Kill them all

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Virtual Companion™, das Exklusivprodukt von Holo-Life®, einem Unternehmen der MAYA-Gruppe

Nachdem Laurie die tote Möwe mit zwei Paar Haushaltshandschuhen an den Händen sicher eingepackt und in einem Müllcontainer entsorgt hat, fegt sie die Glassplitter zusammen, schrubbt den Blutfleck auf dem Holzboden mit Desinfektionsmittel fort und klebt einen Müllsack über die zerbrochene Fensterscheibe. Danach weiß sie nichts mit sich anzufangen. Natürlich könnte sie das Erdgeschoss säubern, doch wozu? Morgen wird es aller Wahrscheinlichkeit nach wieder eine Flut geben, und das Meer wird erneut ins Haus eindringen.

Langsam wird es dunkel. Mit hereinbrechender Nacht kommt die Zeit, die Laurie am meisten fürchtet - die Einsamkeit des Abends. Das traurige, in der Mikrowelle aufgewärmte Abendessen, das sie allein am Küchentisch verzehrt, das nicht klingelnde Telefon, die schillernde Leere des Fernsehprogramms, die mit Spams und Werbung vollgepfropfte E-Mail-Box, das ziellose Surfen im Internet, mit dem sie sich wenigstens die Illusion erhält, am Weltgeschehen teilzunehmen, der Stadtlärm, den sie mit melancholischer Musik zu übertönen versucht, und schließlich das kalte Bett, das viel zu groß für sie ist. Ausgehen? Sich in einer Bar mit irgendwelchen Säufern abgeben, die ohnehin nur Augen für ihren Arsch haben? Bekannte anrufen, denen sie nichts zu sagen hat und mit ihrer Schwermut nur auf die Nerven geht? Durch die düsteren, engen Gassen irren und sich von Ökoflüchtlingen anmachen lassen? Besäße Laurie ein Auto, würde sie ganz schnell ganz weit wegfahren. Aber ein Auto ist ein Luxus, den sie sich noch niemals leisten konnte. Für eine Hilfsorganisation zu arbeiten bedeutet zwar, dass man viel von der Welt sieht, doch mit der Bezahlung ist es nicht allzu weit her. Ob sie das Angebot von Markus vielleicht doch annehmen soll? Soll sie nach Holland fahren und sich die vielen Leichen, die Trümmer und die Krankheiten antun?

»Gott straft uns. Der Herr lässt uns für unsere Sünden büßen. Er hat uns verdammt und schickt uns die sieben Plagen der Apokalypse, weil wir das Goldene Kalb angebetet und uns mit Satan verbündet haben. Morgen schon werden uns die Vier Reiter mit Namen Weltgericht, Krieg, Hungersnot und Krankheit erreichen. Die große Hure Babylon wird fallen. Tut Buße! Tut Buße!«

Scheiße. Der schon wieder, denkt Laurie. Zum zweiten Mal an diesem Tag steht sie am Fenster und beobachtet den Platz. Unten läuft ein grauköpfiger, struppiger, spindeldürrer Mann wild gestikulierend mit großen Schritten über die Straße. Er trägt eine weiße, bis zu den Knien reichende Tunika mit der Aufschrift Göttliche Legion. Mit nackten Füßen patscht er durch den Schlamm. Laurie kann sein Gesicht nicht sehen - die Hälfte der Straßenlaternen funktioniert nicht -, doch sie erkennt den Mann auch so. Er ist einer der Ökoflüchtlinge, die im ehemaligen Hotel de la Cité in der Rue Sainte-Barbe untergebracht sind. Einer, der sich für erleuchtet hält; ein Verrückter, wie es deren so viele gibt.

»Die sieben Siegel sind erbrochen, das Tier ist mitten unter uns. Wir alle tragen sein Zeichen. Tut Buße, ihr Ungläubigen, ihr Unzüchtigen, ihr Internetabhängigen! O Herr, schütze uns vor dem Tier und seinem entehrenden Zeichen. Schütze uns vor Huren und der virtuellen Realität, lass es keine Frösche regnen. Ihr Irrgläubigen, werft euch vor dem Licht des Herrn in den Staub! Denn Babylon wird fallen!«

Laurie hebt die Hand, um das Fenster zu schließen, und muss feststellen, dass es bereits geschlossen ist. Das Gezeter des Ökoflüchtlings dringt ungehindert durch den doppelten Plastikfilm, der das Loch in der Scheibe mehr schlecht als recht verschließt. Laurie greift nach der Fernbedienung ihrer Stereoanlage, schaltet sie ein und ruft den wildesten Song ab, der ihr einfällt: Holocaust von Kill Them All, einer Gruppe, die sich dem Harsh-Sound verschrieben hat. Lauries Bruder Yann hat ihr den Titel geschickt. Sie dreht die Lautstärke bis zum Anschlag. Ein infernalischer Lärm erfüllt den Raum und bringt die noch intakten Scheiben zum Vibrieren. Das Stück hört sich an wie eine Mischung aus einem Bombenanschlag und einer Schrottpresse, in der das übersättigte Gejohle des Sängers fast ertrinkt. Normalerweise verabscheut Laurie diese Art Klangchaos, doch in diesem Fall kann sie ein grimmiges Lächeln nicht unterdrücken, als sie sieht, wie der Prediger seine Fäuste zu ihrem Fenster hinauf schüttelt und unhörbare Verwünschungen ausstößt. Besiegt von der satanischen Technik, trollt der Ökoflüchtling sich schließlich und verkündet seine Bannflüche an anderer Stelle.

Laurie dreht zurück auf Zimmerlautstärke und ersetzt das Gejohle durch Kirlian Camera, eine italienische Dark-Wave-Gruppe vom Anfang des Jahrhunderts, deren Musik sie liebt, weil sie ihrer Schwermut voll und ganz entspricht. Doch Kill Them All hat sie an ihren Bruder erinnert, und plötzlich kommt sie auf einen Gedanken: Wie wäre es, wenn sie in die Pyrenäen fahren und ihn dort besuchen würde? Viel zu lange schon haben sie sich aus den Augen verloren; genau genommen, seit sie ihn Markus vorgestellt und seine Qualitäten als Programmierer gerühmt hat. Damals suchte Schumacher einen neuen Webmaster für die Homepage von SOSEuropa, weil der alte dem Zipzap verfallen war - wie so viele andere auch. Seither scheint Yann seinen Weg gemacht zu haben. Allerdings hat Laurie nichts mehr von ihm gehört, und ihre sporadischen E-Mails sind ohne Antwort geblieben.

Sie nimmt das Telefon vom Gürtel und zögert. Wie wird er ihren Anruf aufnehmen? Als Geschwister haben sie nicht sehr viel gemein, sind sich aber auch keineswegs feindlich gesonnen. Und doch könnte es kaum unterschiedlichere Charaktere geben. Ihre einzige Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie beide vor ihren Eltern geflohen sind, sobald sie die Volljährigkeit erreicht hatten. Laurie hat die Gelegenheit wahrgenommen, die Welt kennenzulernen und sich mit der rauen Wirklichkeit herumzuschlagen, Yann hingegen hat sich in den Bergen der Pyrenäen verschanzt, verlässt sein Schlupfloch so gut wie nie und erkundet lieber die Sphären von Bytes, Algorithmen und Systembefehlen. Glücklicherweise ist er bisher wenigstens nicht der Versuchung des Zipzap erlegen - soweit Laurie weiß.

Ich rufe ihn einfach mal an, denkt sie.

»Yann Prigent«, befiehlt sie dem Telefon und befestigt es an ihrem Ohr.

Der Anrufbeantworter meldet sich. Hallo, hier ist Yann Prigent. Ich bin gerade superbeschäftigt. Entweder, Sie versuchen es später noch einmal, oder Sie sagen mir, was Sie von mir wollen.

»Yann, hier ist Laurie. Nimm doch bitte ab!«

Sie wartet. Dann versucht sie es noch einmal.

»Yann, hier ist Laurie, deine Schwester. Hast du vielleicht zwei Minuten Zeit zum Reden?«

Wieder wartet sie, ehe sie drängt: »Yann, Scheiße noch mal, nimm endlich ab! Hier ist Laurie, ich muss dir unbedingt etwas sagen!«

Endlich meldet er sich.

»Hallo, Laurie. Ich kann echt gerade nicht, weil ich einen riesigen Fisch an der Angel habe. Wenn ich den loslasse, bin ich am Arsch. Ruf lieber morgen wieder an, falls ich dann noch lebe.«

Freizeichen.

Dieses Arschloch! Zwei Jahre haben wir uns weder gesehen noch auch nur ein Wörtchen miteinander gewechselt, und er lässt mich einfach so in die Röhre gucken! Mensch, Yann, ich bin alles, was du noch an Familie hast! Das kannst du doch nicht machen. Gerade will sie ein weiteres Mal anrufen - sie kann nämlich ganz schön dickköpfig sein -, als ihr ein siedend heißer Schauer über den Rücken läuft. »Falls ich dann noch lebe«? Was sollte das heißen? Yann, du bist doch hoffentlich nicht auch dem Zipzap verfallen?

Ödland - Thriller
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