14
Mittlerweile war es Nachmittag. Das Unwetter tobte noch immer mit ungebremster Kraft.
Nach der Aufräumaktion hatten sich alle wieder paarweise unter ihren Decken verkrochen – in derselben Zusammenstellung wie vor der Aktion mit den Fensterläden. Die wollenen Überwürfe trockneten die nassen Kleidungsstücke zumindest ein wenig. Schlimm wurde es, wenn man die Decke zurückschlug und die kalte Luft an die klammen, warmen Sachen kam.
Einige von ihnen unterhielten sich murmelnd mit ihren Deckenmitbenutzern, andere hatten die Augen geschlossen oder starrten einfach vor sich hin. Tim beobachtete gerade die tänzelnden Schatten an der Wand, als Sebastian laut sagte: »Hey Leute, wir haben ein kleines Problem.«
»Was ist denn los?« Ralf fühlte sich offenbar angesprochen.
»Julia muss mal.«
Ralf zuckte mit den Schultern. »Hm … dann muss sie wohl rausgehen.«
»Wie soll das denn gehen? Die fliegt doch da draußen weg.«
»Hier drinnen geht’s ja wohl auch nicht.«
»Deswegen sagte ich: Wir haben ein kleines Problem.«
»Wir könnten den Raum nebenan zur Toilette machen«, schlug Fabian vor.
»Bäh«, machte Jenny. »Das ist ja ekelhaft.« Sie beteiligte sich damit zum ersten Mal seit ihrem Streit mit Janik an einem allgemeinen Gespräch. Die ganze Zeit über hatte sie sich unentwegt mit Lena unterhalten, worüber Tim nicht sehr glücklich war. Er hatte gehofft, sich bald wieder zu Lena setzen zu können, aber so wie es aussah, würde das zumindest fürs Erste nichts werden.
Fabian schüttelte energisch den Kopf. »Nein, es ist logisch. Dort drinnen ist es schmutzig und es stinkt sowieso schon. Die Kiste, in der die Decken lagen, ist leer. Die können wir als Toilette benutzen.«
»Jenny hat recht«, meinte Janik und sah Fabian, mit dem er sich eine Decke teilte, angewidert an. »Ich finde das auch ekelhaft. Vor allem, weil die Tür sich nicht schließen lässt. Da draußen ist es ungemütlich, aber wenn man sich direkt vor der Hütte aufhält, funktioniert das.«
»Nun geh schon, wenn’s so dringend ist«, sagte Sebastian zu Julia, die offenbar auch nicht von Fabians Idee überzeugt war.
»Ja, ist es auch. Aber eine Kiste … Das kann ich nicht. Ich versuch’s draußen.« Sie schlug die Decke zurück, stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Gott, ist das kalt.«
Tim dachte an Lucas und sagte: »Pass auf, wenn du die Tür öffnest.« Julia schaffte es, die Tür vorsichtig zu öffnen und hinauszuschlüpfen. Sofort heulte der Wind in die Hütte und blies zwei Kerzen aus. Und doch hatte Tim das Gefühl, dass der Sturm sich etwas beruhigt hatte. Aber vielleicht wünschte er sich das auch nur.
Es dauerte etwa drei, vier Minuten, bis Julia zurückkam. Ihre Haare, die zwischenzeitlich etwas angetrocknet gewesen waren, klebten ihr wieder in Strähnen am Kopf.
»Ich glaube, es ist ein bisschen besser geworden«, erklärte sie und warf Fabian einen trotzigen Blick zu, während sie zurück zu ihrem Platz neben Sebastian ging. »Nicht einfach, aber es geht. Jedenfalls brauchen wir keine … Kiste.«
Sie setzte sich zu Sebastian unter die Decke und begann, sich flüsternd mit ihm zu unterhalten.
»Schätze, ich habe dicken Ärger an der Backe«, sagte Denis leise zu Tim. Es kam so unerwartet, dass Tim zusammenzuckte und überrascht zu ihm hinübersah. Er konnte ihn nur schemenhaft erkennen, weil die beiden Kerzen in diesem Bereich vom Wind ausgeblasen worden waren. Ihre Ecke wurde nur von den schummrigen Ausläufern des restlichen Lichts spärlich beleuchtet.
»Was?«
»Ärger. Weißt du, was das ist?«
Wieder einmal wusste Tim nicht so recht, was Denis eigentlich wollte und wie er reagieren sollte.
»Natürlich weiß ich, was Ärger ist.«
Eine Weile sah Denis ihn abwägend an, dann schüttelte er langsam den Kopf. »Nein, weißt du nicht.«
Tim stellte fest, dass Denis die Gabe besaß, jemanden mit ein paar hingeworfenen Worten auf die Palme zu bringen. »Was willst du eigentlich, verdammt? Frag mich doch nicht, wenn du meine Antwort nicht hören willst.«
»Die vom Camp werden das hier dem Psychofritzen melden. Der stellt fest, dass ich mich nicht gebessert habe und sowieso die Idee für diesen Blödsinn nur von mir stammen kann. Dem Freak. Das war’s dann.«
»Das war’s?«
»Ja, bis ich achtzehn bin, mach ich keinen Fuß mehr aus dem Heim. Vergünstigungen gestrichen. Kein Ausgang, keine Videospiele, kein gar nichts. So läuft das, wenn man Ärger bekommt, Alter.«
Tim dachte eine Weile darüber nach. »Aber warum bist du dann überhaupt mitgegangen? Selbst wenn dieser Sturm nicht gewesen wäre, war doch klar, dass die im Camp von unserem Ausflug nicht begeistert sein werden. Du hättest also wahrscheinlich so oder so Ärger bekommen.«
»Ja.«
Tim wartete, ob eine weitere Erklärung folgen würde, doch Denis hatte wohl beschlossen, genug gesagt zu haben. Er legte die Unterarme auf die angezogenen Knie und ließ den Kopf mit geschlossenen Augen nach hinten gegen die Wand sinken. Tim tat es ihm gleich und spürte, wie schon nach wenigen Minuten die Müdigkeit ihn übermannte. Die Anstrengungen des Vormittags hatten ihre Spuren hinterlassen. Aber mit dem Gefühl der Müdigkeit kam auch gleichzeitig wieder die Angst davor, einzuschlafen. Seit Jahren schon quälte ihn diese Angst jeden Abend …
Tim ist sechs Jahre alt, als seine Mutter ihn zum ersten Mal nachts vom geöffneten Fenster im Flur wegzieht. Er hat nur dagestanden und in die Dunkelheit gestarrt, erzählt sie ihm, nachdem er verwirrt aufgewacht ist und nicht weiß, wie er zu dem Fenster gekommen ist.
Er muss aufgestanden und quer durch sein Zimmer in den Flur getappt sein. Schlafend. Dann hat er das Fenster geöffnet und mit offenen Augen nach draußen gestarrt. Noch immer schlafend.
Seine Mutter geht mit ihm zum Arzt, der sie aber beruhigt. Jedes zweite Kind sei schon mal geschlafwandelt, erklärt er. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.
Auch später, als Tim nachts immer wieder verstört irgendwo im Haus aufschreckt und in das sorgenvolle Gesicht seiner Mutter blickt, ist der Arzt noch der Meinung, es sei mit ihm alles in Ordnung. Und Tim glaubt ihm. Bis zu jener Nacht im August.
Tim ist mittlerweile zwölf und die Zahl seiner nächtlichen Ausflüge ist stark zurückgegangen. Nur noch selten kommt es vor, dass er im Wohnzimmer oder in der Küche aufwacht. Fast immer steht er dabei vor einem Fenster. Manchmal öffnet er es, ein anderes Mal starrt er durch die Glasscheibe nach draußen.
In dieser Nacht ist alles anders. Er erwacht in einem unbeschreiblichen Chaos. Schreie dringen an seine Ohren, er sieht Dinge, die er nicht einordnen kann, aus einer Perspektive, die er nicht versteht. Alles erscheint ihm durcheinander, unwirklich. Und immer wieder hört er dieses Geschrei. Ein Gesicht taucht vor ihm auf, die Augen darin sind weit aufgerissen, der geöffnete Mund gleicht einer schrecklichen, dunklen Höhle. Die Schreie kommen aus diesem Mund. Er erkennt seine Mutter. Aber warum schreit sie so?
Er scheint auf dem Boden zu liegen, schräg über ihm ist … eine Tischplatte? Neben seinem Kopf sieht er ein dazugehörendes Tischbein. Er liegt neben dem Küchentisch auf dem Boden. Da ist etwas Warmes, an seiner Seite, am Bein. Es … klebt. Er tastet danach, und plötzlich fährt ein Feuerstrahl durch seine Hüfte.
Tim hat Angst, er versteht nicht, was passiert ist. Er möchte aufstehen, aber er findet keinen Halt, er rutscht aus und sieht die Blutlache neben sich auf dem Boden. Wie kann das sein? Wie ist er …
Der Tisch dreht sich, Tim fällt rasend schnell in ein endloses Loch, alles um ihn herum explodiert in einem roten Rausch, dann wird es dunkel.
Er erwacht in einem weiß bezogenen Bett. Seine Mutter sitzt daneben auf einem Stuhl, schräg dahinter sein Vater. Beide lächeln ihn an, aber Tim spürt, dass es kein glückliches Lächeln ist.
»Hallo, mein Schatz«, sagt seine Mutter. Sie trägt einen Verband am rechten Unterarm. Tim schaut sich um und versteht, dass er in einem Krankenhausbett liegt. Seine Hüfte schmerzt.
»Was ist passiert?«, fragt er seine Mutter. Sie fängt an zu weinen. So sehr, dass sie nicht erzählen kann. Sein Vater übernimmt es für sie.
Er ist wieder einmal im Schlaf aufgestanden und nach unten gegangen. In der Küche hat er sich dann wohl ein Fleischermesser gegriffen, das auf der Spüle lag.
Tims Mutter hat ein Poltern aus der Küche gehört. Sie ist nach unten gegangen und hat Tim da stehen sehen mit dem Messer in der Hand. Sie ist entsetzt zu ihm gerannt, doch als sie ihn erreicht, schwingt seine Hand mit dem Messer herum und er schneidet seine Mutter in den Unterarm.
Sekunden später hat Tim sich das Messer selbst in die Hüfte gerammt.
»Es ist nicht schlimm«, sagt seine Mutter mit glänzenden Spuren auf den Wangen, als Tim sorgenvoll ihren Arm betrachtet. »Die Hauptsache ist, dass dir nicht mehr passiert ist.«
Aber es ist schlimm. Er hat im Schlaf seine Mutter und dann sich selbst verletzt. Er hat keine Kontrolle darüber gehabt, kann sich nicht einmal daran erinnern.
Sie gehen zu Psychologen, Psychiatern. Sie stellen alle möglichen Dinge mit ihm an, hypnotisieren ihn, stellen eine Million Fragen, und alle sagen, es kommt wahrscheinlich nicht wieder vor. Wahrscheinlich. Es kommt auch nicht wieder vor. Kein einziges Mal mehr. Nicht so. Ganz selten noch steht er vor dem Fenster, aber auch das hört irgendwann auf. Und doch – von diesem Tag an hat Tim Angst vor dem Einschlafen. Er weiß jetzt, sein Schlaf kann gefährlich sein.