24

»Ich bin als Kind geschlafwandelt.«

Eine Weile herrschte Ruhe, dann machte Sebastian: »Ha«, und klopfte sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. »Ich wusste doch, dass du ein Psycho bist.«

»Das hat nichts mit Psycho zu tun, du Dummschwätzer«, fuhr Tim ihn an. »Vielleicht versuchst du einfach mal, für fünf Minuten deinen Mund zu halten. Nicht jeder Satz muss von dir kommentiert werden.« Tim sah von einem zum andern. »Wollt ihr jetzt was dazu hören oder nicht?«

Sie wollten und gaben Sebastian das auch mit deutlichen Blicken zu verstehen.

»Also, Schlafwandeln ist unter Kindern sehr verbreitet. Vielleicht ist der eine oder andere von euch auch schon nachts herumgelaufen und weiß es nur nicht. Ich habe mich jedenfalls immer an offene Fenster oder Türen gestellt und rausgestarrt. Irgendwann bin ich dann ins Bett zurück und habe weitergeschlafen. Am nächsten Morgen weiß man davon nichts mehr. Wie gesagt hatte ich das schon lange nicht mehr. Und seltsam ist auch, dass Julia meint, es war gegen Morgen, als es schon hell wurde. Normalerweise passiert das immer sehr früh in der Nacht. Ich habe dafür nur die Erklärung, dass das mit dem vielen Alkohol zusammenhängt. Auf jeden Fall hat es aber nichts mit Ralf zu tun.«

Lena streichelte Tims Hand. »Zumindest haben wir jetzt eine Erklärung dafür, warum du nass warst, obwohl du dich nicht daran erinnerst, draußen gewesen zu sein.«

»Moment mal«, hakte Sebastian nach und zog die Stirn kraus. »Wenn du nachts rumläufst und nicht weißt, was du tust … Wer sagt uns denn, dass du nicht draußen warst und im Schlaf Ralf niedergeschlagen hast, der da zum Pinkeln stand? Oder niedergestochen, mit deinem schönen Schweizer Messer, das ja seltsamerweise verschwunden ist? Euch Psychopathen ist doch alles zuzutrauen. Liest man laufend in der Zeitung. Ihr murkst jemanden ab und anschließend bekommt ihr ein paar Monate Therapie, weil ihr ja nicht mehr alle Tassen im Schrank habt. Und dann lauft ihr wieder frei rum und macht den Nächsten kalt.«

Etwas in Tim zerriss. Das Band, das seinen Verstand zusammenhielt, vielleicht. Ihm war, als lege sich ein roter Schleier über sein Bewusstsein, als er sich mit einem gurgelnden Laut auf Sebastian stürzte und ihn mit seinem Körpergewicht umwarf. Sebastian wehrte sich, versuchte ihn wegzudrücken. Sie wälzten sich über den Boden, während um sie herum geschrien wurde. Hände griffen nach Tim, zogen ihn an Armen und Beinen, etwas kratzte schmerzhaft über sein Gesicht. Dann rutschten seine Hände von Sebastian ab und man zog sie auseinander.

»Verdammt«, stöhnte Sebastian irgendwo neben Tim auf. »Meine Schulter. Mann, tut das weh. Ich werde diesem verdammten Psycho …«

Ein kurzes Gerangel entstand, jemand sagte: »Hey, hör auf«, dann wurde es wieder ruhiger.

Tim sah sich um. Bei ihm standen Lucas, Lena und Jenny. Sie waren es wohl gewesen, die ihn von Sebastian weggezogen hatten. Janik und Julia knieten gemeinsam neben Sebastian.

»Komm mit hier rüber«, sagte Lena und zeigte zu der Stelle neben Fabian und Denis.

Tim nickte und stand auf. Er vermied es dabei ganz bewusst, zu Sebastian zu schauen, zumindest bis er sich neben Denis auf den Boden gesetzt hatte. Sebastian sah ihn hasserfüllt an, und Tim fragte sich nicht zum ersten Mal, was er eigentlich gegen ihn hatte.

»Schätze, er mag dich nicht«, murmelte Denis, als hätte er seine Gedanken gelesen.

»Ja, sieht ganz danach aus. Ich frage mich nur, warum ausgerechnet ich? Ich habe ihm doch nichts getan.«

»Dummkopf«, war Denis’ Kommentar dazu.

Tim sah ihn überrascht an. »Was? Wieso Dummkopf, ich habe keinen Schimmer, was du meinst.«

Mit dem Kinn deutete Denis zu Lena hinüber. »Wie blind bist du eigentlich?«

Tim sah Lena an, aber auch die schien nicht zu wissen, wovon Denis sprach.

»Was für ein tolles Team!«, rief Sebastian von der anderen Seite. »Ein Kind, das sich für einen Schlauberger hält, ein vergammelter Knacki, ein Verlierertyp und die heilige Lena. Und alle kümmern sich um einen durchgeknallten Psycho.«

Lena legte Tim die Hand auf die Schulter. »Kümmere dich nicht um ihn. Er will dich nur provozieren.«

»Schon gut.« Tim wandte sich von der Gruppe ab.

»Hey, falls du mich mit dem Verlierer gemeint hast – lass mich da raus, ja?« Lucas stand auf, ging zum Tisch und setzte sich demonstrativ auf einen Hocker.

»Er ist in Lena verknallt.« Wieder einmal schaffte es Denis, Tim mit seiner dahingeworfenen Bemerkung zu überraschen. Und nicht nur ihn.

»Was?«, rief Lena überrascht. »Wie kommst du denn darauf?«

»Ich hab Augen im Kopf. Deshalb stänkert er auch so gegen Tim.«

Tim ging die Situationen durch, in denen Sebastian und Lena zusammen gewesen waren, und überlegte, wie Sebastian sich verhalten hatte. Sebastians Hänseleien gleich zu Anfang, als Tim sich mit Lena unterhalten hatte. Das wie zufällige Dazukommen, wenn Lena irgendwo stand … Und dann musste er mit ansehen, wie Lena sich offensichtlich nicht für ihn, sondern für Tim entschied.

Ja, Denis konnte mit seiner Vermutung recht haben. Auch wenn Tim nicht verstehen konnte, wie diese Eifersucht so weit führen konnte, jemanden eines Verbrechens zu beschuldigen.

»Ich glaub’s nicht«, sagte Lena. »Ich meine, er hat sich doch mir gegenüber ganz normal benommen. Zumindest bis vorhin.«

»Ich glaube, Denis hat recht …«

Weiter kam Tim nicht, denn die Tür wurde geöffnet, ein Windstoß fegte durch die Hütte, dann war es auch schon wieder vorbei.

Tim sah sich irritiert um, er wusste nicht, ob jemand hinausgegangen oder hereingekommen war. Etwa … Ralf?

Dann bemerkte er, dass Sebastian fehlte, und sah Janik fragend an.

»Sebastian ist raus«, erklärte Janik. »Er meinte, er müsse was nachsehen. Keine Ahnung.«

Das machte das ungute Gefühl in Tim nicht besser. Er hasste es, sich auf diese unbestimmte Art die ganze Zeit schuldig zu fühlen, obwohl er sich eigentlich überhaupt keiner Schuld bewusst war.

Es war paradox, aber er musste damit rechnen, dass er irgendwie in diese Geschichte mit Ralf verwickelt war, auch wenn er sich nicht daran erinnern konnte. Und es konnte sein, dass andere vor ihm herausfanden, was Tim in der letzten Nacht getan hatte. Zum Beispiel Sebastian. Warum war er gerade verschwunden? War ihm etwas Wichtiges eingefallen? Etwas, das er, Tim, nicht wusste? Nicht mehr wusste? Etwas, das Tims Schuld endgültig beweisen würde? Warum sonst sollte er plötzlich freiwillig in dieses Unwetter spazieren?

Aber zumindest in einem Punkt konnte Tim Sebastians Abwesenheit ausnutzen. Er wandte sich wieder an Janik. »Was denkst du eigentlich? Das Gleiche wie Sebastian? Glaubst du auch, ich sei ein Psychopath, der Ralf letzte Nacht verletzt hat? So sehr, dass er stark blutete?«

»Ich denke, dass das alles sehr merkwürdig ist. Und dass es einiges gibt, das gegen dich spricht.« Er machte eine kurze Pause, in der er seine Hand ausstreckte und die gespreizten Finger betrachtete. »Aber es gibt auch Dinge, die gegen Sebastian sprechen. Theoretisch könnte er genauso was damit zu tun haben.«

Tim fühlte sich ein wenig erleichtert. Die Vorstellung, dass Janik zumindest darüber nachdachte, dass nicht unbedingt Tim der Übeltäter war, entzerrte das Ganze. So standen jetzt nur noch Sebastian und wohl auch die ängstliche Julia gegen ihn. Lucas versuchte sich herauszuhalten und …

Die Tür wurde aufgestoßen und donnerte mit Schwung gegen die Hüttenwand. Im nächsten Augenblick wurde es dunkel im Inneren der Hütte, weil der Wind alle Kerzen ausgeblasen hatte. Und es wurde laut, denn der Sturm konnte sein Getöse nun ungehindert in die Hütte drücken.

In der Türöffnung stand breitbeinig Sebastian. Er war vollkommen durchnässt, seine Kleidung triefte. Seine Gestalt wurde nur vom schmutzigen Tageslicht angestrahlt. Regentropfen fegten an seiner Gestalt vorbei. Alles, was man aus dem Inneren heraus von ihm sehen konnte, war eine dunkelgraue, fast schwarze Fläche wie von einem Scherenschnitt. Einen Arm hatte er schräg nach vorn ausgestreckt, die Handfläche schien geöffnet zu sein. Mehr war nicht zu erkennen. Es sah sehr gespenstisch und theatralisch aus.

»Siehst du, was ich hier habe, Tim?«, rief er gegen das Toben des Sturms, was den dramatischen Effekt noch erhöhte.

Doch darauf achtete Tim nicht mehr. Er starrte auf das Schwarz der geöffneten Handfläche. Und obwohl er nichts darin erkennen konnte, wusste Tim genau, was dort lag.