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Im Laufe des frühen Nachmittags trudelten nach und nach auch die anderen Teilnehmer ein. Tim hatte von Markus erfahren, dass rund sechzig Jugendliche die kommenden zehn Tage im Camp verbringen würden. Sie waren eingeteilt in zwei Gruppen mit unterschiedlichen Programmen und Betreuern.

Die erste Gruppe mit den Zehn-bis Dreizehnjährigen hatte dreiunddreißig Teilnehmer, die restlichen achtundzwanzig Jugendlichen waren zwischen vierzehn und achtzehn Jahre alt.

Außer Fabian und dem Schwarzhaarigen, dessen Namen Tim noch immer nicht kannte, hatten sich noch der siebzehnjährige Janik Falkenstein aus Rüdesheim und Sebastian Poss, ein großer muskulöser Sechzehnjähriger aus Erftstadt mit kurzen hellen Haaren in der Hütte einquartiert. Das Bett über dem schwarzhaarigen Jungen blieb leer.

Ein Zettel auf dem Tisch informierte sie darüber, dass um drei Uhr am Nachmittag auf der großen Wiese ein Treffen stattfand, bei dem sie das Programm für die ersten beiden Tage und alle wichtigen Informationen rund um das Leben im Camp bekommen sollten.

Janik war als Letzter angekommen und hatte sich für das Bett unter Tim entschieden. Als er gegen zwei Uhr seine Sachen im Schrank verstaut hatte, deutete er auf das zerwühlte Bett rechts hinten in der Ecke und fragte Tim, wem dieses Lager gehöre.

Der Schwarzhaarige hatte sich vor Janiks Ankunft wortlos verkrümelt und war noch nicht wieder aufgetaucht. Tim zuckte mit der Schulter. »Keine Ahnung. Er hat uns seinen Namen noch nicht verraten. Ein komischer Kauz.«

Sebastian nickte. »Das kann man wohl sagen. Ich hab mir vorsichtshalber das Bett unter Fabian genommen. Über dem Typen wollte ich nicht unbedingt schlafen.«

»Hallo Jungs, wie sieht’s aus?«, rief Ralf vom Eingang her und klatschte dynamisch in die Hände. Er ließ seinen Blick über Fabian, Sebastian und Janik wandern und hob zur allgemeinen Begrüßung eine Hand. »Hi, ich bin Ralf, ich bin zusammen mit Timmi hier angekommen. Alles okay bei euch?«

Timmi? Tim hatte es als Kind schon gehasst, wenn ihn Erwachsene so genannt hatten, weil es sich bescheuert anhörte. Mit sechzehn von einem fast Gleichaltrigen Timmi genannt zu werden, ging überhaupt nicht.

»Ähm … Ralf, nenn mich bitte nicht Timmi, okay?«

»Ralf?«, fragte der Schwarzhaarige, der gerade ebenfalls hereinkam. Er blieb vor ihnen stehen und musterte den Münchener von Kopf bis Fuß, wobei er die Hände in den Taschen seiner schmutzigen Jeans vergraben hatte. Er war sehr schmal und hatte mit etwa einem Meter fünfundsiebzig Tims Größe. Die Turnschuhe an seinen Füßen hatten an den Seiten ausgefranste Löcher und waren so abgenutzt und vergammelt, dass man die Originalfarbe nicht einmal mehr erahnen konnte.

»Was ist das denn für ein bescheuerter Name?« Kopfschüttelnd schlurfte er an allen vorbei zu seinem Bett und murmelte dabei: »Die reinste Freakshow hier. Ein Streberbubi, ein Ralf … Fuck, wo bin ich hier gelandet?«

Janik sah Tim irritiert an und wandte sich dann wieder an den Jungen. »Und wie heißt du?«

»Vergiss es«, sagte der Schwarzhaarige und ließ sich rückwärts auf sein Bett fallen.

»Was soll denn der Quatsch?« Ralf tippte sich an die Stirn. »Erst über meinen Namen ablästern und dann zu feige, den eigenen zu nennen? Na, das ist ja wahre Größe.«

»Verpiss dich«, war die knappe Antwort, dann drehte der Junge sich mit dem Gesicht zur Wand.

Ralf starrte ihn ungläubig an, gab es dann aber offensichtlich auf und strahlte zu Tim hinüber. »Habt ihr eigentlich schon mitbekommen, was gegenüber los ist? Da sind die Mädels untergebracht.«

Tim hatte bereits gesehen, dass in die beiden Hütten auf der anderen Seite des Schotterwegs Mädchen ihres Alters eingezogen waren.

»Was haltet ihr davon, wenn wir ihnen mal einen kleinen Besuch abstatten?« Ralf sah sich Beifall heischend um. Dabei fiel sein Blick auf das Bett über dem Schwarzhaarigen. »He, ist das Bett da etwa noch frei?«

»Noch, ja, aber da kommt sicher noch jemand«, sagte Tim. Er hatte nicht die geringste Lust, sich Ralfs Gerede auch noch nachts anzuhören. Doch Ralf wiegelte ab: »Das kläre ich. Falls niemand mehr kommt, ziehe ich bei euch ein. Die da drüben sind mir zu langweilig.«

Tim wunderte sich nicht darüber, dass Ralf gar nicht erst auf den Gedanken kam, sie zu fragen, ob es ihnen recht wäre, wenn er sich bei ihnen breitmachte.

Sie einigten sich darauf, sich die Mädchen bei der Infoveranstaltung auf der Wiese anzuschauen, und vertrieben sich die Zeit bis dahin mit Spekulationen darüber, was sie in den kommenden Tagen wohl alles erleben würden.

Die Wiese war schon gut gefüllt, als sie um kurz vor drei dort ankamen. Die jüngeren Teilnehmer standen auf einer Seite in Grüppchen zusammen oder rannten wild schreiend umher. Tim blieb einen Moment stehen und beobachtete sie. Er wunderte sich darüber, wie jung manche von ihnen noch waren. Seine Eltern hätten ihn mit zehn oder elf Jahren sicher nicht allein in ein Bergcamp gelassen. Aber seine Eltern waren immer übervorsichtig gewesen, als er in diesem Alter gewesen war. Er kannte ja auch den Grund dafür …

Ralf war mit den anderen im Schlepptau zielstrebig auf eine Gruppe von vier Mädchen zugesteuert und stellte sich ihnen gerade vor, als Tim sie erreichte. Die Mädchen waren etwa im gleichen Alter wie sie selbst und schienen sich zu freuen, gleich zu Anfang Kontakt zu knüpfen.

Tim betrachtete sie der Reihe nach, bis sein Blick an einer von ihnen hängen blieb. Sie war nur wenig kleiner als er und wirkte sehr sportlich. Die glatten schwarzen Haare waren in der Mitte gescheitelt und fielen ihr bis über die Schultern. Ihr Gesicht strahlte eine natürliche Fröhlichkeit aus, der sich Tim nicht entziehen konnte. Als sie den Kopf etwas zur Seite neigte und lächelnd sagte: »Hallo, ich bin Lena«, fühlte er sich ertappt, weil er sie so unverhohlen angestarrt hatte.

»Ähm … Tim«, stotterte er und spürte dieses Prickeln auf den Wangen und der Stirn. Ein sicheres Anzeichen dafür, dass sein Gesicht sich gerade dunkelrot verfärbte. Er hätte sich ohrfeigen können, weil Lena ihn jetzt für einen schüchternen Trottel halten musste.

»Hey, unser Timmi wird ja richtig rot«, sagte Ralf zu allem Überfluss und verschlimmerte die Lage noch. Er schien es zu genießen. Tim stierte ihn wütend an. »Ich hab’s dir eben schon gesagt: Hör gefälligst auf damit, mich Timmi zu nennen. Mein Name ist Tim, okay?«

Ralf hob grinsend beide Hände. »Ist ja gut, kein Grund, gleich miese Stimmung zu verbreiten.« Er klatschte in die Hände und wandte sich wieder den Mädchen zu. »Erzählt doch mal, hat eine von euch schon Klettererfahrung?«

Alle verneinten. Während Ralf sofort damit begann, sich als erfahrenen Bergsteiger anzupreisen, gesellte sich ein weiterer, etwa sechzehnjähriger Junge zu ihnen. Seine dunkelroten Haare, die ähnlich wie bei Ralf bis in die Augen hingen, bildeten einen starken Kontrast zu der kalkweißen Haut. Er hatte mindestens fünfzehn Kilo Übergewicht und wirkte insgesamt plump und unsportlich.

»Ah, da ist ja auch Lucas«, sagte Ralf, als er auf ihn aufmerksam wurde. Tim fand, dass es abfällig klang. »Er kommt auch aus München, sein Vater arbeitet als Hausmeister in unserer Klinik. Der liebe Lucas hat sich sofort dazu entschlossen, ebenfalls hier mitzumachen, als er hörte, dass ich ein paar Tage in diesem Camp verbringe. Er ist eben mit dem Zug angekommen.«

Während Tim sich fragte, warum Lucas nicht mit Ralf zusammen angereist war, nickte Lucas ihm und den anderen zu. An den Mädchen flog sein Blick hastig vorbei. Zwei von ihnen quittierten das mit Getuschel und Gekicher, woraufhin Lucas den Kopf senkte und seine Schuhe betrachtete.

Ein ohrenbetäubendes Pfeifen lenkte ihre Aufmerksamkeit in Richtung Bühne, wo sich jemand an einem Mikrofonständer zu schaffen machte. Als kurz darauf Jo auf die Bühne kam, wurde es still auf der Wiese.

Seine Ansprache dauerte etwa eine Viertelstunde, in der sie unter anderem erfuhren, dass sie in den ersten Tagen einige Erlebniswanderungen machen würden, das Klettern aber für beide Gruppen auf die kleinen Übungswände im Camp beschränkt sein sollte.

»Was soll denn der Quatsch?«, maulte Ralf und sah zu Tim hinüber. »Ich krabble doch nicht tagelang mit dem Kindergarten an diesen lächerlichen Miniwändchen rum. Die spinnen doch.«

Janik zuckte mit den Schultern. »Wenn die das so geplant haben, wirst du es nicht ändern können.«

Ralfs Miene veränderte sich auf eine seltsame Art, dann legte sich erneut ein breites Grinsen über sein Gesicht. »Das werden wir ja sehen.«

Als sie in ihre Unterkunft zurückkamen, lag der Schwarzhaarige noch immer mit dem Gesicht zur Wand auf seinem Bett. Tim wurde bewusst, dass er nicht bei der Infoveranstaltung gewesen war. Er betrachtete den Rücken des Jungen und überlegte, was er überhaupt im Camp wollte, wo ihn offensichtlich nichts interessierte und ihm alles auf die Nerven ging.

Plötzlich riss Janik ihn aus seinen Gedanken, als er ihn von der Seite mit dem Ellbogen anstieß und grinsend mit dem Kopf zur Tür deutete. Ralf stand mit zwei der Mädchen im Eingang, die sich zuvor auf der Wiese als Jenny und Julia vorgestellt hatten. Jenny war höchstens eins sechzig groß, ihre auffallend ausgeprägten Wangenknochen und die etwas schräg stehenden dunklen Augen gaben ihr ein leicht asiatisches Aussehen, was durch den Bronzeton ihrer Haut noch unterstrichen wurde. Sie hatte ein hübsches Gesicht, in dem nur der extrem hohe Haaransatz etwas störte, der die Stirn übermäßig breit erscheinen ließ.

Julia war nur unwesentlich größer, unterschied sich sonst aber stark von Jenny. Ihre hellblonden Haare fielen ihr bis weit über den Rücken und sie hatte ein helles, stark geschminktes Puppengesicht. Die eckig gefeilten Spitzen ihrer künstlichen, knallroten Fingernägel reichten weit über die Fingerspitzen hinaus, und Tim fragte sich, wie man damit im Alltag zurechtkam. Sie machte einen netten Eindruck, war alles in allem aber der Typ Mädchen, auf den sicher viele Jungs flogen, der ihm aber überhaupt nicht gefiel.

Ralf deutete selbstgefällig mit einer umfassenden Geste in den Raum. »Na, was habe ich euch gesagt? Die Hütte ist größer als eure.« An Tim und die anderen gewandt, erklärte er: »Ich war gerade mal drüben bei den Mädels. Die haben dort sogar noch weniger Platz, also treffen wir uns heute Abend hier.«

»Treffen?«, hakte Tim nach, woraufhin Ralf den Mädchen zuzwinkerte und dann nickte.

»Ja, ich habe vorgeschlagen, heute Abend ein kleines Kennenlerntreffen zu veranstalten. Glücklicherweise habe ich was zum Trinken dabei, wir müssten nur noch Cola und O-Saft zum Verdünnen besorgen.«

»Ist das denn erlaubt?«, fragte Fabian, der auf seinem Bett saß und die Beine baumeln ließ.

»Was, sich zu treffen?« Ralf hob die Schultern und sah den Jungen verwundert an. »Was soll daran nicht erlaubt sein?«

Fabian verdrehte die Augen. »Ich gehe davon aus, dass du eben gemeint hast, du hast Alkohol dabei. Was sonst sollte man mit Cola oder Orangensaft verdünnen? Ich wollte wissen, ob das erlaubt ist.«

»Natürlich nicht, Klugscheißer.« Der Schwarzhaarige hatte sich auf den Rücken gedreht und starrte die Unterseite des Bettes über sich an. »Wenn du so schlau bist, sollte dir das eigentlich klar sein. Aber ihr Streberfreaks habt eben nur Ahnung von Mathe und Physik.«

Alle Gesichter hatten sich dem Schwarzhaarigen zugewandt, und wahrscheinlich wunderte sich nicht nur Tim über den plötzlichen Redeschwall des Jungen.

»Streberfreaks können nicht nur Mathe und Physik, sondern auch rhetorische Fragen stellen, aber damit können namenlose Freaks wahrscheinlich nichts anfangen«, konterte Fabian.

Wieder einmal wunderte Tim sich über Fabians Schlagfertigkeit und nahm sich vor, sich mit ihm auf keine Diskussionen einzulassen. Julia kicherte und sagte, an Jenny gewandt: »Der ist ja süß.«

Mit einem Ruck schwang der Schwarzhaarige die Beine aus dem Bett und setzte sich auf. Sein Gesichtsausdruck ließ nichts Gutes vermuten, als er Fabian eine Weile stumm musterte. Niemand sagte ein Wort. Die Anspannung, die plötzlich im Raum herrschte, war fast greifbar. Tim überlegte schon, was sie tun sollten, wenn der Kerl sich auf Fabian stürzen würde, doch dann nickte der Junge und sagte: »Denis. Mein Name ist Denis, Klugscheißer.«

Alle glotzten Denis an, doch niemand sagte etwas, bis Tim sich ein Herz fasste. »Hallo Denis, ich bin Tim, aber das hast du ja wahrscheinlich schon mitbekommen.«

»Janik«, kam es von schräg hinter ihm, dann nannten nacheinander auch alle anderen ihre Namen. Denis hatte sich währenddessen schon wieder auf den Rücken gelegt und die Augen geschlossen.

»Na wunderbar«, sagte Ralf und schlug die Hände zusammen. »Dann kann unsere kleine Einstandsfeier mit verbotenen Getränken heute Abend ja starten.«