27

Etwas zog an ihm, jemand rüttelte an seinem Arm. Mit einem Ruck zog Tim ihn weg. Er war so unendlich müde, er wollte nicht aufwachen. Hatte er den Wecker nicht gehört und verschlafen? Musste er schon aufstehen?

»Lass mich«, nuschelte er, doch im gleichen Moment wurde sein Geist klar. Er lag nicht zu Hause in seinem Bett, sondern auf dem harten Boden einer Berghütte. Der Sturm, Ralf, das Messer …

Er riss die Augen auf und erschrak. Nur Zentimeter vor seinem Gesicht starrte ihm Sebastian entgegen. »Er ist wach«, stellte er fest, während er Tim unentwegt anstierte. »Na los, beweg dich.«

Tim versuchte sich aufzurichten, aber er knickte ein und schlug hart auf dem Boden auf. Alles tat ihm weh.

Im zweiten Anlauf gelang es ihm schließlich, sich aufrecht hinzusetzen.

Er blickte sich in der Hütte um, und es fiel ihm sofort auf, dass etwas anders war als zuvor. Die anderen hockten zusammen in der Mitte der Hütte, ausnahmslos alle begutachteten ihn, selbst Denis. Aber das war es nicht, was Tim irritierte.

Es war so … still. Wirklich, richtig still. Nur ein leises, sanftes Prasseln war zu hören. Regen. Aber eine Art von Regen, die nichts mit dem zu tun hatte, was sie seit dem Vortag erlebt hatten. Und noch etwas fiel ihm auf: Das Licht hatte sich verändert. Der gelbliche, stets flackernde Schein war verschwunden und durch eine andere Art von Licht ersetzt worden. Nicht heller, im Gegenteil, die Konturen der anderen waren nicht klar erkennbar, und doch … Tageslicht. Allerdings äußerst trüb. Das musste an den Wolken liegen oder es war schon wieder recht spät.

Jetzt bemerkte Tim auch einen unangenehmen kalten Luftzug, der ihn frösteln ließ. Er kam vom Fenster. Die anderen hatten die Holzläden geöffnet, sodass dämmriges Tageslicht ebenso in die Hütte strömen konnte wie der kühle Wind und ein paar Regentropfen.

Dann begriff Tim: Der Sturm hatte nachgelassen.

Endlich.

Tim konnte die Erleichterung körperlich fühlen, die diese Erkenntnis mit sich brachte.

War es vorbei? Wurde jetzt alles gut?

Schon einen Herzschlag später wurde ihm klar, dass nichts vorbei und nichts gut war. Im Gegenteil. Wenn das Unwetter sich endlich ausgetobt hatte, würden sie wahrscheinlich bald erfahren, was mit Ralf geschehen war. Was bedeutete, dass Tims schlimmster Albtraum zur Gewissheit werden könnte.

»Wann hat der Sturm nachgelassen?«, fragte er an Janik gewandt, der schräg vor ihm auf dem Boden saß.

»Etwa vor zehn Minuten. Ging ganz schnell. Plötzlich war Ruhe.«

»Wie spät ist es?«

»Halb zehn.«

»Schon? Dann hab ich ja stundenlang geschlafen.«

»Ja, und du hast es sogar geschafft, dabei niemanden abzumurksen«, kam es von der anderen Seite.

Tim nahm sich vor, Sebastian ab sofort keinerlei Beachtung mehr zu schenken. Er durfte sich von ihm nicht provozieren lassen. Damit würde er ihn nur darin bestätigen, gewalttätig zu sein.

Tim dachte an Fabian und sah zu ihm. Der Vierzehnjährige war der Einzige, der lag. Er war in zwei Decken gehüllt, während Denis entweder noch immer oder schon wieder neben ihm hockte.

»Wie geht’s ihm?«, wollte Tim wissen.

»Fieber, ziemlich hoch«, antwortete Denis und betrachtete Fabian nachdenklich. »Und er quatscht Blödsinn. Aber das macht er ja die ganze Zeit.«

Tim überlegte, dass sie Fabian auf jeden Fall tragen müssten, wenn sie die Hütte verließen. Wenn sie die Hütte verließen …

Tim sah sich um, suchte Lena. Sie saß auf einem der Holzschemel und schien ihn die ganze Zeit über beobachtet zu haben. Er ignorierte Sebastian, der noch immer vor ihm hockte und zurückweichen musste, damit Tim ihn nicht umstieß.

Nachdem er seine schmerzenden Muskeln gedehnt hatte, ging er zu Lena hinüber. Als er sie erreicht hatte, drehte er sich zu den anderen um: »Könnt ihr mal aufhören, mich anzustarren?«

»Man sieht halt selten einen Psychopathen in freier Wildbahn«, ätzte Sebastian von der Ecke aus.

Tim ließ es an sich abprallen und spürte, dass er tatsächlich darüber hinaus war, etwas auf Sebastians Worte zu geben. Sebastian war ein Neandertaler, er war nicht wichtig. Lena war wichtig. Tim blickte sie an. »Wir werden die Hütte jetzt bald verlassen können.«

»Leider noch nicht«, sagte sie traurig. »Es wird bald dunkel. Das wäre zu gefährlich. Wir werden bis morgen früh warten müssen.«

Tim nickte, das hatte er sich auch schon gedacht. Trotzdem erschien alles gleich weniger schlimm. Immerhin konnten sie nun sicher sein, dass sie aus dieser Bruchbude wieder heraus und runter von dem Berg kommen würden. Alles andere würde sich zeigen. Auch wenn Tim Angst vor dem hatte, was sich zeigen könnte.

Lena schien ebenfalls Angst zu haben, das las er an ihren Augen ab.

Als sie seinem fragenden Blick auswich und zu Sebastian und Janik linste, verstand er, wovor sie sich fürchtete. Davor, dass sie eine weitere Nacht in der Hütte verbringen mussten. Mit ihm.

»Lena, ich … denkst du, ich könnte dir etwas antun?«, fragte er leise.

Ihr Kopf ruckte herum. »Was? Nein, niemals. Es ist nur …«

»Ich möchte die Schlucht sehen«, fiel Sebastian ihr ins Wort, während er auf die beiden zukam. »Der Sturm ist vorbei, also können wir jetzt nachsehen, ob wir Ralf dort irgendwo finden. Janik kommt mit. Und du zeigst uns den Weg.« Dabei zeigte er auf Tim.

Der warf Lena einen schnellen Blick zu und schüttelte dann energisch den Kopf. »Ich lasse mir von dir nicht befehlen, was ich zu tun habe.«

»Ach, du willst uns also nicht zeigen, wo die Schlucht ist? Das ist ja spannend. Kann es sein, dass du Angst hast, wir könnten Ralf dort finden? Und sehen, was mit ihm passiert ist?«

Wieder sah Tim zu Lena, doch sie wich seinem Blick aus. Glaubte sie etwa auch …?

»Das finde ich allerdings auch seltsam«, stellte Janik sich auf Sebastians Seite. »Ralf könnte sich ja genauso gut draußen verirrt haben und in die Schlucht gestürzt sein. Und du zeigst uns nicht, wo sie ist? Was soll ich denn davon halten?«

»Aber … darum geht es doch überhaupt nicht. Natürlich möchte ich, dass Ralf gefunden wird.«

Sebastian verschränkte die Arme vor der Brust. »Ach, worum geht es denn sonst?«

»Hörst du nicht zu, verdammt? Ich lasse mich von euch doch nicht rumkommandieren. Außerdem weiß Denis auch, wo die Schlucht ist.«

»Vielleicht ist Ralf wirklich dort verunglückt und ihr könnt ihm helfen«, stimmte Lena Janik zu. »Dann wäre bewiesen, dass du nichts mit seinem Verschwinden zu tun hast. Zeig ihnen doch einfach, wo die Schlucht ist.«

Tim sah sie lange an und versuchte zu erkennen, was sie wirklich dachte. Glaubte sie tatsächlich daran, dass Ralf einen Unfall gehabt hatte? Oder zweifelte sie insgeheim an Tims Unschuld? Sie auch?

»Na gut, ich komme mit.« Tim sah Erleichterung in Lenas Gesicht. Zu gern hätte er gewusst, was in ihrem Kopf vorging.

»Na also. Dann los, es wird gleich dunkel.« Janik wandte sich ab und ging zur Tür. Sebastian wartete, bis Tim an ihm vorbei war, und folgte ihm anschließend nach draußen.

Vor der Hütte blieb Tim stehen, legte den Kopf in den Nacken und ließ sich ein paar Sekunden lang die feinen Regentropfen ins Gesicht rieseln, die er dann mit der Hand verrieb.

Als sie loszogen, hatten Janik und Sebastian ihn in die Mitte genommen.

»Hier ist es«, sagte Tim überflüssigerweise, als sie nach wenigen Minuten die Schlucht erreicht hatten, und blieb kurz vor der Kante stehen.

Sebastian und Janik kamen näher und gingen zusammen mit Tim auf den Rand zu, wobei Sebastian darauf achtete, dass einige Meter zwischen ihm und Tim lagen.

Er hat Angst vor mir, dachte Tim. Er glaubt, ich würde ihn da runterstoßen, wenn er mir zu nahekommt.

Seltsamerweise machten diese Gedanken ihm nichts mehr aus. Bei jemand anders hätten sie das vielleicht, wahrscheinlich sogar bei Janik. Aber bei Sebastian …

Der Abhang war an dieser Stelle nicht so steil, wie Tim gedacht hatte, doch als er seinen Fuß ganz nahe der Kante absetzte, gab der Boden etwas nach. Wind und Dauerregen hatten alles aufgeweicht. Auch Sebastian und Janik schienen es bemerkt zu haben, denn Sebastian ging in die Knie und krabbelte vorsichtig bis ganz nach vorn.

Nach einer Weile tat Janik es ihm gleich. Tim wagte den vorsichtigen Blick in die Tiefe im Stehen. Während seine Augen den steilen Hang absuchten, hämmerte sein Herz wie verrückt. Was, wenn sie Ralf tatsächlich irgendwo dort entdeckten? Was, wenn er eine … Stichwunde hatte?

Sie fanden Ralf nicht. Nach etwa zehn Minuten gaben sie es auf, denn es dämmerte bereits, und auch wenn das Wetter sich erheblich gebessert hatte, wäre selbst der kurze Rückweg bei Dunkelheit gefährlich gewesen.

Tim war ein wenig erleichtert.

In der Hütte hatten die anderen sich schon für die Nacht eingerichtet. Die Holzläden hatten sie wieder geschlossen. Überall waren brennende Kerzen verteilt und erfüllten den Raum mit warmem Licht. Wieder musste Tim daran denken, dass es fast gemütlich gewirkt hätte, wenn die Umstände anders gewesen wären.

Besonders für ihn.