Apokalypse
Abschlussdamm (niederländisch Afsluitdijk, friesisch Ofslútdyk) ist ein Sperrdamm am Eingang der einstigen Zuiderzee zwischen Den Oever (Provinz Nordholland) und Zurich bei Harlingen (Provinz Friesland), für dessen Bau 15 Millionen Kubikmeter Kiesellehm und 27 Millionen Kubikmeter Sand verwendet wurden. Er ist 32 Kilometer lang und 90 Meter breit und wurde am 28. Mai 1932 fertiggestellt. Genau um 13:02 Uhr des genannten Tages wurde der Damm geschlossen und trennt seitdem das seit September 1932 offiziell Ijsselmeer genannte Binnengewässer, die ehemalige Meeresbucht Zuiderzee, vom Wattenmeer und ist eines der Hauptelemente der Zuiderzeewerke. Über den Damm führt die niederländische Autobahn Rijksweg 7. Im Damm befinden sich die Schiffsschleusen von Den Oever und Kornwerderzand sowie 25 Ablassschleusen mit einem Durchflussdurchsatz von maximal 5000 m3/sec. Im 20. Jahrhundert lag die Deichkrone etwa 7,50 Meter oberhalb des Wasserspiegels.
Nachdem sie die Schleuse von Kornwerderzand hinter sich gelassen haben, gibt es kein Zurück mehr. Der Fahrer des Volvo macht ein Kreuzzeichen auf sein Lenkrad, küsst sein Kruzifix und betet mit leiser Stimme ein Vaterunser, während er das Gaspedal durchtritt. Er hätte den Augenblick geistiger Sammlung gern mit seinem Kollegen geteilt, der zweihundert Meter hinter ihm fährt, doch außer Warnsignalen in Notfällen ist ihnen jeglicher Funkkontakt untersagt.
Die leere und schnurgerade Autobahn erstreckt sich vor ihm bis zum Horizont - zumindest so weit, wie er überhaupt etwas durch die Wassermassen auf seiner Windschutzscheibe erkennen kann. Und in der Tat, es »bläst verdammt heftig«. Meterhohe, vom Orkan getriebene und von einer Springflut noch verstärkte Wellen brechen sich mit monströsen Schaumfontänen an der Böschung des seit dem ersten Deltaplan immerhin um zehn Meter erhöhten Dammes, branden in schlammigen Strömen über die Fahrbahn und reißen tonnenweise Erde und Ton mit sich, die sich ins Ijsselmeer ergießen. Auch das Binnenmeer wird von einer bösartigen, braunschaumigen Dünung bewegt, auf der abgerissene Algen und tote Fische und Vögel treiben. Der Himmel ist ein unglaubliches Chaos angeschwollener, tiefvioletter Wolken, die im Dämmerlicht noch bedrohlicher wirken. Die Wasserfurie wütet überall; wie zerbrechlich wirkt die schmale Zunge aus Sand, Stein und Beton, die sich mitten in den Tumult hinein erstreckt!
Starr vor Angst klammert der Fahrer sich ans Lenkrad seines Lkw, den er, so gut mächtige Sturmböen und Aquaplaning es eben zulassen, in der Spur zu halten versucht. Jetzt fehlt nur noch, dass er vor dem Erreichen des Ziels einen Unfall baut! Ein kurzer Blick auf das Entfernungsradar zeigt ihm, dass sein Kollege trotz des unfreiwilligen Schleuderkurses, den auch er über sich ergehen lassen muss, einen Abstand von 350 Metern einhält. Gut so. Der Fahrer beschleunigt weiter. 130 … 140 … Der Tachometer ist zwar frisiert, trotzdem fangen die Lämpchen auf dem Armaturenbrett an zu blinken, und ein schriller Alarm ertönt. Er kappt den Kontakt. Jetzt hört man nichts anderes mehr als das Sirren des Wasserstoffmotors, erstickt vom Zorn Gottes, der rings um den Lkw wütet. Noch einmal betet der Fahrer zum allmächtigen Herrn und denkt dabei daran, wie schön es wäre, wenn der Allerhöchste selbst den Reinigungsauftrag zu Ende bringen könnte, für den man ihn ausersehen hat. Doch wirklich damit rechnen kann er nicht; seit hundert Jahren schon hält der alte Abschlussdamm den immer stärker werdenden Stürmen tapfer stand. Mochten die Holländer ein noch so lasterhaftes und vom Geist des Bösen verdorbenes Volk sein - solide bauen konnten sie!
150 Stundenkilometer. Schneller ginge es jetzt wirklich nicht mehr, sonst würde ihn der Sturm von der Fahrbahn katapultieren. Doch die Geschwindigkeit dürfte ausreichen. Er durchfährt die Aufschüttung Breezanddijk mit der im Meerwasser versunkenen Tankstellenruine, den ehemaligen Parkplätzen und Häusern. Das Ziel liegt nun noch acht Kilometer entfernt. Der Fahrer hofft, dass die Polizisten am Autobahnkreuz sich nicht inzwischen mit Groningen oder Den Helder in Verbindung gesetzt haben und dass nicht längst ein paar Abfangjäger unterwegs sind, um die Tanklaster zu bombardieren. Doch nein, das ist unmöglich - bei so viel entfesselter Naturgewalt kann sich kein Flugzeug in der Luft halten. Wieder wirft er einen Blick auf den Radarschirm. Sein Kollege folgt ihm nach wie vor in einem Abstand von 350 Metern. Auch er wird wie ein Spielball über die Fahrbahn geschleudert und arbeitet sich durch Wolken aus Schaum wie ein metallener Wal. Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name, gib uns die Kraft, unsere göttliche Mission zu erfüllen, schenke meiner armen, sündigen Seele die ewige Glückseligkeit … Oh, mein Gott, was für eine entsetzliche Welle! Sie wird uns fortreißen! Wir werden es nicht schaffen, hilf Himmel! Aber nein, sie schwappt vorbei, sie schwappt wirklich vorbei, halleluja! Gott ist mit uns. Ehre sei Gott und dem heiligen Amerika!
Das Ziel kommt in Sicht. Als der Regen für Sekunden ein wenig nachlässt, erkennt der Fahrer den zylindrischen Turm des Denkmals, das zu Ehren der Erbauer genau an der Stelle errichtet wurde, wo der Damm am 28. Mai 1932 geschlossen worden war. Beide Fahrer haben die Geschichte des Abschlussdamms auswendig lernen müssen. Letzter Blick auf den Radarschirm - der Kollege ist immer noch da, in 370 Metern Entfernung. Gib Gas, Junge! Du kannst jetzt nicht mehr kneifen! Gott ist mit uns. Er wird uns in seine ewige Glückseligkeit aufnehmen. Das Paradies erwartet uns!
Der Tanklastzug fährt mit voller Geschwindigkeit in die Ausfahrt, die die Böschung hoch zu einem Parkplatz und den fünf Betonzylindern führt, auf denen die Geschichte des Damms erzählt wird. Zwei sind nicht mehr da, die Wellen haben sie verschlungen. Auch auf der anderen Seite der Autobahn hat das Denkmal gelitten. Der Turm ist zur Meerseite hin abgebröckelt, und der Regen frisst sich voller Wut in die entstandene Öffnung. Die Ausfahrt wird immer wieder von schäumender Gischt überschwemmt, doch dank Gottes großer Güte verliert der Sturm für einige Augenblicke an Gewalt, sodass die beiden Tanklaster sich auf der Fahrbahn halten können.
Der Fahrer rast mit Höchstgeschwindigkeit bis zum Ende des Parkplatzes, drückt den Fernbedienungsknopf und wirft das Lenkrad nach rechts herum.
»Näher, mein Gott, zu dir!«, schreit er aus vollem Hals. Der Volvo kommt von der Straße ab, durchbricht das Geländer, reißt das Gitter mit, holpert über die aufgeschütteten Steinblöcke hinunter und stürzt in die tobenden Fluten. Vierhundert Meter hinter ihm macht der zweite Tanklastzug genau das Gleiche.
Zehn Sekunden später bricht die Apokalypse los.
In den Tanks ist natürlich kein Flüssiggas, sondern zwanzig Tonnen eines hochkomprimierten Gemischs aus Quecksilberdämpfen, Argon und Krypton in einer Umhüllung aus Verbundmaterial - einem Epoxid aus Kohlenstoffnanoröhren, Aramiden und Polytetrafluorethylen -, die wiederum in einem Stahlzylinder steckt. Dieser enthält außerdem zwei Super-Magnetrons an beiden Enden der Umhüllung, die von der Wasserstoffzelle des Lastwagens betrieben werden. Die Fernbedienung, auf deren Knopf der Fahrer vor seinem Freitod gedrückt hat, ist auf die Wassertiefe am Fuß des Deichs eingestellt. Sie aktiviert die Magnetrons, sobald die Lastwagen auf Grund gesunken sind. Durch das Elektronenbombardement werden die Gase ionisiert und in Plasma verwandelt, das sich auf eine Temperatur von 3500 Grad Celsius aufheizt. Nach fünf Sekunden erreicht das Plasma die kritische Schwelle, wird instabil und explodiert in einer 10 000 Grad Celsius heißen Feuerkugel.
Mehrere Hundert Meter rechts und links der beiden Explosionsherde verwandelt sich der Damm sofort in eine Masse brodelnden Magmas. Druck und Hitze lassen das Meer zurückweichen. Eine Säule aus kochendem Dampf durchdringt die Wolken. Dann kehren die Fluten wütender denn je zurück. Eine hoch aufgetürmte Wellenwand ergießt Millionen Tonnen Wasser auf den sich auflösenden Damm, der wie ein simpler Sandhaufen einfach weggeschwemmt wird und einen neuerlichen Dampfpilz in die brodelnden Wolken entlässt. Die Nordsee stürzt sich ins Ijsselmeer und auf die benachbarten Polder wie eine schwarze Wand aus schäumendem Wasser. Sie zermalmt alles, was ihr im Weg steht, und schwemmt die Trümmer ins Landesinnere. Weitere Extremwellen folgen. Sie vollenden das Zerstörungswerk. Breite Breschen werden in die von Rissen und Spalten durchzogenen Reste des Abschlussdamms gerissen. Ohne an Wucht zu verlieren, überrollen die Wassermassen die Deiche an der Küste und ertränken Tausende von Quadratkilometern des tiefer liegenden Landes unter ihren schlammigen, tosenden Fluten.
Doch die zweifache Plasmaexplosion hat noch eine weitere Folge: Eine elektromagnetische Schockwelle breitet sich mit hoher Geschwindigkeit im Umkreis von etwa 150 Kilometern Entfernung aus und zerstört jedes elektrische oder elektronische Gerät. Bis auf die Provinzen Limburg und Südbrabant wird das gesamte Land lahmgelegt und versinkt in Dunkelheit und Schweigen. Lichter gehen aus. Autos, Züge und Untergrundbahnen bleiben stehen. Flugzeuge stürzen ab. Fernsehgeräte werden schwarz. Radios verstummen. Computer hängen sich auf. Die gesamte Telekommunikation bricht ab. In den Krankenhäusern fallen Scanner und Dialysegeräte einfach aus, und fernbediente chirurgische Instrumente stecken im Fleisch der Patienten fest. Windräder hören auf, sich zu drehen, und Kraftwerke produzieren keinen Strom mehr. Die hydraulischen Pumpen bleiben stehen, Kanäle laufen erst voll und dann über. Hydroponische Gewächshäuser und Legebatterien versinken in Kälte und Schwärze. Verkehrsampeln erlöschen, Navigationssysteme spielen verrückt, die Verkehrsflusskontrollen auf den Autobahnen funktionieren nicht mehr. Die Leuchttürme gehen aus, Schiffe kommen vom Kurs ab und sind dem Sturm hilflos ausgeliefert. In den Fabriken halten die Förderbänder an. Polizei, Sanitäter und Feuerwehr sind handlungsunfähig. Die Niederlande versinken im Chaos. Ein Viertel des Landes steht komplett unter Wasser. Und über dieser Hölle heult der Orkan. Er wütet und tobt mit unverminderter Kraft; das Schicksal der Menschen ist ihm gleichgültig.