Reliquie
State of Kansas - Douglas County
Welcome to Eudora
People: 3800 (growing)
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Refugees not admitted
Endlich ist die Zeremonie beendet. Fuller und seine Frau nehmen die Beileidsbekundungen entgegen und verabschieden sich. Die Trauergemeinde steht in der großen Empfangshalle des Krematoriums von Eudora. Ein Stück abseits wartet eine andere Familie, die als nächste an der Reihe ist. Pamela, die während der Einäscherung ununterbrochen geschluchzt hat, umklammert die Urne mit Wilburs Asche, die der Pfarrer ihr in die Hand gedrückt hat, als wäre sie eine Reliquie von Jesus Christus persönlich. Fuller ist ausgesprochen enttäuscht vom Aussehen der Urne - es handelt sich um eine gewöhnliche, schwarze Plastikschachtel, die ein wenig an eine Schmuckschatulle für billiges Talmi erinnert. Er hat etwas wesentlich Massiveres erwartet, aus Marmor oder Stein vielleicht, und auf griechisch oder römisch getrimmt. Allerdings will er um jeden Preis vermeiden, Pamelas Aufmerksamkeit auf die in der Empfangshalle ausgestellten Urnen zu lenken, die wie Baseball-Pokale glänzen. Wilbur die ganze Zeit in einem Baseball-Pokal zu tausend Dollar das Stück auf dem Kaminsims ansehen zu müssen - nein danke! Er hat schon genug für den ganzen Zirkus hier blechen müssen, und das für einen Nichtsnutz, der den Preis seines Sarges nicht wert ist.
Fuller fühlt sich nervös, abgeschlagen und ziemlich gereizt. Zwar ist es ihm gelungen, während der Einäscherung auf der Toilette eine Calmoxan zu nehmen, doch die Pille scheint durch den Hormon-und Vitamincocktail, den er jeden Morgen zum Frühstück trinkt, ihre Wirksamkeit einzubüßen. Nach seinem Ausbruch ging die Zeremonie weiter, als ob nichts geschehen wäre, doch Fuller ist sich sicher, dass sämtliche Anwesenden ihn insgeheim tadelnd gemustert haben.
Pamelas Vettern begrüßen ihn mit einer dem Anlass entsprechenden Miene, murmeln banale Beileidsbezeugungen, reichen ihm lasche Hände und ziehen sich so hastig zurück, als könne er eine ansteckende Krankheit übertragen. Bei Pamela zeigen sie sich beredter, küssen sie, nicken und flüstern ihr etwas ins Ohr - bestimmt etwas gegen ihn. Anthony fällt auf, dass er ihre Namen noch immer nicht kennt. Doch als sein Vater ihn auf betont männliche Art umarmt, vergisst er sie sofort. Mit seinem glatten Erobererschnurrbart, den im Wind des Erfolgs wehenden weißen Haaren, dem perfekt sitzenden Maßanzug und der vergoldeten Remote Manager von Texas Instruments am Handgelenk gibt sich Richard III. auch im vorgerückten Alter noch wie ein Tycoon vergangener Jahrhunderte. Er hält sich übrigens tatsächlich dafür, obwohl er bei Exxon Hydrogen nur noch Ehrenvorsitzender ist und das Gehalt für seine Tätigkeit im Vorstand von Resourcing höchstens dafür reicht, seine Callgirls zu bezahlen.
»Nur Mut, mein Sohn. Du weißt ja, in Lawrence ersteht aus der Asche stets ein Phönix.«
Papa ist doch wirklich immer für einen Scherz gut, denkt Anthony, während er mit schmerzverzerrtem Gesicht die wuchtige Umarmung seines Vaters erträgt. Außerdem sind wir hier in Eudora, nicht in Lawrence.
Pamelas Eltern scheinen noch immer empört über sein Verhalten zu sein, denn sie würdigen ihn keines Blickes. Schließlich kommt der Abgesandte der K-State in Manhattan (Kansas) an die Reihe. Mit schüchtern an die Brust gedrücktem E-case tritt er zögerlich auf Anthony zu. Sofort entscheidet Fuller, dass ihm das Männlein unsympathisch ist und dass er bestimmt keinen müden Cent herausrücken wird.
»Mister Fuller? Darf ich Ihnen mein aufrichtiges Beileid aussprechen? Wilbur war ein ausgesprochen angesehener Student unserer Universität …«
»Reden Sie kein dummes Zeug! Wil hat nicht ein einziges Mal auch nur den Fuß in Ihr Institut gesetzt.«
»In der Tat, Sir, und das macht mich unendlich traurig. Dennoch hätte er Herausragendes leisten können. Einigen Professoren ist er aufgefallen…«
»Hören Sie, Mister« - wie hieß der Kerl noch gleich? Scheiß-Gedächtnislücken! Ich muss unbedingt vorsichtiger mit dem Metacain sein! -, »ich habe meinen Sohn von der KU abgemeldet, weil es mich zu teuer kam und nichts brachte. In diese Kaschemme in Manhattan habe ich ihn doch nur geschickt, um ihn hier nicht am Hals zu haben. Sie brauchen sich also gar nicht erst die Mühe machen, mir vorzugaukeln, er hätte bei Ihnen seine Begeisterung für die Wissenschaft entdeckt. Worauf wollen Sie hinaus? Was versuchen Sie, mir zu verkaufen?«
Der kleine Mann sackt unter Fullers beißender Ironie sichtlich in sich zusammen.
»Mein Name ist Peter Lawson, und ich bin stellvertretender Rektor der zur Debatte stehenden Kaschemme, die mit Sicherheit nicht so viel Geld zur Verfügung hat, wie die Consulting ww sie der herausragenden Kansas University in Lawrence bewilligt. Wir bekommen nicht einmal finanzielle Unterstützung von einer der von worldwide gekauften Regierungen. Trotzdem schlagen wir uns einigermaßen durch und vermitteln unser Wissen an Studenten, die sich noch Gedanken um ihre Zukunft und die ihres Landes machen. Ihr Sohn allerdings gehörte nicht dazu, so leid es mir tut.«
»Wir Fullers bauen mit eigenen Händen an der Zukunft Amerikas, Lawson«, explodiert Anthony. »Wir Fullers investieren in leistungsfähige Institute, die Kansas weiterbringen, und nicht in irgendwelche Pennernester mitten in der Wüste! Und ich verbiete Ihnen, meinen Sohn während seiner eigenen Trauerfeier zu beleidigen!«
Alle Köpfe wenden sich seiner Donnerstimme zu. Lawson verkriecht sich immer tiefer in seinen mausgrauen Anzug.
»Aber ich habe ihn nicht …«, beginnt er.
Er beendet den Satz jedoch nicht, sondern dreht sich auf dem Absatz um und eilt aus dem Krematorium. Weil zum wiederholten Mal alle Blicke auf ihm ruhen, zieht Fuller es vor, ihm zu folgen. Er fühlt sich so nervös, dass er am liebsten eine Zigarette rauchen würde. Schade, dass Tabak im gesamten Bundesstaat verboten ist. Außerdem hat er seit seinen verrückten Studententagen in Harvard nicht mehr geraucht. Mit der Hand umschließt er die Schachtel Calmoxan in seiner Hosentasche, wagt jedoch nicht, eine zweite Pille zu nehmen - er muss schließlich noch arbeiten.
Mit spöttisch verzogenen Lippen sieht er zu, wie Lawson auf dem mit anämischen Bäumen bepflanzten Parkplatz in einen alten, auf Ethanol umgerüsteten Chevrolet steigt und nach einigen Startschwierigkeiten über die 1420. Straße Nord auf den Ausgang der Enklave zuholpert. Na, dann viel Glück bei der Heimfahrt, denkt Fuller. Den K10 Highway darf Lawson mit der alten Schrottschleuder nicht befahren; er wird also wohl oder übel mit der 442 und der US 24 vorliebnehmen müssen. Diese Straßen sind allerdings in einem so jämmerlichen Zustand, dass Lawson für die hundertfünfzig Kilometer mindestens drei Stunden brauchen dürfte. Außerdem liegen ein paar Outer-Nester an der Strecke, und er muss durch das Gebiet der Shawnees, die Bleichgesichtern gegenüber nicht gerade freundlich gesinnt sind und gern auch mal ein Lösegeld erpressen. Er hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, um herzukommen, wird Fuller mit einem Mal klar. Und ich weiß noch nicht einmal, was er eigentlich wollte.
Sein Blick schweift über die unbewegliche Landschaft, die wie eine Kulisse unter einem eintönig weißen Himmel daliegt. Der mit kränklichen Bäumen und vertrockneten Blumen bepflanzte Friedhof, dessen Rasenfläche - es handelt sich um Evergreen© von Universal Seed™ - in einem satten Veronesergrün prunkt, ist von ausgedörrten Feldern umgeben, die sanft zum Bett des Wakarusa abfallen. Der ehemalige Fluss ist zu einem brackigen, zwischen Steinen dahinsickernden Rinnsal geworden. An seinem Ufer entlang verläuft die Grenze der Enklave, die von einer fünfzehn Meter hohen, aus einem eigenen Fusionskraftwerk gespeisten Plasmawand umschlossen wird. Ein doppelter, mit allen nur denkbaren Alarmen gesicherter Stacheldrahtzaun verbarrikadiert vonseiten der Enklave den Zugang zur Grenze. Wer der Plasmawand nämlich zu nahe kommt, wird mit 40 000 Volt bei lebendigem Leib geröstet. Der einzige Schwachpunkt der Festung ist die Ausfahrt der K10, die von zwei Maschinengewehren, einem Raketenwerfer, einer Radaranlage und einer rund um die Uhr präsenten Patrouille der Eudora Civic Corp. bewacht wird. Das Leben in Eudora ist friedlich und vermittelt immer noch den Eindruck von Reichtum und Sorglosigkeit. Die Frage ist allerdings, wie lange noch. Als Fuller genauer hinsieht, muss er feststellen, dass das Moderkraut, eine sich mit virenartiger Geschwindigkeit ausbreitende Grasart, die sich aus transgenen Kulturen entwickelt hat und allen Unkrautvernichtungsmitteln widersteht, es tatsächlich geschafft hat, die Plasmawand zu durchbrechen und seine hässlich graugrünen Kissen immer weiter auszubreiten. Eines Tages wird wohl ganz Kansas unter dem Kraut ersticken. Fuller seufzt entmutigt. Ob es irgendwann gelingen wird, die Schranke wieder zu schließen und die Irrtümer vergangener Jahrzehnte zu reparieren? Oder ist die viel gerühmte Kreativität der Amerikaner nichts als eine verzweifelte Flucht nach vorn - eine Flucht in die Wüste?
Das Auftauchen seiner Frau in der offenen Säulenhalle vor dem Eingang des Krematoriums unterbricht Anthonys desillusionierten Gedankengang. Pamela trägt Wilburs Urne noch immer so, als ob sie einen wertvollen Schatz enthielte, und trotz der Prozac4, mit denen sie sich zweifellos vollgestopft hat, schäumt sie vor Wut.
»Na toll !«, zischt sie ihn an. »Super-Vorstellung! Ich nehme an, du bist richtig stolz auf dich.« Tränen schießen ihr in die Augen. »Mein Gott, was sollen die Leute bloß von uns denken? Und erst George. Der arme George.«
»Wer ist denn George?«
»George Parrish, unser Pfarrer. Wenn du ein wenig häufiger zum Gottesdienst gingest, würdest du ihn kennen…«
»Pamela, es reicht«, schneidet ihr Anthony das Wort ab. »Du hast deine Überzeugungen, ich habe meine. Darüber haben wir schon tausendmal diskutiert und müssen es nicht schon wieder durchhecheln. Außerdem störst du - ich bin gerade dabei, meine Nachrichten abzurufen.«
Das entspricht zwar nicht der Wahrheit, doch Anthony hat herausgefunden, dass es sich hervorragend als Ausrede eignet, um einem Streit mit Pamela aus dem Weg zu gehen. Da geschäftliche Dinge in ihrem Eheleben grundsätzlich unbedingten Vorrang haben, zieht Anthonys Frau sich in solchen Fällen meist zurück - zwar schmollend, aber ohne weitere Fragen.
Anthony wirft einen bedeutungsvollen Blick auf den Minicomputer am Handgelenk - es ist die neueste Technik von Nokia, made in China, und sowohl leistungsfähiger als auch schneller als die vergoldete Texas Instruments seines Vaters - und überfliegt die zahlreichen Mitteilungen, die er während der Zeremonie erhalten hat. Wie vorhergesehen, zieht Pamela sich schmollend zurück.
Allerdings hat Fuller nicht die Absicht, sich sofort wieder seinen Geschäften zu widmen. Vorerst möchte er die für Mitte Oktober recht angenehme Temperatur von 28°C genießen. Doch eine rot gekennzeichnete Nachricht höchster Priorität macht ihn neugierig. Die Message stammt von GeoWatch.
GeoWatch? Was mag da los sein? Ist etwa ein Satellit verloren gegangen?
Fuller klickt die Nachricht an, decodiert sie und liest mit, während sie über den winzigen Bildschirm flimmert:
Fremdzugriff auf Sat Mole-Eye 2AC
Bericht Enigma im Anhang
Erwarten Anweisung.