Mission
Vaterland oder Tod - wir werden siegen!
Wahlspruch aus der Ersten Révolution, Periode
Sankara (1983-1987), über dem Haupteingang
der Militärschule von Kadiogo
Als der Kommandant um sechs Uhr morgens in den Schlafsaal stürmt und einen Sonderappell für sieben Uhr dreißig ankündigt, spürt Abou Diallo-Konaté, dass etwas Besonderes bevorsteht. Normalerweise werden Truppenappelle zu wichtigen Gelegenheiten wie dem Nationalfeiertag oder dem Gipfeltreffen der Afrikanischen Union (falls es in Ouaga stattfindet) durchgeführt, manchmal auch bei außergewöhnlichen Anlässen wie dem Besuch eines Staatschefs. Aber ein Staatschef in der Militärschule? Und dann auch noch um halb acht morgens? Abou hatte nicht die Zeit, die Frage mit seinem Freund Salah Tambura zu erörtern. Salah ist Pullo und stammt aus Koutougou, weit oben in der Wüste. Ihnen blieb lediglich ein kurzer Augenblick der Entspannung beim Frühstück, das wie immer recht einfach ausfiel, weil der Staat nicht über die Mittel verfügt, seine Soldaten üppig zu ernähren.
»Hast du eine Ahnung, was da los ist, Salah?«
»Keine Ahnung. Ich glaube, da ist irgendein hohes Tier im Anmarsch. Auf jeden Fall verheißt es nichts Gutes.«
»Glaubst du, wir werden in den Süden geschickt?«
In den Süden geschickt zu werden ist Abous Albtraum. Er will nicht an die Grenze zur Elfenbeinküste verlagert werden, um zu versuchen, eine Art Ordnung in den schwelenden Bürgerkrieg dort unten zu bringen, in die Auseinandersetzungen zwischen Flüchtlingen aus dem Norden, die nichts mehr besitzen, und Einheimischen, die noch ein Stückchen Land für ihre Hirse, ein paar Ziegen und einen Brunnen ihr Eigen nennen. Abou will sich nicht gezwungen fühlen, auf seine Brüder zu schießen, Aufstände aus Hunger niederzuschlagen und Menschen festzunehmen, die sich nichts anderes zuschulden kommen lassen, als dass sie im Elend leben. Seine Mutter hat ihn in den großen Prinzipien der Rechtschaffenheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität erzogen; er versteht nicht, warum Ghana mit seinen beiden Flüssen und einem großen See oder die Elfenbeinküste, die über Meerwasserentsalzungsanlagen verfügt, ihr Wasser nicht mit Burkina Faso teilen, das abgesehen von dem dank der Ausbeutung durch die Baumwollindustrie alljährlich dünner werdenden Rinnsal des Mouhoun absolut nichts hat.
Salah verzieht das Gesicht. Er will keine Prognose wagen, obwohl im Speisesaal über nichts anderes gesprochen wird.
Nachdem er über eine Stunde in der sengenden Sonne unter der Flagge im Ehrenhof der Militärschule gewartet hat, eingezwängt in seine saubere, adrette Paradeuniform, die Stiefel spiegelblank gewienert, das polierte Gewehr auf der Schulter und den kleinen Finger an der Hosennaht, erhält Abou endlich die Antwort auf seine Frage.
Sie kommt in Form eines allradgetriebenen Daewoo, der bei der Einfahrt in den Hof eine dichte Staubwolke aufwirbelt. Aus dem Wagen steigt General Kawongolo höchstpersönlich, begleitet von seinem Adjutanten.
»Stillgestanden!«, brüllt der Kommandant. Stiefelabsätze knallen, die Truppe steht wie ein Mann.
Der Appell ist rasch vorüber, denn Victor Kwangolo hat sichtlich andere Sorgen. Eilig geht er auf die Tribüne zu, wo es ein Mikrofon gibt - das allerdings nicht funktioniert. Doch das macht nichts, denn der Verteidigungsminister verfügt über eine tragende Stimme.
»Soldaten! Eine neue Mission erwartet uns, und Sie werden zu ihrem Gelingen beitragen, darauf zähle ich. Wie Sie wahrscheinlich wissen, hat man in der Gegend von Kongoussi einen großen, unterirdischen See entdeckt. Während der Wartezeit, bis die Regierung mit den Bohr-und Erschließungsarbeiten beginnen kann, sind wir es, ist es die Volksarmee von Burkina, unter deren Schutz dieses Wasservorkommen gestellt wird. Wieso Schutz, werden Sie sich fragen. Nun, es wird immer Piraten, Eindringlinge und andere Leute geben, die versuchen, das Eigentum unseres Landes für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Aber auch ganz arme Leute werden mit Eimern und Schaufeln auftauchen, um sich auf eigene Faust Zugang zu diesem Geschenk des Himmels zu verschaffen. Allerdings müssen wir davon ausgehen, dass sie bei ihren Versuchen nur das Gelände zerwühlen und die Bohrarbeiten behindern. Die Mission, die Sie erwartet, ist daher ausgesprochen delikat: Sie werden zwischen Verdurstenden und Profiteuren unterscheiden müssen, zwischen Einheimischen und Fremden, zwischen lästigen Bettlern und Saboteuren. Dafür brauchen Sie viel Fingerspitzengefühl und Unterscheidungsvermögen. Es geht darum, nicht als brutale Eingreiftruppe wahrgenommen zu werden, sondern als Hüter eines Schatzes, der auf lange Sicht allen zugutekommt. Sie sind als zukünftige Offiziere der Volksarmee verantwortlich für die Sicherheit unseres Landes. Ich appelliere an Ihr Ehrgefühl und Ihr Verantwortungsbewusstsein, ohne Ihnen zu verschweigen, dass die Lebensbedingungen in Kongoussi alles andere als angenehm sind. Ihre Aufgabe wird nicht einfach werden. Aus diesem Grund bitte ich um freiwillige Meldungen, bin allerdings der Überzeugung, dass Sie alle die Hand heben werden.«
Der General verstummt. Sofort brüllt der Ausbilder los:
»Freiwillige heben die rechte Hand! Rechts, habe ich gesagt!«
Ein Wogen geht durch die Truppe. Alle halten den Gewehrkolben in der rechten Hand. Abgesehen davon - wer hat schon wirklich Lust, nach Kongoussi zu gehen und ein Stück Wüste zu überwachen?
Einer plötzlichen Eingebung folgend, hängt Abou sein Gewehr über die linke Schulter und hebt die Hand. Er hat keine Ahnung, warum er das tut - er hat nicht einmal wirklich darüber nachgedacht. Liegt es daran, dass er als Sohn der Präsidentin mit gutem Beispiel vorangehen will, wie Fatimata es immer von ihm verlangt hat? Oder vielleicht daran, dass seine Großmutter Hadé, die er gerne viel häufiger besuchen würde, in Ouahigouya wohnt, nicht allzu weit von Kongoussi entfernt? Nein, nichts davon ist der wahre Grund. Er muss eben nach Kongoussi gehen - so einfach ist das.
Salah, der neben ihm steht, betrachtet überrascht Abous erhobenen Arm, stößt einen ergebenen Seufzer aus und meldet sich ebenfalls. Zu zweit lässt sich die Plackerei auf jeden Fall leichter ertragen.
Nach und nach heben sich weitere Hände. Schließlich meldet sich fast die Hälfte der anwesenden Soldaten. Der General nickt zufrieden.
»Sehr gut!«, ruft er über die Köpfe der Soldaten hinweg. Sein Adjutant reicht ihm ein funktionierendes Mikrofon, das er jedoch ablehnt. »Genau diese Haltung habe ich von Ihnen erwartet. Die Freiwilligen lassen sich jetzt eintragen und halten sich für den Abmarsch morgen früh bereit. Was die anderen angeht, deren Zurückhaltung ich durchaus verstehe, so setzen sie ihre Ausbildung wie bisher fort. Allerdings ist es durchaus möglich, dass auch sie irgendwann anderweitig eingesetzt werden, denn leider mangelt es uns nicht an Konfliktgebieten. Ich danke Ihnen.«
»Stillgestanden!«, brüllt der Kommandant.
General Kwangolo salutiert und steigt in den Geländewagen, der sofort mit einem Kavalierstart davonbraust.
»Was hat dich denn geritten, dass du dich für eine solche Schinderei freiwillig gemeldet hast?«, fragt Salah, während er sich gleich hinter Abou in die Warteschlange zur Einschreibung der Freiwilligen einreiht.
»Keine Ahnung. Mal was Neues vielleicht? Irgendwas Sinnvolles tun? Mich nützlich machen …? Etwas in der Art jedenfalls.«
»Mannomann.« Salah verzieht das Gesicht. »Du bist wirklich der Sohn deiner Mutter.«