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Sie einigten sich darauf, sich schräg abwärts zu halten. An die Richtung, aus der sie gekommen waren, konnten sie sich sogar noch erinnern.

Sebastian trug Fabian auf dem Rücken, was ihm trotz der Anstrengungen der vergangenen zwei Tage recht leicht zu fallen schien. Julia lief neben ihm und fragte alle zwei Minuten, ob es noch ginge oder ob sie eine Pause machen sollten.

Lucas und Janik eskortierten Tim, der stumm zwischen ihnen hertrabte. Direkt hinter ihnen marschierten Denis und Lena, während Jenny ein paar Meter abseits trottete, ganz allein.

Tim bemerkte die nachdenklichen Blicke, mit denen Janik und besonders Lucas ihn von der Seite musterten. Er versuchte, sie zu ignorieren. Seine Gedanken drifteten immer wieder ab in die Vergangenheit, zu dem, was er getan hatte. Und mit jedem Meter, den sie weiter abwärtskamen, wuchs seine Angst davor, zu erfahren, was mit Ralf geschehen war. Dass er etwas damit zu tun hatte.

»Du bist echt abgefahren«, sagte Denis unvermittelt, nachdem sie minutenlang schweigend marschiert waren.

Tim wandte sich im Gehen überrascht zu ihm um. »Wie meinst du das?«

Denis ließ sich mit der Antwort Zeit.

»Du hast da diesen Schlafwandelquatsch an der Backe. Das mit deiner Mutter. Ist ’ne echte Hausnummer. Aber jeder hat irgendwie sein Ding zu stemmen.«

Tim nickte, sah wieder nach vorn und versuchte zu verstehen, was Denis ihm sagen wollte, schaffte es aber nicht. Wieder dauerte es eine Weile, bis Denis weitersprach.

»Aber jetzt auch noch diese Sache mit Ralf, der getürmt ist … Das ist abgefahren.«

Tim wusste noch immer nicht, worauf Denis hinauswollte, und drehte sich erneut zu ihm um. Janik und Lucas sagten kein Wort. »Was meinst du?«

Denis beschleunigte seine Schritte und drängte sich zwischen Lucas und Tim. Lucas linste kurz und unsicher zu Janik, ließ ihn aber gewähren.

Denis sah verständnislos zu Tim hinüber. »Wie jetzt? Was ich meine? Dass du den Kram erzählt hast, meine ich. Obwohl du wusstest, was der Schwachmat da vorn daraus machen wird. Trotzdem hast du uns die ganze Wahrheit gesagt. Einfach, weil du Schiss hattest, noch mal jemandem wehzutun. Hey, das hat Größe, Alter.«

Tim wusste nicht, ob das etwas mit Größe zu tun hatte. Er wusste nur, es war die einzige Möglichkeit gewesen, nicht verrückt zu werden in der Ungewissheit, was er getan hatte oder noch tun würde.

Er sah zu Denis und stellte fest, dass dieser dürre, kalkweiße Kerl wohl derjenige unter ihnen war, in dem er sich am meisten getäuscht hatte.

Nach etwa einer halben Stunde erreichten sie das Wäldchen, durch das sie gekommen waren. Sebastian setzte Fabian ab, der sich selbstständig kaum auf den Beinen halten konnte, und trank lange von seiner Wasserflasche, die er wie alle in einem der vielen Rinnsale in der Nähe der Hütte gefüllt hatte.

Janik erklärte sich bereit, den Vierzehnjährigen zu übernehmen, und nach einer kurzen Pause ging es weiter. Sebastian hatte Janiks Platz an Tims Seite eingenommen, Julia stolperte mehr neben Sebastian her, als sie ging.

Nach einer Weile sah sie an Tim vorbei zu Sebastian hinüber. »Richtig unheimlich, neben so einem herzugehen, als wenn nichts wäre.«

Mit einem Ruck blieb Tim stehen. Sebastian reagierte schnell, stoppte ebenfalls abrupt, machte einen großen Schritt zurück und stellte sich dicht vor Tim. Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. »Versuch es!«, zischte er Tim leise zu. »Mach einen Fehler. Gib mir eine Gelegenheit und ich hau dir eine rein.«

»He, ist ja gut, bist ein böser Bulle«, rief Denis von der Seite.

Sebastians Kopf flog wütend zu ihm herum. »Und du kannst dich direkt anschließen!«

Denis stand nur da und sah ihn an, ohne eine Miene zu verziehen.

»He, wo hängt’s denn?«, rief Janik ihnen zu, der mit Fabian auf dem Rücken schon ein gutes Stück weiter war. »Nun kommt endlich.«

Nach letzten grimmigen Blicken zu Denis und Tim deutete Sebastian nach vorn. »Also los!«

Weitere zwanzig Minuten später erreichten sie tatsächlich den Weg, auf dem sie gekommen waren.

Die Erleichterung stand den meisten ins Gesicht geschrieben. Nur Denis und Tim hielten sich zurück. Denis, weil er eben Denis war. Und Tim, weil der Heimweg für ihn bedeutete, er würde nun bald erfahren, ob er krank war – so psychisch krank, dass er vielleicht weggesperrt werden musste, um andere vor ihm zu schützen. Oder ob es für alles eine andere Erklärung gab.

Je näher sie der Auflösung dieses Rätsels kamen, umso größer wurde Tims Angst – und die Ahnung, dass es wieder angefangen hatte.

So oder so würde er diese beiden Tage in seinem ganzen Leben nie mehr vergessen.

Nach einer kurzen Pause hob Janik Fabian wieder auf seinen Rücken und sie führten ihren Abstieg fort. Sie brauchten nur dem Pfad zu folgen, der sie offensichtlich um den Fels mit den Trittbügeln herumführte. Denn plötzlich war der Weg zu Ende und unter ihnen lagen die Schrofen, der steile Hang aus Tausenden kleinen kantigen Felsen und Steinen mit den Geröllbächen dazwischen. Sie gingen bis zum Rand und blickten in die Tiefe.

Tim und Janik entdeckten gleichzeitig die reglose Gestalt, die etwa in der Mitte des Hangs lag.

Und wie im Chor riefen sie: »Ralf!«

Janik setzte Fabian so unsanft ab, dass der nach hinten kippte und stöhnend auf dem Boden liegen blieb.

Während sie sich, ohne lange zu überlegen, zu zweit an den rutschigen Abstieg zwischen den spitzen Felsen machten, überschlugen sich die Gedanken in Tims Kopf. Vor ihnen lag Ralf. Hieß das, dass Tim doch nichts mit seinem Verschwinden zu tun hatte? Oder hatte er ihn zwar verletzt, aber Ralf hatte weglaufen können und es bis hierher geschafft, bevor er zusammengebrochen war?

Tims Herz schlug ihm bis zum Hals, und das lag nur zum Teil an dem anstrengenden Hang.

Als er noch etwa zehn Meter von Ralfs reglosem Körper entfernt war, knickte er um, kam ins Stolpern und konnte sich nicht mehr halten. Er kippte vornüber und knallte mit der Brust gegen einen Stein. Ein feuriger Strahl schoss durch seinen Oberkörper und er schrie laut auf.

Janik war sofort bei ihm und drehte ihn vorsichtig um, was ein neues Feuerwerk durch Tims Schulter jagte.

»Was ist? Hast du dich verletzt?«, fragte er.

»Ja, die Brust«, stöhnte Tim. Doch im Augenblick zählte nur Ralf, der wenige Meter von ihnen entfernt lag. Und der als Einziger die Frage beantworten konnte, die Tim wichtiger war als alles andere.

Er ignorierte die Schmerzen und stemmte sich hoch. Ihm wurde schlecht und er sah dunkle Punkte vor den Augen tanzen, aber er hielt sich auf den Beinen.

»Geht schon«, sagte er gepresst zu Janik und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen.

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, hatten sie Ralf erreicht. Er lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen. Das rechte Hosenbein war unterhalb des Knies blutdurchtränkt, um die linke Hand hatte er ein ehemals helles Tuch gewickelt, das ebenfalls tiefrot gefärbt war.

»Mist«, sagte Janik, nachdem er Ralfs Bein begutachtet hatte. »Wo ist dein Messer?«

»Das … hat Sebastian.«

»Ja, hier ist es!«, rief Sebastian plötzlich. Er war ihnen hinterhergeeilt und rutschte ihnen nun entgegen.

Janik nahm das Messer, das Sebastian ihm entgegenstreckte, und nestelte damit so lange an Ralfs Hosenbein herum, bis er es geschafft hatte, es ein Stück aufzuschlitzen. Was dort zum Vorschein kam, hätte Tim in einer normalen Situation wahrscheinlich den Magen umgedreht. In diesem Moment aber betrachtete er die gelbliche Knochenspitze, die kurz unterhalb des Knies aus der Haut des Unterschenkels herausstach, nur sachlich mit dem Gedanken, dass er gerade zum ersten Mal einen offenen Bruch sah.

»Gebrochen«, stellte auch Janik fest und klappte die Stoffenden seitlich weg. »Er muss gestürzt sein.« Er nahm Ralfs Hand und suchte nach einem Puls. Nach einigen Sekunden sah er Tim und Sebastian an. »Fühlt sich gut an, soweit ich das beurteilen kann.«

»Bleibt die Frage, was das hier ist.« Sebastian hatte Ralfs andere Hand angehoben und das blutgetränkte Tuch abgenommen. In der geöffneten Handfläche klaffte eine hässliche, etwa fünf Zentimeter lange Schnittwunde. Sebastian stierte Tim an, dem dieser Anblick sofort in den Magen fuhr.

»Für mich sieht das aus, als habe er versucht, einen Stich abzuwehren, und dabei eine Messerklinge in die Handfläche bekommen. Was denkst du, Janik?«

»Blöd…sinn.«

Es war nicht Janik gewesen, der das gesagt hatte, sondern Ralf.