Wüstenzunge

Es ist neun Uhr, Sie hören La Voix des Lacs. Das Rathaus von Kongoussi hat folgende Verlautbarung veröffentlicht, deren Text wir jetzt vollständig wiedergeben: »Die Gemeinde Kongoussi fordert ihre Bürgerinnen und Bürger auf, jeden eigenmächtigen Versuch einer Grabung auf dem ehemaligen Gelände des Bamsees zu unterlassen. Das Wasservorkommen befindet sich in 250 Meter Tiefe, daher ist eine Förderung ohne entsprechende Technologie ohnehin nicht möglich. Bei Zuwiderhandlung sieht sich die Stadtverwaltung gezwungen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.« So weit die Verlautbarung. Meine sehr verehrten Hörer, Sie haben die Botschaft verstanden: Graben Sie auf keinen Fall auf eigene Faust. Denn selbst wenn mit La Voix des Lacs jede Arbeit leichter von der Hand geht - auf diese Weise werden Sie nicht zu Wasser kommen.

»Schrecklich!«, seufzt Étienne Zebango. »Es ist zum Verzweifeln!«

Es ist lange her, dass der Bürgermeister von Kongoussi das letzte Mal in den Hügeln war und sich mit eigenen Augen vom Ausmaß des Schadens überzeugt hat. Früh an diesem Morgen fasste er plötzlich den Entschluss, mit seinem Beigeordneten das Gelände zu besuchen. Der Dienst-Pick-up wurde mit zwei Litern Ethanol betankt - Wasserstoff gibt es in Kongoussi noch nicht -, und sie machten sich auf den mühsamen Weg zum ehemaligen Seeufer. Jetzt fahren sie über die verstaubten Pisten, die früher in die angrenzenden Felder führten.

Die Felder sind verschwunden. Geblieben ist roter, vom Wüstenwind Harmattan zu kleinen Wellen gekräuselter Sand, so weit das Auge reicht. Hier und da stehen noch ein Büschel vertrockneter Gräser, ein sprödes Dornengestrüpp oder eine zähe Akazie. In allen Vertiefungen hat sich Wüstensand gesammelt. Kahle, immer noch majestätisch wirkende Baobabs dominieren die armselige Vegetation, die längst abgestorben ist oder in Erwartung besserer Zeiten vor sich hin dämmert. Düstere, nackte, von der Sonne verbrannte Hügel geben einen drohenden Vorgeschmack auf die dahinterliegende Wüste, die jedes Jahr ein Stückchen weiter in Richtung Süden vordringt und alles mit ihrem brennenden Atem versengt.

Kaum zu glauben, denkt Étienne beim Anblick eines alten Bewässerungsrohrs, das vom Wüstenwind zerfressen vor seinen Füßen aufragt, dass hier früher einmal Hirse, Mais, Zucchini, Tomaten, Okra und grüne Bohnen wuchsen. Kongoussi galt in vergangenen Zeiten als Hauptstadt der grünen Bohnen, die bis nach Europa exportiert wurden. Ende Oktober begann man mit der Ernte - so jedenfalls hat es Étiennes Großvater erzählt, der das Goldene Zeitalter noch erlebt hat und mit dem Export sehr reich wurde. Jetzt gibt es keine Ernte mehr - nur noch Hunger. Der sehnsüchtig erwartete Winterregen ist nicht gefallen, einige zaghafte Saatversuche haben keinen Erfolg beschert, und die Trockenzeit hat sich ebenso dürr angekündigt wie im letzten Jahr.

»Bald wird alles anders, Étienne«, verspricht sein Beigeordneter Alpha Diabaté und legt ihm tröstend eine Hand auf den gebeugten Rücken. »Es wird wieder Wasser geben. Unser Wohlstand kehrt zurück. Wir werden Hirse und Sorghum, Tomaten, Salat und grüne Bohnen anbauen, und die Viehherden werden ausreichend zu trinken haben. Und unsere grünen Bohnen werden die besten in ganz Westafrika sein. Ganz bestimmt!«

Étienne nickt langsam. Es rührt ihn, wie Alpha sich bemüht, ihn aufzurichten. Eigentlich sollte seine Laune seit der Entdeckung des unterirdischen Sees erheblich besser sein, doch er befürchtet, dass es noch Wochen, wenn nicht Monate dauern wird, ehe tatsächlich wieder Wasser aus Kongoussis Hähnen fließt. Monate, in denen seine Landsleute weiter leiden und viele von ihnen sterben werden. Monate, in denen aus allen Himmelsrichtungen Fremde wie Heuschrecken einfallen werden, weil die Nachricht vom Wasserfund sie anzieht wie ein Misthaufen die Fliegen. Die Stadt wird nicht mehr sicher sein; es wird Krawalle, Gewalt und Tote geben. Schon bald wird er die Situation kaum noch beherrschen können, denn bereits jetzt …

Der Bürgermeister betrachtet das Gebiet des ehemaligen Sees. Die trübselige Ebene aus Sand und aufgesprungenem Lehm dehnt sich weit nach Norden aus. Sie sieht aus wie eine ausgestreckte Wüstenzunge, die schon an den Vororten von Kongoussi leckt. Selbst auf die große Entfernung kann er Hunderte winziger Gestalten erkennen, die unter der bleiernen, von einer permanenten Staubwolke gefilterten Sonne fieberhaft graben. Überall entstehen Sandhaufen, die inzwischen bereits eine beachtliche Höhe aufweisen. Das Szenario erinnert an einen Goldrausch - nur dass dieses Gold hier flüssig und lebensnotwendig ist und dass die Leute es nicht finden werden, denn es liegt in einer Tiefe von 250 Metern. Um es zu fördern, braucht man eine Ausrüstung, die selbst die Oberste Wasserbehörde nicht besitzt und die die Präsidentin aus Europa angefordert hat. Doch niemand schert sich darum. Das Wasser ist da, und die Menschen glauben, man brauche nur danach zu graben.

»Was sollen wir bloß tun, wenn demnächst Tausende von Fremden mit Hacken und Schaufeln hier anrücken und graben wollen? Und wenn sie schließlich kapieren, dass es nicht funktioniert und dass das Wasser nicht einfach so hervorsprudelt, wenn man ein bisschen buddelt? Wie sollen wir damit fertig werden, wenn sie protestieren und behaupten, dass wir sie belogen und betrogen haben?«

»Bist du jetzt nicht ein bisschen zu pessimistisch, Étienne? Die Leute sind schließlich nicht…«

Alpha Diabaté wird unterbrochen. Das Handy des Bürgermeisters meldet sich mit einer Marimbaweise. Étienne zieht es aus der Brusttasche seines verschwitzten Hemdes und meldet sich.

»Hallo? Mit wem habe ich die …? Oh, guten Morgen Herr General. Wie geht es Ihnen? … Und der Frau Gemahlin? … Ganz gut, vielen Dank. Sagen wir, es muss … Ich höre … Was? … Aber ich … Wie viele, sagen Sie? … Hundertfünfzig? Ja, aber wie … Wie bitte? Morgen? … Aber … aber … wie soll ich denn … Natürlich, Herr General. Ich … ich werde mein Bestes tun … Einverstanden. Dann also bis morgen.«

Mechanisch steckt Étienne sein Mobiltelefon wieder in die Tasche. Mit abwesendem Blick starrt er auf den ausgetrockneten See und die ameisenemsigen Grabungen, die sich in der Ferne abspielen.

»Was ist los, Étienne? Schlechte Nachrichten?«

»General Kawongolo kommt morgen mit einer hundertfünfzig Mann starken Abteilung nach Kongoussi«, erklärt der Bürgermeister mit matter Stimme.

»Na siehst du«, lächelt Alpha, »da hast du doch die Lösung deines Problems! Du solltest dich freuen!«

Doch für Étienne Zebango bedeutet die Anwesenheit von Soldaten in seiner Stadt nicht etwa eine Lösung, sondern eher ein neues Problem, das die ohnehin vorhandenen Spannungen noch verstärken könnte. Menschenskind! Warum musste das Wasser auch ausgerechnet hier gefunden werden? Warum musste die Mutter der Präsidentin unbedingt die Vision eines Wunders in Kongoussi haben? Konnte man ihn und seine Stadt nicht einfach in Frieden sterben lassen?

»Deine Frau hat recht«, fährt der Beigeordnete fort und klopft Étienne besänftigend auf die Schulter. »Du machst dir viel zu viele Sorgen. Komm, wie fahren nach Hause. Ich habe eine Flasche Brakina kalt gestellt. Die trinken wir jetzt auf das Wohl des Generals und das Ende unserer Probleme.«

»Dein Wort in Gottes Ohr, Alpha, dein Wort in Gottes Ohr«, grummelt Étienne und nickt. Mit langsamen Schritten waten sie durch den glühend heißen Sand der Piste hinunter zu ihrem Auto.

Ödland - Thriller
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