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Am späteren Nachmittag holten sie sich im Materiallager ihre Grundausrüstung ab, die aus Helm, Klettergurten, Schuhen, Sicherungsgerät und Verschlusskarabiner bestand. Zusätzlich bekam jeder einen kakifarbenen Rucksack mit dem Schriftzug Bergcamp Grainau auf der Außenseite, in dem sie alles verstauen konnten. Das Materiallager war in dem einzigen Steingebäude des Camps untergebracht. In dem großen Bau gleich hinter der Rezeptionshütte befand sich auch der Speisesaal, wo sich die Jugendlichen dreimal am Tag zum Essen treffen sollten, sofern sie nicht unterwegs waren.

Sogar Denis war mitgekommen, und auch wenn er während der ganzen Zeit kaum ein Wort sprach, schien es Tim, als taute er langsam ein wenig auf.

Nachdem sie die Ausrüstung in die Unterkünfte gebracht hatten, machte Ralf sich mit Janik und Sebastian auf den Weg, um in Grainau Getränke zu besorgen.

Tim wollte die Zeit nutzen und sich das Camp etwas genauer ansehen. Fabian entschloss sich, mit ihm zu kommen, während Denis wieder mit geschlossenen Augen auf seinem Bett lag.

Während sie alles unter die Lupe nahmen, erfuhr Tim, dass Fabian noch einen älteren Bruder hatte, dem das Gymnasium im Gegensatz zu ihm große Mühe bereitete, und dass seinen Eltern eine kleine Boutique gehörte. Während ihres Gesprächs fiel Tim erneut auf, mit welcher Leichtigkeit der Vierzehnjährige mit Worten jonglierte und wie analytisch er die Dinge um sich herum betrachtete. Fabian selbst führte seine »Fähigkeit, vernünftig mit der deutschen Sprache umzugehen«, wie er es ausdrückte, darauf zurück, dass er schon von frühester Kindheit an sehr viel las. Er erzählte Tim, dass eine komplette Wand seines Zimmers mit einem gefüllten Bücherregal bis zur Decke zugestellt war und er alle diese Bücher auch gelesen hatte.

Auch wenn Fabian für sein Alter manchmal komische Sachen sagte, fand Tim ihn doch lustig.

Als sie wieder an ihrer Hütte ankamen, saß Lena vor ihrer Unterkunft auf dem Rand der kleinen Veranda und hielt ihr Gesicht mit geschlossenen Augen der tief stehenden Sonne entgegen. Tim zögerte kurz, dann erklärte er Fabian, er komme gleich nach, und ging zu ihr. Doch als er nur noch wenige Meter entfernt war, beschleunigte sich sein Puls und er spürte schon wieder dieses verdammte Prickeln auf der Stirn. Er blieb stehen. Das durfte doch nicht wahr sein. Was war denn nur mit ihm los? Er hatte doch sonst keine Probleme damit, sich mit Mädchen zu unterhalten, warum ausgerechnet bei diesem Mädchen? Er würde wieder puterrot anlaufen, wenn er sie nun ansprach. Diese Blamage brauchte er nicht noch einmal.

Wütend über sich selbst wandte er sich um und wollte gerade die Flucht antreten, als Lena hinter ihm »Hallo Tim« sagte und ihn damit erschrocken zusammenfahren ließ.

Langsam drehte er sich ihr zu und hoffte, dass sein verlegenes Lächeln nicht komplett dämlich aussah.

»Hast du es dir anders überlegt oder wolltest du gar nicht zu mir?«

»Nein … doch, schon. Ich … dachte, du schläfst.«

»Im Sitzen?« Lenas Lächeln war entwaffnend, und Tim hatte das deutliche Gefühl, dass sie ganz genau wusste, was mit ihm los war. Er legte die letzten paar Schritte zu ihr zurück, setzte sich umständlich neben sie und rieb seine Handflächen über seine Oberschenkel, ohne zu wissen, warum er das tat.

»Wie alt bist du?«, fragte Lena, nachdem sie ihm eine Weile zugesehen hatte. »Und wo kommst du her?«

»Sechzehn. Ich komme aus dem Saarland. Saarbrücken.«

»Saarbrücken kenne ich, meine Schwester studiert dort Medizin.«

»Ah, okay, und du?«

Wieder dieses Lächeln, das Tim auf eine seltsame Art berührte. »Ich nicht, ich bin auch erst sechzehn und gehe noch zur Schule.«

Es dauerte einige Sekunden, bis Tim verstand und den Kopf schüttelte. »Nein, ich … ach, verdammt …« Sie mussten beide lachen. »Ich meinte natürlich, wo du wohnst.«

»Gar nicht so weit von dir weg. In Trippstadt.«

»Trippstadt?« Den Namen hatte Tim noch nie gehört. »Gibt es da etwas in der Nähe, das man kennt?«

»Ja, das liegt direkt bei Kaiserslautern. Ich denke, das kennst du, oder?« Tim fiel auf, wie unglaublich ebenmäßig und weiß ihre Zähne waren. Und dass sich an ihren Mundwinkeln kleine Grübchen bildeten, wenn sie lachte.

»Hallo, hallo«, lenkte eine unverkennbare Stimme ihn von seinen Betrachtungen ab. »Hier kommt der Getränkedienst.«

Nur ungern wandte Tim seinen Blick von Lena ab und sah zu Ralf, der mit Sebastian und Janik vor ihrer Hütte aufgetaucht war. Alle drei trugen Tüten auf den Armen, die offenbar zu schwer waren, um sie an den Griffen zu halten. Ralf deutete mit dem Kopf zum Eingang. »Komm mal rüber, wir müssen was mit dir besprechen.«

Tim wäre lieber noch etwas bei Lena geblieben, doch sie stand auf und sagte: »Ich muss jetzt sowieso mal rein zu den anderen, sonst denken die noch, ich hätte was gegen sie.«

Auch Tim erhob sich und klopfte sich den Hintern ab. »Sehen wir uns heute Abend?«

Lena hob die Schultern. »Ich weiß noch nicht, aber ich denke schon.« Sie wandte sich ab, doch als Tim sich nicht vom Fleck rührte, zögerte sie und sah ihn fragend an.

Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Versuchen wir das doch noch einmal: Sehen wir uns heute Abend?«

Wieder schenkte sie ihm ihr bezauberndes Strahlen. »Ja, gut, wir sehen uns.« Sekunden später war sie in der Hütte verschwunden.

Tim überquerte den Schotterweg und fühlte sich dabei so beschwingt, dass er am liebsten ein Lied gepfiffen hätte.

Das Camp gefiel ihm, und der Gedanke, dass nun eineinhalb Wochen vor ihm lagen, in denen er Lena täglich sehen würde, erzeugte ein wohlig warmes Gefühl in seinem Bauch.

Als er seine Hütte betrat, saß Denis mit verschränkten Armen auf einem Stuhl und hatte die Beine weit von sich gestreckt. Ralf redete auf ihn ein, während die anderen die Cola-und Orangensaftflaschen sowie einige Tüten und Dosen mit Salzstangen, Flips und Erdnüssen in dem freien Schrank verstauten.

»Na, konntest du dich von Lena losreißen?«, fragte Sebastian mit einem anzüglichen Lächeln, als er Tim entdeckte. Tim ging gar nicht erst darauf ein, dafür war seine Laune gerade viel zu gut.

Er glaubte, etwas wie Erleichterung auf Ralfs Gesicht zu erkennen, als der jetzt zu ihm herübersah. »Da bist du ja. Der liebe Denis stellt sich mal wieder quer.«

»Was ist denn los?«, fragte Tim und ging zu seinem Bett. Mit Schwung zog er sich hoch und setzte sich auf die Bettkante. Ralf zog einen Stuhl herbei und setzte sich ebenfalls. »Du hast doch gehört, wie der Plan für die nächsten Tage hier aussieht. Lustige Waldspaziergänge und ein bisschen an den Kinderkletterwänden herumspielen.«

Tim zuckte mit den Schultern. »Ja, und?«

»Was, und? Findest du das etwa gut?«

Tim dachte daran, dass es für ihn als Anfänger sicher ganz gut war, zuerst an den Kletterwänden zu üben, bevor er sich an einen Berg heranwagte. Er dachte auch an Lena und dass es ihm sowieso ganz egal war, wie das Programm der nächsten Tage aussah, solange er mit ihr zusammen sein konnte. So ein langer Waldspaziergang mit ihr gemeinsam …

»Klar, warum nicht?«

Ralf schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Der Knall ließ Fabian, der sich gerade an seinem Schrank zu schaffen machte, aufschrecken.

»Mann, weil das Kinderkram ist. Ich bin hier, um in den Berg zu gehen, und nicht, um an kleinen Kunsthügelchen herumzuturnen.«

»Ich verstehe nicht ganz, was du eigentlich willst«, gab Tim zu.

»Das kann ich dir sagen. Wir haben eben beim Einkaufen darüber gesprochen, und Sebastian und Janik sind der gleichen Meinung wie ich. Wenn die hier Kindergeburtstag spielen wollen, bitte schön. Dann ziehen wir eben auf eigene Faust los. Was denkst du?«

Tim versuchte, in Denis’ ausdruckslosem Gesicht eine Regung zu erkennen, was sich jedoch als aussichtslos herausstellte.

»Wie, auf eigene Faust?«

»Mein Gott, was ist denn daran so schwer zu verstehen? Ich kenne die Gegend hier wie meine Westentasche. Es gibt keinen Weg an der Zugspitze, den ich nicht schon hundert Mal gegangen bin. Wir klinken uns aus und machen eine Bergtour, während die Kinder hier im Camp bleiben.«

»Du willst einfach abhauen?« Tim sah zu Sebastian, Janik und Fabian. »Und ihr wollt da mitmachen?«

»Klar, warum denn nicht?«, sagte Sebastian und stellte sich demonstrativ hinter Ralf.

»Und was ist, wenn die uns am nächsten Tag alle nach Hause schicken?«

Ralf winkte ab. »Ach, Quatsch, das machen die nicht. Dann müssten die erst mal erklären, wie eine ganze Gruppe klammheimlich verschwinden konnte.«

»Außerdem, du weißt doch: No risk, no fun«, setzte Janik schmunzelnd hinzu.

Tim hatte seine Zweifel. »Ich war noch nie in den Bergen, vom Klettern habe ich keine Ahnung. Ich fände es gut, erst mal klein anzufangen.«

Ralfs Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Ich hab dir doch heute Morgen schon gesagt: Halte dich an mich, dann kann dir nichts passieren.«

Tim sah zu Denis, dessen Gesicht ebenso ausdruckslos war wie zuvor. »Was ist mit dir? Machst du da mit?«

Langsam, fast wie in Zeitlupe, schob Denis seinen Stuhl zurück, stand auf und sah von Ralf zu Tim. »Wobei? Aus dem Camp weglaufen? Großes Abenteuer und so?« Er stieß ein humorloses Lachen aus. »Mann, ihr habt Probleme …« Er wandte sich ab, legte sich auf sein Bett und zeigte ihnen wieder den Rücken.

»Genau, das sehe ich …«, setzte Tim an, wurde aber von Ralf unterbrochen.

Er hob die Hand und sagte: »Nein, warte. Lass uns heute Abend darüber reden, wenn die Mädels dabei sind. Ich denke, die sind für ein kleines Bergabenteuer zu haben und machen sich nicht gleich vor Angst in die Hosen.«

Tim lugte zu Fabian, doch der wich seinem Blick aus.

»Also gut«, sagte er, wieder an Ralf gewandt. »Besprechen wir es heute Abend. Aber ich kann dir jetzt schon sagen, dass das nichts ändern wird.«

»Die kleine Lena kommt vielleicht auch mit«, sagte Sebastian. »Das wirst du dir doch nicht entgehen lassen, Timmi?«

»Tu mir den Gefallen und nenn mich nicht Timmi, ja? Außerdem ist es mir egal, ob die Mädchen mitmachen.«

Im nächsten Moment musste er sich allerdings selbst eingestehen, dass das nicht stimmte und Sebastian in diesem Punkt recht hatte.