Neuer Weißer Block
Arische Rasse = Herrenrasse
Platz für die wahren Menschen - die Weißen!
Verbrennt alle Neger, Juden und Araber!
Tod den Schwulen!
Hitler hatte recht!
Auf die Außenwände der Drehscheibe gesprühte Graffiti mit der Signatur NWB (Neuer Weißer Block)
Als Rudy am nächsten Morgen die Treppe hinunterhumpelt, um sich für das Frühstück anzustellen - ein Becher Blümchenkaffee und eine Scheibe altbackenes Brot -, bemerkt er eine gewisse Unruhe. Rufe und Diskussionen werden laut. Die Menge ist in Bewegung und drängt sich um die Generatoren. Immer mehr Menschen kommen hinzu. Rudy gibt seiner Neugier nach. Auch er möchte gern wissen, was da los ist, allerdings traut er sich mit seinem geschwollenen Fuß nicht mitten ins Getümmel und kann daher nicht erkennen, was die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zieht.
»Was ist denn da los?«, erkundigt er sich bei den Umstehenden.
»Scheint, als ob sich einer hätte abmurksen lassen«, antwortet ein großer Schwarzer.
»Außerdem hat ihm jemand eine Flasche in den Arsch gesteckt«, setzt sein Kumpel fröhlich hinzu.
Sie prusten vor Lachen und tauschen Zoten in einer afrikanischen Sprache aus. Die Menge wird von vier bewaffneten Gangstervisagen in der beigefarbenen Uniform von Safe & Secure auseinandergedrängt. Das Bundesland hat den Sicherheitsdienst, der im Grunde nichts anderes ist als eine private Miliz, zum Schutz der Sicherheit im Lager angeheuert; natürlich nur von acht Uhr abends bis acht Uhr morgens. Rudy heftet sich an ihre Fersen und schafft es bis in die Nähe der Leiche.
Der Mann liegt nackt und bleich auf dem Bauch vor der ehemaligen Verladerampe. In seinem Anus steckt der Hals einer Rheinweinflasche mit einer zusammengerollten Botschaft. Sein Körper ist von unzähligen Dolchstichen zerfetzt und umgeben von einer riesigen Blutlache. Vermutlich hat er lange leiden müssen, ehe der Tod eintrat.
Es ist nicht der erste Mord im Lager, doch gemessen an der Zahl der Diebstähle, Vergewaltigungen und Prügeleien sind unnatürliche Todesarten eher selten. Die meisten Todesfälle hier sind eher auf die unhygienischen Zustände, Entbehrungen, unsaubere Drogen und schlecht oder gar nicht kurierte Krankheiten zurückzuführen. Wenn jemand umgebracht wird, dann meistens diskret und außerhalb der Lagergrenzen. In diesem Fall jedoch wollte man offensichtlich ein Exempel statuieren.
Die Milizionäre von Safe & Secure legen die Leiche auf eine mitgebrachte Trage. Und jetzt erkennt Rudy den Mann. Es ist sein Bettnachbar Nils. Beim Aufwachen war Nils nicht da, und Rudy fühlte sich in gewisser Weise erleichtert, dass er nicht schon am frühen Morgen den traurigen Hundeblick ertragen musste. Wahrscheinlich ist der Holländer zur Toilette oder Luft schnappen gegangen - auf jeden Fall aber ist er seinem Mörder in die Arme gelaufen.
Während zwei der Milizionäre den Toten abtransportieren, kennzeichnet der dritte den Fundort der Leiche mit fluoreszierender Sprühfarbe, und der vierte schüttelt die Flasche mit dem blutbesudelten Hals, um an das zusammengerollte Stück Papier zu kommen. Doch es gelingt ihm erst mithilfe eines von der Erde aufgelesenen Zweigs, die Nachricht aus der Flasche zu holen. Er entrollt sie und liest sie mit zweideutigem Gesichtsausdruck.
»Und?«, ertönt ein Ruf aus der Menge, die nur auf diesen Augenblick gewartet hat.
»Was steht da?«
»Lesen Sie vor!«
»Ach, das ist nur Blödsinn«, wehrt der Milizionär ab.
»Nun machen Sie schon!«
»Jetzt lesen Sie endlich, verdammt!«
»Wir wollen wissen, was da steht!«
Der Milizionär sieht seinen Kollegen an, als wolle er sich seiner Zustimmung versichern, doch der zuckt nur die Schultern. Daraufhin rollt er den Zettel wieder auseinander.
»›Wir wollen hier keine Schwulen‹«, liest er leise. »Unterschrift: NWB. Das ist alles.«
Wie ein Lauffeuer macht der Satz die Runde. Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Sie reichen von Pfeifen und Buhrufen bis hin zu Applaus und Freudengeheul und sorgen sehr schnell dafür, dass die neugierige Eintracht der Menge in sich zusammenfällt. Rudy ahnt, dass es nicht lange dauern wird, ehe die ersten Fäuste fliegen, und hinkt eilig davon.
Der Neue Weiße Block ist eine Neonazibewegung, die etwa zehn Jahre zuvor in den großen Ballungszentren Deutschlands entstanden ist und für eine übertriebene Rassehygiene und die vorbehaltlose Vorherrschaft der arischen Rasse eintritt. Sie ist extrem gewalttätig, lehnt es grundsätzlich ab, auf legale Weise politischen Einfluss zu nehmen, und verbreitet ihre Ideen lieber durch Mordanschläge und Attentate auf ethnische Minderheiten wie Türken, Schwarze oder Araber und deren bevorzugte Aufenthaltsorte. Auch Juden und Homosexuelle stehen auf ihrer schwarzen Liste. Zwar ist der NWB in ganz Deutschland verboten, doch wird die Befolgung des Verbots je nach Bundesland und Durchschlagkraft der jeweiligen Ortsgruppen mehr oder weniger streng gehandhabt. Die Polizei schätzt die gesamte Mitgliederzahl der Bewegung auf mehrere Zehntausend Köpfe, die sich in kleinen, autonomen und sehr mobilen Gruppen organisiert haben, meist unter fünfundzwanzig Jahre alt sind und aus wohlhabenden Kreisen wie dem Großbürgertum der Enklaven stammen. Mehrere strafrechtliche Verfolgungen des Neuen Weißen Blocks wurden niedergeschlagen, weil es sich bei den Angeklagten um Söhne oder Neffen einflussreicher Vorstandsmitglieder von worldwide handelte. Rudy hasst den Neuen Weißen Block von ganzem Herzen - erstens, weil seine Mitglieder Nazis sind, und zweitens, weil er die gefährlichen Schösslinge der ultraliberalen Elite weiterverbreitet. Hätte er etwas mehr Mut gehabt, hätte er sich vielleicht der Internationalen Roten Brigade angeschlossen, die sich auf die Banner geschrieben hat, alle Nazis wie Ungeziefer zu zerquetschen.
Während sich Rudy mit schleppendem Schritt der langen Schlange vor der Frühstücksausgabe anschließt, wundert er sich zum wiederholten Mal über seine aggressiven Gefühle. Niemals hat er sich geprügelt, auch nicht in seiner Kindheit. Nie hat er etwas anderes getötet als Insekten, und auch die nur, wenn sie wirklich störten. Sein Leben lang hat er Gewalt verachtet und so ausdrücklich vermieden, dass ihm Aneke manchmal vorwarf, viel zu nachsichtig mit Kristin zu sein. Und sie hatte recht: Er konnte die Kleine nicht gut weinen sehen. Ist es die Atmosphäre des Lagers, die allmählich auf ihn abfärbt? Oder dieses Scheißleben, das ihn so hart macht? Verwandeln sich seine Verzweiflung und seine Hoffnungslosigkeit langsam in Wut und Hass? Er denkt an Nils, den armen Kerl, der gestern Abend bei ihm nichts als einen Augenblick der Zärtlichkeit gesucht hat und dafür mit dem Leben bezahlen musste. Erst Moses, dann Nils. Auf Zärtlichkeit steht hier die Todesstrafe.
Bestimmt hat der junge Kahlkopf mit den Schmissen ihn beim NWB denunziert, denkt Rudy. Er erinnert sich des entzückten Blickes, den er fälschlicherweise für sexuelles Interesse gehalten hat. Scheiße, wenn ich den zwischen die Finger bekomme, dann kann er sein blaues Wunder erleben! Wieder verspürt er diese brennende, unstillbare Wut.
Mist! Da kommt er!
Der junge Glatzkopf mit den Schmissen, die ihm das Aussehen eines Indianerkriegers in einer Schmierenkomödie verleihen, geht langsam an der Warteschlange entlang und verteilt Reklamezettel. Wenn das Werbung für den NWB ist, stopfe ich ihm das Maul damit, schäumt Rudy. Als der junge Mann jedoch bei ihm ankommt, nimmt er den Zettel, ohne ein Wort zu sagen. Aber sie sehen einander in die Augen. Rudy läuft ein Schauder über den Rücken. Der Typ hat ganz helle, fast durchsichtige Augen und einen gierigen Raubtierblick. Schweigend setzt er seinen Weg fort. Rudy stößt einen langen Seufzer aus und liest das Traktat.
Es handelt sich nicht um die gemeine Propaganda des NWB, sondern um Werbung für das Kommando Survival, eine paramilitärische Organisation, die Überlebenstrainings und Kampfsportkurse anbietet. Genau das, was ich nötig hätte, überlegt Rudy. Immerhin muss ich zugeben, dass ich nicht in der Lage bin, mich zu verteidigen - im Gegenteil, ich habe sogar Angst vor Schlägereien. Aber was nützt mir der Hass, wenn ich mich nicht einmal richtig prügeln kann? Allerdings muss er der Tatsache Rechnung tragen, dass es sich bei diesen Kampfsportgruppen häufig um Ableger der extremen Rechten handelt. Na und? Kampftechnik ist Kampftechnik - da gibt es weder rechts noch links. Man wird mich kaum zwingen, mir ihre Indoktrination anzuhören. Und wie sagte schon Sun Tzu? Wenn du deinen Feind schlagen willst, musst du ihn erst kennenlernen. Er liest den Zettel noch einmal genau durch.
Als Rudy endlich vor dem großen Kessel mit lauwarmem Kaffee steht, ist sein Entschluss gefasst. Endlich würde er etwas zu tun haben und wissen, wohin er gehen könnte.