Irifi

Würdest du die Geheimnisse der Wüste kennen, wärest du meiner Ansicht. Doch du kennst sie nicht, und Unwissenheit zieht Übel nach sich. Wärest du auch nur ein einziges Mal in der Sahara aufgewacht, hättest du mit deinen Füßen den Sandteppich berührt, der mit perlengleichen Blumen übersät ist, dann hättest du unsere Vegetation und die seltsame Vielfalt ihrer Farben, ihrer Anmut und ihres Duftes schätzen gelernt; du hättest den sanft parfümierten Wind geatmet, der uns zweifach leben lässt, denn diese Brise streift niemals durch unreine Städte.

Abd elKader, Les Chevaux du Sahara (1855)

Schon seit geraumer Zeit kann Rudy die Straße nicht mehr erkennen.

Tatsächlich erkennt er überhaupt nicht mehr sehr viel. Mit zusammengekniffenen Augen, geschürzten Lippen, knirschenden Zähnen und rauer Kehle fährt er aufs Geratewohl durch den Irifi, einen heißen, trockenen Wind. Heftige Böen kreuzen sich und werden immer stärker. Rudys Horizont endet an der ockerfarbenen, bewegten Windschutzscheibe des Mercedes. Die Lichtkegel der Scheinwerfer dringen nur wenige Meter in den tanzenden Sand ein. Die gebleichten Knochen und abgewetzten Autowracks am Straßenrand erfassen sie schon längst nicht mehr. Das unaufhörliche Prasseln auf den Scheiben, das klagende Stöhnen des Windes zwischen den Dünen, die vergänglichen, unscharfen Formen, die vor den Scheinwerfern wirbeln, haben Rudy in eine Art Hypnose versetzt, in der die einzig zuverlässigen und greifbaren Elemente das Lenkrad und der Rahmen der Windschutzscheibe sind. Rudy hat keine Ahnung, ob er sich noch auf der unter Sandströmen verborgenen Transsaharienne befindet oder längst auf dem felsigen Untergrund eines gassi, eines Dünentales, fährt. Seine Geschwindigkeit liegt bei etwa 20 Stundenkilometern, und in seinen Eingeweiden macht sich die Angst breit, sich verfahren zu haben und in einer Wanderdüne zu enden. Der Sand dringt durch jede Öffnung - durch die Lüftungsschlitze, obgleich sie geschlossen sind, durch die von den Plünderern geschossenen Löcher, durch die Ritzen der von einem Automechaniker in Ghardaia grob mit Epoxidharz geflickten Windschutzscheibe - und kriecht unter die Kleidung, irritiert die Haut, brennt in den Augen, trocknet den Mund aus und verstopft die Lungen.

Der Motor des Mercedes beginnt zu stottern. Die Warnleuchten des Bordcomputers blinken. »Sofort anhalten«, signalisiert die Überwachungsanlage des Autopiloten. Als hätte Rudy insgeheim schon auf diese Aufforderung gewartet, gehorcht er ihr aufs Wort. Er stellt den Wagen in Parkposition ab, zieht die Handbremse, schaltet den Motor aus und die Standleuchten ein. Mit einem erleichterten Seufzer lehnt er sich in seinen Sitz zurück und schließt die schmerzenden Augen. Doch der Sand tanzt hinter seinen geschlossenen Lidern weiter.

Neben ihm schreckt Laurie hoch. Das plötzliche Anhalten hat sie aus der gebannten Sandwind-Trance gerissen, in der auch sie beim Anblick der faszinierenden, tanzenden Sandwirbel und der braunen Dünenschatten versunken war.

»Warum hältst du an?«, fragt sie mit rauer Stimme.

Rudy hat die Hände im Nacken verschränkt und öffnet ein sandverklebtes Auge.

»Ich kann nichts mehr sehen. Ich weiß nicht einmal, ob wir noch auf der Straße sind.«

Seine Griesgrämigkeit richtet sich hauptsächlich gegen sich selbst, gegen seine Blasiertheit, mit der er aus Europa gekommen ist und glaubte, über alles Bescheid zu wissen.

Bei ihrem Zwischenstopp in Hassi Targui verkündete ein alter Chaambi ihnen unter einem strahlend blauen Himmel, dass sie besser nicht weiterfahren sollten, weil bald der Irifi wehen würde. Rudy dachte das Gleiche wie Laurie: Pah, hier regt sich doch kein Lüftchen. Der Alte will sich vermutlich wichtig machen. Besagter Alter lächelte leise in seine Falten, als hätte er Rudys Gedanken erraten, zog den weißen Cheche wieder über die gebräunte Nase und ging zu seinem Kamel, das ihn stoisch neben dem ausgetrockneten Brunnen erwartete. Rudy hingegen stieg wieder in den Mercedes und bereitete sich auf einen glühend heißen Nachmittag vor.

Eigentlich hatte der Tag ganz gut begonnen, was nach den Zerreißproben des Vortags ein wahres Glück war. Nachdem sie schon um 5 Uhr 30 vom Ruf des Muezzin geweckt wurden, verließen sie in der Morgendämmerung das einfache, aber saubere und bequeme Hotel im oberen Teil der Medina von Ghardaia, dessen Besitzer, ein liebenswerter Mozabit, ganz rigoros gewesen war. »Sie sind nicht verheiratet?«, hatte er am Abend zuvor gefragt. »Gut, dann gibt es ein Zimmer für die junge Dame und ein Zimmer für den Herrn.« Ihre Zimmer hatten Aussicht auf den Palmenhain und die Festungsmauern von Melika auf der gegenüberliegenden Talseite gehabt. Der Lkw war über Nacht unversehrt geblieben. Sie hatten ihn für hundert Dinar der Obhut eines jungen Arbeitslosen überlassen, den sie spätabends eingerollt in seinen Burnus tief schlafend vor der Autotür vorgefunden hatten. Am Busbahnhof konnten sie Autogas und Wasservorräte auffüllen. Laurie, die sich durch die schamlosen Blicke gestört fühlte, musste feststellen, dass sie weit und breit die einzig anwesende Frau war - und noch dazu in Shorts. Rudy lernte zwei Lkw-Fahrer kennen, einen Chaambi aus Gourara und einen Targi aus Ahaggar, deren Stämme sich eigentlich als Feinde betrachten, die sich aber zusammengetan hatten, um den Risiken der Piste zu trotzen. Der Targi wollte in El Goléa in Richtung Tamenghest abbiegen, der Chaambi hingegen - und das klang für Rudy interessant - befand sich auf dem Weg durch sein Geburtsland nach Ouallen am Fuß des Adrar N’Ahnet und damit dem Beginn der beunruhigenden Tanezrouft. Um einen winzigen, auf dem Boden stehenden Solarrechaud versammelt, auf dem Pfefferminztee vor sich hin köchelte, verabredeten die drei, zumindest einen Teil der Strecke als Konvoi zu fahren, weil auf der Transsaharienne »alles passieren könne, inch’Allah, vor allem das Schlimmste«. Das Schlimmste schienen die beiden anderen noch nicht erlebt zu haben; als nämlich Rudy seinen beiden neuen Freunden von den Unannehmlichkeiten des Vortags erzählte, mussten sie herzlich lachen.

Unglücklicherweise splittete sich der Konvoi schon nach gut dreißig Kilometern auf, weil die beiden Einheimischen für Rudys Begriffe viel zu schnell auf der unebenen Piste unterwegs waren, die sich zwischen den grauen, steinigen Hügeln des M’zab dahinschlängelt. Trotz seines ultramodernen Satellitenradios kam er schnell außer Reichweite ihrer altmodischen CB-Funk-Anlagen. Nach einem letzten, über Störfrequenzen geschrienen »Barak Allahou fik« - Gott schütze dich - entschloss Rudy sich zuzusehen, wie die Staubwolken der beiden Lkws am Horizont der flachen, leeren Geröllwüste im Zittern und Flimmern der Hitze immer kleiner wurden.

Vereinsamt - denn Laurie sitzt seit vielen Stunden stumm und abwesend neben ihm -, abgestumpft vom regelmäßigen Pfeifen der Turbine und geblendet von den goldenen Lichtbrechungen der Sonne auf den Dünen, die sich allmählich in das Reg vorschieben, erreicht Rudy das bewegliche Ufer eines Ozeans aus Sand: den Großen westlichen Erg.

Rundliche, lasziv aussehende Dünen, schwellend wie Brüste, geschwungen wie Hüften oder gewölbt wie Bäuche, bogen-oder sichelförmige Erhebungen, silbern glitzernde Halden, abrupte braune Abhänge, vanillefarbene Wellen, Strudel in Karamell, rötliche Vertiefungen, die gipsartigen Flächen der gassi, der gefurchte Sand der feidi, Torbögen und Passagen, die an die Pforten eines Labyrinths erinnern, aus roten und ockerfarbenen Felsen von Sand und Wind gefräste Skulpturen, die wie versteinerte Tiere aussehen … Der Erg ist ein Meer aus langsamen, riesigen, in ihrer Bewegung kaum wahrnehmbaren Wogen mit Schaumkronen aus Quarz, von fein ziselierter, schnell vergänglicher Spitze durchbrochen, ein reiner, immer wieder neu beginnender Ozean, manchmal durchzogen von einer einsamen, kurzlebigen Spur von Schritten, Pfoten oder Reifen. Ab und zu entdeckt man auch ein zurückgelassenes Relikt der Zivilisation: eine alte Teekanne aus abgestoßener Emaille, ein Stück Stoßfänger, Plastikflaschen, eine brüchige Ziegenlederflasche. An einigen Stellen signalisiert eine aus weiß gekalkten Steinen erbaute qobba, dass hier ein Weiser oder ein Marabut begraben liegt, ein Geist der großen Wüste. Wie eine lange, schwarze Schlange mit Schuppen aus Quarz zieht sich die Straße mehr oder weniger gerade durch den Erg. Manchmal liegt sie unter neugeborenen Sanddünen begraben, die von den Lastwagen entweder umfahren oder geteilt werden. Rudy geht vom Gas. Dieses bedächtige Meer mit der gemächlichen Dünung beeindruckt ihn, ebenso wie die blendenden, vom Wind zerzausten Kämme und die violetten Schattentäler, in denen spiralförmige Geister tanzen. Er hat das Gefühl, einen Tempel zu schänden, der urtümlichen Gottheiten geweiht ist. Wären da nicht der Müll und die Wracks auf den Seitenstreifen der Straße, die von einer dauernden Entweihung zeugen, müsste man annehmen, dass für Menschen hier kein Platz vorgesehen ist. Rudy ist derart in seinen mystischen Trip vertieft, dass er dummerweise in einer kleinen Düne stecken bleibt, die er problemlos hätte umfahren können.

Mit einem solchen Fall haben sie gerechnet, und Rudy ist gut ausgerüstet: Er hat Schaufeln, Anfahrbleche und eine Seilwinde, um den Lkw herauszuziehen. Nach einer halben Stunde schweißtreibender Arbeit hat er den Mercedes aus dem Sand befreit. Durstig, erschöpft und mit geschundenen Händen vom Hantieren mit den Anfahrblechen, fährt er weiter. Das Wasser aus dem Tank ist warm und grünlich, im Führerhaus herrschen 45 Grad Hitze, und das Lenkrad ist so heiß, dass er es kaum berühren kann. Rudy beschließt eigenmächtig, in El Goléa anzuhalten und die heißesten Tagesstunden bei einer kleinen Siesta zu verschlafen. Seit die Klimaanlage des Mercedes nicht mehr funktioniert, sind solche Zwischenstopps fast obligatorisch geworden. Und möglicherweise würde Laurie sich bei ein paar kessera und einer Tasse Pfefferminztee ein wenig entspannen, herauslassen, was ihr durch den Kopf geht, und endlich wieder reden.

Wie häufig in der Wüste, taucht die Oase El Goléa ganz plötzlich am Ausgang einer Kurve auf. In einem Rund aus rötlichen, von den endlosen Dünen des Großen Erg ausgeschmirgelten Felsen, liegt die Stadt aus Dolomit am Rand einer üppigen Oase, wo sich Gemüsegärten unter dem lebhaft grünen Laub der Palmen verstecken. Ein zerfallener Ksar auf einem Felsvorsprung scheint die moderne Stadt zu bewachen, wirkt aber schon ebenso mineralisch wie die Tafelberge aus Kalkstein ringsum. Die Salzsenke strahlt in der sengenden Mittagssonne. Rudy parkt den Mercedes auf einer Art Platz neben der großen Straße und schlendert zusammen mit der immer noch schweigsamen Laurie durch die aromatisch duftenden, schattigen Gassen der Medina. Auf der Suche nach einem Ort, wo sie zu essen und zu trinken bekommen, verfolgt von einer ganzen Horde Kinder, die lebhaft um Dinare und Geschenke betteln, finden sie zufällig die Gärten der Oase. Nach der Gluthitze der Wüste kommen sie Laurie und Rudy wie ein wahrer Zufluchtsort und ein erquickender Born der Frische vor. Hohe, sattgrüne Palmen sind mit süßen Datteln beladen, Sonnenstrahlen sprühen durch das Laub und werfen flirrend goldene Flecken auf die Pflanzungen, an schwer nickenden Obstbäumen locken bereits halb geöffnete Granatäpfel, und die Feigenbäume verströmen köstlichen Mandelduft. Überall strömt Wasser, sprudelt aus artesischen Brunnen, fließt durch schmale Lehmkanäle und hält die Nutzgärten durch ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem ständig feucht. Es ist ein wahres Paradies aus Halbschatten, frischer Kühle und exotischen Düften - leider allerdings auch für Millionen Fliegen und Schnaken.

Laurie und Rudy ziehen sich in die Medina zurück. Die Kinder haben inzwischen entmutigt die Verfolgung aufgegeben. Plötzlich entdecken sie eine winzige Terrasse im Schatten eines knorrigen Tamarindenbaums. Ein vom Sandwind abgeschmirgeltes Metallschild, auf dem noch der Schriftzug CocaCola zu erkennen ist, legt nahe, dass es sich um ein Café handeln könnte. Der Wirt, ein fröhlicher Mozabit, der seinen Kaftan gut ausfüllt, macht zwar keine kessera, die erhofften Pfannkuchen, schlägt ihnen jedoch zusätzlich zu den üblichen Fleischspießen eine Salatauswahl aus den Gärten vor, was sie freudig akzeptieren. Außerdem gibt es bei ihm gekühlte Cola, die sowohl Laurie als auch Rudy gerade recht kommt.

Nachdem sie gegessen, getrunken und sich im zarten Schatten der Tamarinde entspannt haben, entschließt sich Rudy, endlich die angespannte Stille zubrechen, die seit dem Morgen zwischen ihnen herrscht.

»Na, Laurie, verrätst du es mir?«

»Was soll ich dir verraten?«

»Warum du nicht mehr sprichst.«

Laurie schweigt lange.

»Ich habe … Angst«, murmelt sie schließlich zögernd.

»Angst? Wovor denn? Vor mir?«

»Nein, nicht vor dir.«

»Wovor dann? Mensch, Laurie, wir sitzen doch im selben Boot! Wenn du Ängste hast oder dich vor etwas fürchtest, ist es wirklich nicht gut, es für dich zu behalten. Das bringt nichts, schon gar nicht für uns als Team. Wovor hast du denn Angst?«

»Vor … vor der Wüste.«

»Vor der Wüste?«, ruft Rudy überrascht. »Ja, ist es denn nicht herrlich hier?« Seine weite Armbewegung schließt die Medina, die Palmen, die felsigen Anhänge, den zerfallenen Ksar, die ockerfarbenen Klippen und die fernen Sanddünen ein, die unter dem glühenden Himmel schimmern.

»Hier schon. Aber hier gibt es auch Bäume, Früchte, Wasser und Menschen. Leben halt! Aber da draußen?« Laurie fröstelt trotz der Hitze. »Dieser Sand, diese schwarzen Felsen, die verbrannten Hügel und die blendenden Salzfelder … Und dann diese einsamen und leeren Geröllebenen … Als wir da durchgefahren sind, hätte ich um Haaresbreite die Nerven verloren und dich gebeten, umzukehren und mich in Ghardaia zurückzulassen.«

»Ach, Laurie!« Rudy rutscht auf der Bank näher an Laurie heran und legt ihr die Hand auf die Schulter. Die junge Frau zittert. »Weißt du, abgesehen von ein paar Banditen, Schlangen und Skorpionen gibt es nichts zu befürchten. Wir haben eine super Ausrüstung, haben einen Lastwagen, der fantastisch läuft, und nehmen eine relativ viel befahrene Straße. Wir werden uns weder verirren noch verdursten, wenn wir vorsichtig und vorausschauend handeln.«

»Auch das ist es nicht, was mich ängstigt. Es ist die Wüste selbst. Sie riecht nach Tod. Da ist kein Leben. Und genau davor fürchte ich mich. Keinen Baum zu sehen, kein Gras, keine Tiere, nichts als ein paar verkümmerte Sträucher über Hunderte von Kilometern. Vergiss nicht, woher ich komme, Rudy. In der Bretagne ist alles grün und ziemlich feucht.«

»Ich stamme auch aus einem feuchten Land - jetzt sogar aus einem, das ganz unter Wasser steht. Aber die Trockenheit, der nackte Fels, die reinen Formen beruhigen mich eher, ganz im Gegensatz zu dir.« Laurie nickt ratlos. »Trotzdem müssen wir jetzt weiter. Wir können nicht ewig hier sitzen bleiben.«

»Obwohl mir das gerade recht wäre. Man hat den Eindruck, als wäre hier die Zeit stehen geblieben.« Verträumt lehnt sie einen Moment lang ihren Kopf an den von Rudy, der einen Arm um ihre Schulter legt. »Man könnte seinen Garten bestellen, von Tag zu Tag leben, ohne sich Sorgen zu machen…« Plötzlich richtet sie sich auf. Ihr zaghaftes Lächeln erlischt. »Bei der Vorstellung, wieder in diesen ganzen Sand zurückzumüssen, und das für ich weiß nicht wie viele Kilometer, kriecht mir kalte Angst in die Eingeweide.«

»Ich versuche, so schnell wie möglich zu fahren«, verspricht Rudy und zieht mit einem gewissen Bedauern die Hand zurück. »Wie wäre es, wenn du dich inzwischen auf die Ruheliege zurückziehst und ein bisschen schläfst? Dann siehst du den Sand wenigstens nicht.«

»Aber ich spüre ihn. Er dringt in meinen Mund und meine Nase ein, kriecht unter meine Augenlider und erfüllt mich mit seinem Geruch nach Stein. Wer weiß, vielleicht werde ich auf der Ruheliege noch zum Fossil.«

»Nicht, solange ich am Steuer sitze.«

Sie trödeln noch eine Weile herum, trinken noch einen Pfefferminztee und plaudern mit dem Wirt über Europa. Einer seiner Söhne ist dort, lässt aber schon lange nichts mehr von sich hören. Irgendwann nimmt Rudy Lauries Hand und zieht sie hinter sich her zu ihrem Mercedes, in den sie ohne große Begeisterung einsteigt. Und dann geht es mühselig weiter auf der sandigen Straße, die sich zwischen den Dünen hindurchschlängelt.

Zweihundert Kilometer weiter, nachdem sie die Abzweigung nach Hoggar passiert haben, und nach einer Pinkelpause in Hassi Targui mit dem vergeblichen Versuch, noch einmal den Wassertank aufzufüllen, geraten sie in ihren ersten Sandsturm.

Es beginnt mit einem Himmel, der von Minute zu Minute gelber wird. Die Schaumkronen aus Silikatkristallen auf den Dünenkämmen und die weißliche Wellenbewegung entlang ihrer Flanken scheinen sich schneller zu verändern. Bald schon steigen Wirbel aus den Vertiefungen auf, und Sand weht über den Asphalt - zunächst nur als dünner Hauch, später dann in breiten Bahnen. Der Wind beginnt zu stöhnen. Sandkörnchen prasseln auf die Karosserie. Der Horizont wird immer düsterer und schwärzer, bis er schließlich eine nebelhafte Mauer bildet, die vorwärtsrollt und dabei die Dünen abflacht wie eine riesige Dampfwalze, die Landschaft auswischt und den Lkw in einen braunen, brüllenden, brausenden, wirbelnden Halbschatten taucht, voller Stimmen ohne Worte, Formen ohne Substanz, undeutlicher Drohungen und bevorstehender Zusammenbrüche. Der Mercedes beginnt zu husten, Rudy fantasiert und verirrt sich. Laurie betrachtet das Chaos mit aufgerissenen Augen und zerbrochener Seele. Endlich bleibt der Lastzug stehen, erstickt und besiegt vom Sand, der sofort einsickert, eindringt und sich anhäuft.

Wie lange würde dieser höllische Sturm dauern? Eine Stunde? Einen Tag? Eine Woche? Wie lange konnten sie ihn überleben? Sie haben nur wenig Wasser und Proviant an Bord, denn Rudy wollte Timimoun noch vor Einbruch der Nacht erreichen. Wie lange noch? Die Zeit fließt dahin wie der Sand, Körnchen für Körnchen knistern die Sekunden, Minuten fransen aus und verlieren sich in den Fetzen von Stunden. Laurie und Rudy haben sich eng aneinandergedrängt auf der Ruheliege verbarrikadiert, sind im braunen Schatten erstarrt und verlieren jegliches Zeitgefühl. Ihre Gedanken werden von den Böen davongerissen, graben sich ins Rascheln der Dünen und zerreiben sich im unaufhörlichen Prasseln auf das Führerhaus. Immer tiefer versinken sie im Sand, werden selbst zu seiner trockenen Hitze, seinem mineralischen Nicht-Leben, seiner vergänglichen Flüssigkeit. Immer tiefer versinken sie auch in der Finsternis, doch sie merken es nicht. Kümmert sich der Sand etwa um Dunkelheit? Sie kauern Stirn an Stirn auf der Ruheliege, sehen nichts, denken nichts und spüren nichts. Sie sind nur noch im brausenden Wind umherirrende Seelen, zeitlose Stimmen, die zwischen den Dünen seufzen.

Ödland - Thriller
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