20
Augenblicke nachdem sie die Hütte verlassen hatten, waren sie erneut nass bis auf die Knochen.
Denis sah bemitleidenswert aus, als der Wind die dünne, nasse Jacke gegen seinen dürren Körper drückte, und Tim hätte ihm am liebsten vorgeschlagen umzukehren, aber er wusste, dass er sich damit bestenfalls einen dummen Spruch eingefangen hätte. Also ließ er es bleiben.
Sie verständigten sich schreiend darüber, wer sich welchen Abschnitt vornehmen sollte. Sebastian und Janik beschlossen, die Suche nach Ralf auf der Seite der Hütte zu beginnen, an der das Holz gestapelt war. Falls die Blutflecke auf den Scheiten tatsächlich von Ralf stammten, lag die Vermutung nahe, dass er dort zumindest vorbeigekommen war.
Was kaum euer einziger Grund sein dürfte, dachte Tim bitter. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihm noch immer nicht hundertprozentig über den Weg trauten. Daher war es logisch, dass sie ihn nicht dort suchen ließen, wo sie Ralf vermuteten – am Ende würde Tim Denis absichtlich in eine falsche Richtung lotsen.
Tim schob diese Gedanken beiseite und machte einen ersten Schritt aus dem geschützteren Bereich vor der Hütte weg. Sogleich schien es, jemand würfe sich mit Schwung von hinten gegen ihn. Er wurde nach vorn gedrückt und konnte gar nicht anders, als einen Fuß vor den anderen zu setzen, wenn er nicht stürzen wollte. Tim dachte an Denis, der mindestens fünfzehn Kilo leichter war als er selbst, und drehte sich nach ihm um, während er weiter vorwärtsgetrieben wurde. Denis war etwa zwei Meter hinter ihm und hielt sich besser, als Tim befürchtet hatte.
Also konzentrierte er sich wieder auf seine eigenen Füße. Er musste darauf achten, wohin er trat, denn überall lagen Holzstücke, Äste, Wurzeln und Steine herum.
Nach vierzig, fünfzig Metern erreichte er einen kleinen Fels von etwa zwei Meter Höhe, an dem er sich festhalten und auf Denis warten konnte. Es war fast unmöglich, den Kopf zu heben, weil sein Gesicht sofort von Regentropfen und kleinen herumfliegenden Gegenständen malträtiert wurde.
Als Denis ihn erreicht hatte, deutete er nach links. Tims Blick folgte dem ausgestreckten Arm, dann sah er, was Denis meinte. Einige Meter von ihnen entfernt tat sich eine Schlucht auf, an der sie auf dem Hinweg nicht vorbeigekommen waren. Tim nickte Denis zu und drückte sich von dem Fels ab. Nun kam der Wind von der Seite, und sie hatten alle Mühe, die Richtung beizubehalten.
Etwa drei, vier Meter vor der unregelmäßigen Kante der Klamm blieb Tim stehen. Sie durften sich nicht zu nah an den Rand wagen, sonst konnte ein kräftiger Windstoß sie in den Abgrund stürzen.
Als Denis ihn erreicht hatte, suchten sie gemeinsam die Schlucht ab, soweit sie sie einsehen konnten.
Als eine heftige Windböe Denis erfasste und vorwärtsstolpern ließ, bekam Tim ihn gerade noch an der Jacke zu fassen. Er rammte einen Fuß gegen einen Stein auf der Erde und stemmte sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen den Sturm. »Ganz schön gefährlich!«, schrie er Denis zu, als er ihn zurückgezogen hatte. Der nickte und klopfte ihm dankbar auf die Schulter.
Tim überlegte, dass man diese Schlucht in der Nacht und bei dem Sturzregen entweder gar nicht oder viel zu spät sehen würde. Wenn man dazu noch betrunken war … Aber sie konnten nichts tun, solange es dermaßen wütete. Es wäre Wahnsinn gewesen, sich bei diesem Wetter näher an den Rand des Abgrundes zu wagen. Die Klamm zu umrunden, kam auch nicht infrage, denn sie erstreckte sich scheinbar endlos zu beiden Seiten. Irgendwo würde es vielleicht eine Brücke geben, aber danach konnten sie bei diesem Unwetter nicht suchen.
Sie verständigten sich darauf, zurückzugehen und noch ein wenig zu beiden Seiten des Weges zu suchen, den sie gekommen waren.
Es waren etwa fünfundzwanzig bis dreißig Minuten vergangen, als sie die Hütte endlich wieder vor sich hatten. Tim fühlte sich wie nach einem Marathonlauf und stellte sich vor, wie unglaublich anstrengend es sein musste, unter diesen Bedingungen einen längeren Weg zurückzulegen. Der Gedanke daran erzeugte ein mulmiges Gefühl in ihm.
Wo auch immer Ralf zu diesem Zeitpunkt steckte, die Chancen, dass es ihm gut ging, standen nach Tims Vorstellung nicht sehr gut. Was zum Teufel war geschehen und wo mochte Ralf sein?
Von Sebastian und Janik war nichts zu sehen. Entweder sie waren schon in der Hütte oder sie suchten noch immer. Oder hatten sie Ralf vielleicht sogar gefunden?
Hatten sie nicht. Als Tim und Denis sich durch einen möglichst schmalen Türspalt in die Hütte drückten, saßen die beiden schon mit Decken über den Schultern da und erzählten, was sie erlebt hatten. Es unterschied sich kaum von ihren Erlebnissen mit Ausnahme der Schlucht. Nachdem auch Tim und Denis wieder halbwegs zu Atem gekommen waren, erzählte Denis von ihrer Entdeckung.
»Und ihr konntet nicht sehen, ob da unten jemand liegt?«, erkundigte sich Janik.
Tim schüttelte energisch den Kopf. »Nein, unmöglich. Der Wind kam von schräg hinten, wir konnten uns kaum auf den Füßen halten. Um da runterschauen zu können, hätten wir bis zum Rand gehen müssen. Das wäre lebensgefährlich gewesen.«
»Ihr hättet euch gegenseitig festhalten können«, sagte Sebastian abfällig.
Tim hatte es satt, dass alles, was er sagte oder tat, von Sebastian auf diese Art kommentiert wurde.
»Gut. Dann schlage ich vor, wir gehen jetzt zusammen wieder da raus.« Demonstrativ machte er einen Schritt auf den Eingang zu und deutete mit dem ausgestreckten Arm darauf. »Ich zeige dir den Weg und warte ein paar Meter vor dem Abgrund, während du bis zum Rand vorgehst und nachsiehst.«
Als Sebastian sich nicht regte, sagte Tim eine Spur schärfer: »Na, was ist? Worauf wartest du, du Maulheld? Vielleicht nimmst du Janik mit, damit ihr euch aneinander festhalten könnt?«
Ihm war klar, dass es dämlich war, einen weiteren Streit vom Zaun zu brechen, aber das war ihm egal. Viel schlimmer konnte die Situation ohnehin kaum noch werden. Sollte Sebastian sich doch auf ihn stürzen. Wenn Tim ihm jetzt nicht ein für alle Mal klarmachte, dass er so nicht mit sich umspringen ließ, würde der Kerl bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf ihm herumhacken.
Aber Sebastian stürzte sich nicht auf ihn. Tim sah ihm deutlich an, wie sehr er sich beherrschen musste, aber er rührte sich nicht. Er sah die anderen der Reihe nach an und erkannte wohl in ihren Gesichtern, dass es nicht klug gewesen wäre, Tim anzugreifen.
Also verzog er das Gesicht zu einem schiefen Grinsen und sagte gönnerhaft: »Ja, ja, ist ja schon gut.«
Tim entspannte sich und konnte förmlich spüren, dass es fast allen anderen ebenso erging.
»Dann wissen wir also immer noch nicht, was mit Ralf passiert ist«, sagte Julia und biss in etwas, das Tim nicht identifizieren konnte. Der Anblick erinnerte ihn aber daran, dass er seit dem Vorabend noch nichts gegessen hatte. Dann fiel ihm ein, dass er selbst da nach dem Ärger um den Inhalt seines Rucksacks das Essen komplett vergessen hatte. Seine letzte Mahlzeit lag also schon über vierundzwanzig Stunden zurück. Hunger empfand er keinen, was ebenso an der Situation liegen mochte, in der sie sich befanden, wie an dem Alkoholkonsum des vergangenen Abends. Trotzdem machte er sich Gedanken darüber, was passieren würde, wenn dieser Sturm noch lange so weiterwütete. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Unwetter hier oben mehrere Tage anhalten würde. Aber eines, das nun schon fast vierundzwanzig Stunden mit nahezu unverminderter Kraft tobte, hätte er bisher auch nicht für möglich gehalten.
»Getürmt«, war Denis’ pragmatischer Beitrag.
»Mir ist kalt«, stellte Janik fest und sah sich nach einer Decke um. Tim fror ebenfalls und hielt es für eine gute Idee, als Lena vorschlug, sich wieder zu zweit nebeneinanderzukuscheln.
»Einen Vorteil hat Ralfs Verschwinden ja«, sagte Janik, während er sich ganz selbstverständlich wieder zu Fabian setzte. »Unsere liebe Jenny kann eine Decke für sich alleine haben.«
Jennys einzige Reaktion war ein kurzer Blick, den sie Janik zuwarf, aber selbst der erschien Tim absolut emotionslos.
Julia ging zu dem Platz, an dem Ralf gesessen hatte, und griff sich die Decke, die dort noch immer lag. Anscheinend hatte Lucas sich ihre übergehängt. Sie griff danach und hob sie auf. Dann stieß sie einen gellenden Schrei aus und stierte vor sich auf den Boden.
Tim schrak zusammen und betrachtete die Stelle, auf die Julia eben noch geblickt hatte. Nun sah sie mit angstgeweiteten Augen ihn an.
Als er entdeckte, weswegen sie so geschrien hatte, erstarrte auch er.