eigene Hand.
Rudy muss gegen sein Schwindelgefühl ankämpfen, doch er wagt sich bis zum Rand der Plattform vor, deren bröckelige Reling wie rostige Klöppelspitze aussieht. Er beobachtet den 25 Meter unter ihm gähnenden Abgrund aus Stahl und Beton.
Unter zwei parallel verlaufenden Röhren glaubt er, eine Bewegung zu erkennen.
Sind das schon die Roten? Doch der Boss hat weder ihre Ankunft signalisiert noch den Befehl zum Angriff gegeben. Oder hat er sie etwa nicht gesehen?
Die Bewegung wird deutlicher. Rudy erkennt eine Gestalt, die sich unter den Röhren hervorschlängelt, im Laufschritt den ungeschützten Platz überquert und sich sofort hinter einen Soaker duckt.
Zitternd presst sich Rudy gegen die Wand seines Ausgucks. Jetzt wünscht er sich sogar, heute das Gewehr mit den echten Kugeln zu haben, denn die Gestalt ist kein Roter. Rudy hat die zerlumpte Kleidung und die riesige Knarre deutlich erkannt.
Es ist einer der »Wilden« aus der Grauzone.
Und da hinten, am Fuß des Hochofens, entdeckt er einen Zweiten.