Refugees.org

Satzung für ökologische Flüchtlinge

Beizufügende Dokumente:

Personalausweis

Schadensmeldung

Rechnung (neueren Datums) eines öffentlichen Dienstleisters

Mietvertrag (Mieter) oder Besitzurkunde (Hauseigentümer)

letzte Einkommensteuererklärung

letzte Gehaltsabrechnung (ggf.)

Familienstammbuch

Aufenthaltsgenehmigung (Ausländer)

Bescheinigung des Arbeitgebers (bei Arbeitsplatzverlust)

Antrag auf Anerkennung als Flüchtling (Vordruck 1024-A)

Bankverbindung

Überweisungsbeleg über 39,73 Euro (Antragsgebühr)

Voraussichtliche Dauer der Antragsbearbeitung: 3 Monate

Auch wenn die ehrenamtliche Mitarbeiterin von Refugees.org hinter einem Schalter des Bahnhofs von Lelystad sitzt - sie ist ebenso erschöpft wie die Tausende von Flutopfern, die sie den ganzen Tag an sich vorüberziehen sieht. Tausende verwüsteter Gesichter, tief gefurchter Wangen, struppiger Bärte, bleicher, schmutziger Hände und nasser Haare, die auf die Ladentheke tropfen. Tausende unvollständiger Anträge, besonderer Fälle und Ausnahmegenehmigungen. Verwirrte Alte, schreiende Babys, genervte Mütter, Männer, die vor Angst stumpfsinnig vor sich hin starren, und stumme, hektische Jugendliche. Von allen wird die ehrenamtliche Helferin behandelt, als hinge das Leben jedes Einzelnen ganz allein von ihr ab, während sie in Wirklichkeit nichts weiter tut, als sie auf provisorische Unterkünfte und Auffanglager zu verteilen. Dort erwarten sie dann ihre Anerkennung als Ökoflüchtling, die jedoch nur ganz wenige - das weiß sie - auch erhalten. Gerade erst ist sie aus Dresden gekommen, von wo sie als Verstärkung angefordert wurde. Angesichts des menschlichen Elends hat sie sich abgeschottet und ihr natürliches Mitgefühl erstickt. Ausgestreckte Hände übersieht und Tränen ignoriert sie. Sie muss so vorgehen, um ihr seelisches Gleichgewicht zu wahren und, wie von allen erwartet, einen Fels in der Brandung abzugeben. Gnade Gott denen, die es nicht schaffen, sich an diesen Felsen zu klammern.

Sie legt den letzten Antrag in ein Körbchen mit der Aufschrift »Unvollständig« und richtet die blauen Augen auf den nächsten Antragsteller, den die drängende Menschenmenge vor ihrem Schalter stranden lässt. Es ist ein untersetzter Typ, etwa vierzig, mit glattem schwarzem Haar, runder Nase, einem länglichen Gesicht und einem Wikingerschnurrbart, der auf sein von einem Dreitagebart beschattetes Kinn hinunterfällt. Ein Ohrring ziert sein rechtes Ohr. Er trägt eine Bomberjacke aus Lammnappa mit einer deutlichen Beule in Brusthöhe. Eine Waffe? Will der Kerl sie etwa angreifen? Sie selbst hat eine solche Situation noch nicht erlebt, doch sie weiß von anderen, die sogar mit dem Leben bezahlt haben.

Der traurige Dackelblick des Mannes jedoch straft jeden Verdacht auf Aggressivität Lügen. Aus der Beule im Blouson ertönt zunächst ein leises Miauen, und plötzlich lugt der zerzauste Kopf eines jungen Kätzchens hervor, das die Helferin von Refugees.org aus runden Augen erstaunt anschaut. Die junge Frau muss unwillkürlich lächeln. Das Kätzchen kommt ihr vor wie ein Sonnenstrahl, wie eine Insel der Zärtlichkeit in diesem endlosen Ozean aus Leid. Sie streckt die Hand aus und lässt ihre Fingerspitzen von dem kleinen Tier beschnüffeln.

»Er heißt Moses«, erklärt der Mann. »Jedenfalls habe ich ihn so genannt, weil er aus dem Wasser gefischt wurde.« Er krault das Kätzchen zwischen den Ohren. Sofort beginnt Moses, hingebungsvoll zu schnurren. »Er ist ein Flüchtling, genau wie ich«, fügt er tonlos hinzu.

»Richtig.« Die Ehrenamtliche besinnt sich. »Ich hoffe, Ihr Antrag ist vollständig.«

Eins zu tausend, dass er es nicht ist. Trotz des nicht enden wollenden Ansturms ist das Körbchen mit den vollständigen Anträgen gähnend leer. Man könnte glauben, dass die kafkaeske Liste der beizufügenden Dokumente eigens erfunden wurde, um die Zahl der offiziell anerkannten Ökoflüchtlinge drastisch zu reduzieren und damit die Statistik zu schönen.

»Sie sind Deutsche«, stellt der Mann fest, als er ihren sächsischen Dialekt hört.

»Ja«, seufzt sie. »Geben Sie mir bitte Ihren Antrag.«

»Sie erinnern mich an Aneke. Aneke, meine Frau. Sie ist … sie war auch Deutsche.«

Die junge Frau seufzt erneut. Ihr Gesicht nimmt einen gereizten Ausdruck an, der für Grübchen auf ihren Wangen sorgt.

»Seit heute Morgen sind Sie ungefähr der Fünfhundertste, den ich an seine verstorbene Frau, Schwester, Tochter oder Cousine erinnere. Ich bin weder Ihre Amme noch Ihr Psychotherapeut, okay? Und jetzt geben Sie mir endlich Ihren Antrag oder verschwinden Sie. Hinter Ihnen warten noch ungefähr zehntausend andere.«

»Richtig, ich stehe mir schon seit Stunden die Beine in den Bauch.«

»Ich bin es so satt!«

»Geht es da vorn vielleicht endlich weiter?«

»Was ist denn nun mit seinem Scheißantrag?«

Rudy zieht einige schlecht bedruckte Blätter aus der Brusttasche, wobei Moses’ Köpfchen wieder auftaucht. Das Papier ist grau, feucht und voller Katzenhaare. Die junge Frau von Refugees.org überfliegt den Antrag und nickt verdrossen.

»Da fehlt aber eine ganze Menge.«

»Ich habe nicht mehr bekommen können. Alle Kanäle sind entweder außer Betrieb oder überlastet. Schließlich hat sich hier eine Katastrophe abgespielt!«

»Gut. Herr …« Sie wirft einen raschen Blick auf die Papiere in ihrer Hand. »… Ruud Klaas, haben Sie vielleicht die Möglichkeit, irgendwo unterzukommen - bei Familienangehörigen, Freunden oder Bekannten?«

Rudy schüttelt langsam den Kopf. In Wahrheit hat er auch niemanden gefragt, weil er beim besten Willen nicht wüsste, wem er sich auf unbestimmte Dauer zumuten könnte, abgesehen vielleicht von seinen Eltern in Haarlem - doch wahrscheinlich wäre auch das schmutzigste Lager dem Aufenthalt bei seinen Eltern vorzuziehen. Wie viele Europäer seiner Generation ist auch Rudy ein individualistischer Einzelgänger. Seine Freundschaften sind eher oberflächlich und von kurzer Dauer; immer hat er den geschützten Kokon seines vernetzten Hauses der aggressiven Außenwelt vorgezogen. Wenn die Natur ein feindliches Gesicht aufsetzt und das Klima zum Killer wird, wenn in Amsterdam jede Nacht Desperados, Full Moon Killers und andere Fans kollektiver Mordanschläge ihr Unwesen treiben, wenn es einem Abenteuerausflug mit ungewissem Ausgang gleichkommt, abends einmal auszugehen, wird das eigene Zuhause schnell zum Zufluchtsort und letzten sicheren Kuschelnest. Was nun seine Eltern in Haarlem angeht … Rudy muss nur daran denken, dass sein Vater ein bedeutendes Mitglied der Nederlandse EuroFront ist und seine Mutter sich mit ziemlicher Sicherheit von der Göttlichen Legion beeinflussen lässt, um sich, ohne lange zu überlegen, für ein Flüchtlingslager zu entscheiden, und zwar ganz gleich, wie weit weg und wie unsicher es sein mag. Außerdem haben seine Eltern ihn ohnehin verstoßen.

Die ehrenamtliche Mitarbeiterin von Refugee.org tippt eifrig auf ihrem Mobiltelefon herum. Dabei murmelt sie Worte auf Deutsch, die Rudy allerdings problemlos versteht: »Ausgelastet … voll … unter Quarantäne … ausgelastet…« Schließlich sieht sie ihn an.

»Buchholz.«

»Wie bitte?«, fragt Rudy nach.

»Buchholz. Das liegt in Deutschland. In der Nähe von Hamburg.«

»Gibt es nichts mehr in der Nähe?«

»Nein. Ansonsten bliebe nur noch Wroclaw in Polen.«

»Und … wie ist es da so?«

»Na, Tennis, Golf, Schwimmbad, Sauna und jede Menge Feinschmeckerrestaurants«, antwortet die junge Frau sarkastisch. »Was erwarten Sie denn?«

Rudy zuckt die Schultern. Während der Tage des Umherirrens, der Bestürzung und der Hoffnungslosigkeit hat er allerlei über die Flüchtlingslager gehört - Gutes und Schlechtes. Darunter waren auch sehr unterschiedliche Meinungen über die in Belgien und den Niederlanden neu entstandenen Camps. Von Buchholz allerdings hat er noch nie gehört. Wahrscheinlich ist es ganz neu.

»Einverstanden. Also Buchholz.«

Die Frau nickt und tippt wieder auf ihrem Handy herum. Daraufhin spuckt ein angeschlossenes Gerät eine Mikrokarte aus, die sie Rudy aushändigt. Auf der Karte, die noch nach warmem Plastik riecht, steht sein Name.

»Das ist Ihr vorläufiger Code als Antragsteller. Sie können damit nach Buchholz fahren und dort maximal drei Monate bleiben. Aber Sie dürfen sie keinesfalls verlieren.«

»Und was ist mit meiner Akte?«

Sie greift nach einem bedruckten Blatt, kreuzt ein paar Stellen an und legt es auf den Schaltertisch.

»Das sind die fehlenden Unterlagen. Den Rest behalte ich hier. In Buchholz sollte es eine gesicherte Internetverbindung geben, wo Sie Ihre Akte vervollständigen können. Die Verantwortlichen werden Ihnen erklären, wie es geht. Viel Glück!«

Der Anflug eines Lächelns erklärt das Gespräch für beendet. Ein Umschlag fliegt in das entsprechende Körbchen, die junge Frau blickt den nächsten Antragsteller an. Rudy wendet sich ab, doch plötzlich wird er noch einmal zurückgerufen.

»Mijnheer Klaas!«

Die ehrenamtliche Helferin hält ihm einen in fettiges Papier gewickelten Butterbrotrest hin. Rudy runzelt die Stirn. Sieht er tatsächlich schon so verhungert aus?

»Für Moses«, lächelt die Deutsche. »Ich hoffe, er mag Salami.«

Ödland - Thriller
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