22

Das Fach war leer. Sein Messer war verschwunden, und das ausgerechnet in dieser Situation. Aber – war es gestohlen worden oder …?

Denk daran, was sich vor ein paar Jahren in der Küche abgespielt hat, meldete sich wieder diese Stimme in ihm.

Damals war auch ein Messer im Spiel. Und du hast deine Mutter damit verletzt. Und dich. Auch damals warst du voller Blut und hast nicht gewusst, wo es herkommt.

Du weißt, dass es möglich ist.

»Na?«, machte Sebastian hinter ihm. »Jetzt erzähl uns bloß nicht, es ist nicht mehr da.«

Tim drehte sich langsam um, alle Augen waren auf ihn gerichtet, und noch mehr als zuvor spürte er, dass mit Ausnahme von Lena die gesamte Gruppe gegen ihn war. Mehr noch, in einigen Gesichtern glaubte er regelrechte Feindseligkeit zu erkennen.

Denis konnte er nicht sehen, allerdings wäre es Tim wahrscheinlich sowieso unmöglich gewesen, in seinem Gesicht abzulesen, was er dachte.

»Ich …«, stammelte er. Sein Mund war mit einem Mal staubtrocken, sein Hals kratzte. Er musste sich mehrmals räuspern. »Ich weiß nicht, wo das Messer ist. Es ist … verschwunden. Jemand muss es rausgenommen haben.«

»Ja, ganz bestimmt hat es jemand da rausgenommen.« Sebastian machte einen Schritt auf ihn zu und sah sich nach beiden Seiten um, als müsse er sich vergewissern, dass die anderen hinter ihm standen. »Sag mal, Timmi, für wie dämlich hältst du uns eigentlich? Ich denke, es ist an der Zeit, dass du mit der Wahrheit herausrückst. Falls es Ralf noch halbwegs gut geht, haben wir dann wenigstens die Chance, ihm zu helfen. Also: Was hast du mit ihm gemacht und wo ist er?«

Tim war nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen. Er starrte Sebastian einfach nur an, ohne ihn wirklich zu sehen. Sein Verstand lief auf Hochtouren. Er zermarterte sich den Kopf, versuchte, sich dazu zu zwingen, sich zu erinnern, was in der letzten Nacht geschehen war. Manchmal hatte es früher einzelne Bilder gegeben, wenn er nach einem nächtlichen Ausflug am Morgen aufgewacht war. Nicht immer hatten diese Bilder ihm Dinge gezeigt, die er tatsächlich erlebt hatte. Oft waren es auch Fragmente aus Träumen gewesen, bizarr und verstörend. Manchmal aber waren es echte Erinnerungen gewesen – wenn er in kurzen Wachphasen während des Schlafwandelns zumindest Teile seiner Umgebung wahrgenommen hatte. Wenn es ihm doch nur gelänge, sich an Eindrücke der letzten Nacht zu erinnern.

Das Verrückte war, er spürte deutlich, dass da etwas war. Er hatte nicht die ganze Nacht durchgeschlafen, das wusste er genau. Aber bedeutete das, er hatte etwas mit Ralfs Verschwinden zu tun? Er konzentrierte sich auf die Zeit, bevor er eingenickt war. Ihre Diskussionen, der Streit zwischen ihm und Ralf, die Sache mit Lucas, dann Sebastians Handgemenge mit Ralf …

»Hast du verstanden?« Die Gestalt vor Tim nahm Formen an; Sebastians Gesicht schälte sich aus einem grauen Nebel heraus.

»Was?«, fragte Tim und schüttelte den Kopf, um schneller aus seiner Gedankenwelt aufzutauchen.

Sebastian verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich noch breitbeiniger hin. »Drehst du jetzt völlig ab oder was? Also noch mal: Ich habe gesagt, solange wir nicht wissen, was letzte Nacht gelaufen ist, werden wir dich im Auge behalten. Ich hab keine Lust, dass du abhaust.«

»Abhauen?« Tim konnte nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. »Hast du den Verstand verloren? Wo soll ich denn hin bei dem Wetter?«

»Keine Ahnung, aber du denkst dir vielleicht, es ist besser, das Risiko einzugehen, durch den Sturm zu laufen, als später bei den Bullen zu landen.«

»Jetzt fängst du aber langsam wirklich an zu übertreiben«, fuhr Lena Sebastian barsch an. »Das ist ja lächerlich. Was denkst du eigentlich, wer du bist? Willst du dich hier als Polizist aufspielen? Ausgerechnet du?«

»Einer muss dafür sorgen, dass unser Freund Timmi nicht türmt, bis wir wissen, was mit Ralf los ist.«

»Freak«, kam es trocken aus Denis’ Ecke.

Sebastian fuhr herum. »Halt du dich raus! Der einzige Freak hier bist ja wohl du. Abgesehen von Tim.«

»Sicher«, antwortete Denis und rutschte mit dem Rücken noch tiefer an der Wand hinunter. »O Mann. Und ich dachte immer, ich lebe im Heim unter Idioten.«

»Pass bloß auf, was du sagst, sonst …«

»Sonst?«, unterbrach Tim Sebastian und zog damit seine Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Sonst gehst du ihm an die Gurgel? So wie Ralf in der letzten Nacht?«

Sie standen sich gegenüber und starrten sich an. Wie lange, konnte Tim nicht einschätzen. Waren es fünf Sekunden, zehn …? Irgendwann zog Lena an Tims Hand und sagte: »Wir wollten uns doch hinsetzen und die letzte Nacht durchgehen. Jeder wollte erzählen, wie er die Nacht verbracht hat. Das sollten wir jetzt tun. Vielleicht sehen wir danach etwas klarer.«

»Wozu denn noch?«, warf Sebastian ein. »Das ist doch jetzt überflüssig. Es ist klar, was passiert ist.«

»Ach?«, sagte Janik hinter ihm. »Mir ist das noch nicht ganz klar. Erzähl mal.«

Tim wunderte sich, dass der Einwand ausgerechnet von Janik kam, und auch Sebastian war sichtlich irritiert.

»Wie jetzt? Zweifelst du etwa noch daran, dass der Kerl hier was mit den Blutflecken und Ralfs Verschwinden zu tun hat?«

»Ich wundere mich vor allem darüber, wie du dich hier aufspielst«, entgegnete Janik. »Dein Interesse daran, Tim auf die Schnelle die Schuld an allem zu geben, ist schon ziemlich auffällig. Setzen wir uns. Und ich schlage vor, du fängst damit an, von deiner Nacht zu erzählen.«

»Warum hackst du jetzt auf Sebastian rum?«, mischte sich nun auch Julia ein. »Um ihn geht es nicht.« Wieder sah sie Tim mit diesem seltsamen Blick an, und als er ihm standhielt, schlug sie die Augen nieder und drückte sich näher an Sebastian.

»Von mir aus«, zischte der abfällig und setzte sich an der gleichen Stelle im Schneidersitz auf den Boden, an der er auch am Abend zuvor schon gesessen hatte. Julia zog er einfach mit sich, sodass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als sich ebenfalls zu setzen. »Aber ich weiß nicht, wie viele Beweise ihr noch braucht, bis ihr endlich kapiert, was offensichtlich ist.«

Als sie nebeneinandersaßen und Lena die Decke über seine und ihre Schultern legte, fiel Tim erst wieder auf, wie sehr er fror. Sein Blick fiel auf Fabian. Erschrocken stellte er fest, dass der Vierzehnjährige sogar noch schlimmer aussah als zuvor. Er war leichenblass und die Haare klebten ihm in der Stirn. Er war nicht draußen gewesen, also konnte das nicht vom Regen stammen. Der Anblick war so elend, dass er Tim ehrlich leidtat.

»Was ist mit dir, Fabian?«, fragte er.

Fabian hustete mehrmals hintereinander. Es hörte sich trocken an. »Schätze, die nassen Klamotten sind mir nicht bekommen. Ich bin da etwas empfindlich. Fieber und so.«

Jenny, die Fabian am nächsten stand, ging zu ihm. Als sie sich hinabbeugte und ihm die flache Hand auf die Stirn legte, riss sie die Augen auf und sagte: »Ach du meine Güte, du glühst ja!«

»Ich weiß. Mir geht’s auch nicht so gut.«

Da tauchte plötzlich Denis auf und ging zu Fabian. In der Hand hatte er eine Wasserflasche, und Tim fragte sich, wem sie wohl gehörte. Denis selbst hatte keine mitgenommen. Neben Fabian ließ er sich auf den Boden sinken und hielt dem Vierzehnjährigen die Flasche hin. »Hier, du musst viel trinken.« Fabian sah ihn dankbar an und nahm das Wasser entgegen.

»Hey, ist das nicht meine Flasche?«, rief Sebastian empört.

Doch Denis winkte ab, ohne ihn auch nur anzusehen. »Stell dich nicht an, da draußen gibt’s Wasser genug.«

»Also wie war das nun letzte Nacht?«, wollte Janik von Sebastian wissen.

Eine Weile war nur das Tosen und Jaulen des Sturms zu hören, dann atmete Sebastian geräuschvoll aus. »Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich war ziemlich betrunken und hab mich zum Schlafen hingelegt. Irgendwann bin ich aufgewacht, da haben alle anderen aber gepennt. Ich hab mich wieder hingelegt und weitergeschlafen. Das war’s. Mehr gibt es nicht zu erzählen.«

»War Ralf noch da, als du aufgewacht bist?«, wollte Lena wissen.

»Keine Ahnung, hab ich nicht drauf geachtet.«

»Das ist komisch. Sagtest du nicht gerade, alle anderen haben geschlafen, als du aufgewacht bist? Wie kannst du das wissen, wenn du nicht einmal weißt, ob Ralf überhaupt in der Hütte war?«

Müde hörte Tim dem Gespräch zu. Er fühlte sich so matt und antriebslos, dass er nicht einmal den Kopf hob, sondern einfach nur auf den Boden vor sich starrte und froh war, dass er sich fürs Erste nicht irgendwem gegenüber rechtfertigen musste. Seine Gedanken schweiften immer wieder ab und beschäftigten sich mit Dingen, die schon einige Jahre zurücklagen und doch plötzlich wieder so präsent waren.

Lange Zeit hatte er jetzt Ruhe gehabt. Diese furchtbare Sache damals in der Küche war zwar nicht das letzte Mal gewesen, dass er nachts aus seinem Bett gestiegen war, aber danach kam es nur noch selten vor und war immer nur harmlos gewesen. Und der jüngste Vorfall war auch schon fast zwei Jahre her. Tim hatte gehofft, das alles endlich hinter sich zu haben, und war auch guter Dinge gewesen, nachdem ihm zwei Ärzte versichert hatten, alles liege innerhalb der Norm. Alles sei normal, sofern das Schlafwandeln als Jugendlicher aufhöre. Und so, wie es aussehe, sei das bei ihm der Fall. Kein Grund also, sich weiterhin Sorgen zu machen. Und die Sache damals in der Küche … Auch darüber solle er sich keine Gedanken mehr machen. Er habe das Messer nicht als Waffe erkannt und benutzt, sondern es einfach unbewusst gegriffen, als er in die Küche gekommen sei. Es hätte ebenso eine Banane sein können, das hätte in diesem Zustand für ihn keinen Unterschied gemacht. Als seine Mutter dazukam und ihn mit dem Messer gesehen hat, da habe sie wohl aufgeschrien, wovon Tim erschrocken sei. In der Verwirrung des plötzlichen Aufwachens habe er dann mit den Händen um sich geschlagen und seine Mutter und sich selbst dabei mit dem Messer verletzt, das leider keine Banane gewesen war, meinte der Arzt.

Tim sah auf und versuchte sich auf das zu konzentrieren, was um ihn herum geschah. Schließlich ging es darum, herauszufinden, ob jemand Ralf etwas angetan hatte.

Gerade hatte Janik erklärt, durchgeschlafen und nichts mitbekommen zu haben, und Lucas aufgefordert, seinen nächtlichen Streit mit Ralf genau zu beschreiben.

»Na ja, wir hatten eigentlich zusammen unter einer Decke gesessen, aber als Ralf eingeschlafen ist, hat er sich alleine darin eingewickelt. Ich bin irgendwann wohl eingepennt. Als ich wach wurde, haben einige von euch geschnarcht. Ich glaube, gepennt haben alle. Ralf auch. Mir war schweinekalt und ich hab gezittert wie verrückt. Da hab ich versucht, die Decke unter Ralf rauszuziehen, wenigstens ein kleines Stück, aber der hat sich so darin eingenistet, dass das nicht ging. Ich war sowieso sauer auf ihn, weil ich keine Lust mehr hatte, seinen Diener zu spielen. Und weil er so egoistisch ist und mir so mistig kalt war, hab ich ihn ziemlich fest zur Seite gestoßen.«

»Könnte Ralf sich dabei verletzt haben?«, unterbrach Janik ihn.

Lucas verneinte. »Er wurde wach und ist mir gleich an die Gurgel gegangen. Und da war er nicht verletzt. Da war auch kein Blut oder so.«

Er stockte, beugte sich zur Seite und wühlte in seinem Rucksack. Alle sahen ihm gespannt dabei zu, und wahrscheinlich war nicht nur Tim enttäuscht, als er lediglich seine Wasserflasche herauszog und einen Schluck trank. Nachdem er sie neben sich abgestellt hatte, erzählte er weiter. »Ja, wie gesagt, Ralf ist ziemlich auf mich losgegangen. Er war noch total blau und hat eklig aus dem Mund gerochen. Ich hab ihm gesagt, dass ich nicht mehr den Idioten für ihn mache. Und dass ich meinem Vater erzähle, dass Ralf mich immer erpresst hat.«

»Das habe ich gestern Abend schon nicht verstanden«, sagte Jenny. »Womit genau hat er dich erpresst?«

»Mit dem Job meines Vaters. Er ist Hausmeister in der Klinik von Ralfs Vater. Ralf sagt, er weiß, dass mein Vater da irgendwas geklaut hat. Aber dass sein Vater nix davon weiß. Bis jetzt. Jedes Mal, wenn Ralf was von mir will und ich mich weigere, droht er damit, meinen Vater zu verpetzen. Dann wäre er seinen Job los und würde auch nie mehr einen bekommen.«

»Geklaut?«, fragte Lena. »Und? Hältst du das für möglich?«

Lucas hob die Schulter. »Weiß nicht. Schwer zu sagen. Mein Vater hatte noch nie Probleme mit der Polizei. Aber ist eigentlich auch egal. Wenn Ralf das seinem Vater erzählt, ist klar, was passiert. Ob mein Vater wirklich was angestellt hat oder nicht.«

»Und wie hat Ralf reagiert, als du ihm klargemacht hast, dass du nicht mehr nach seiner Pfeife tanzt?«

»Er meinte, dann soll ich schon mal anfangen, für meinen Alten einen neuen Job zu suchen.«

»Und dann?«, wollte Sebastian wissen.

Lucas zögerte. »Ich … na ja, ich hab gesagt, wenn er das wirklich macht, dreh ich ihm den Hals um.«