28
Die Stimmung war sehr gedrückt. Alle versuchten, Gespräche um Ralfs Verschwinden zu vermeiden. Sogar Sebastian hielt sich zurück. Sie flüchteten sich in Belanglosigkeiten, erzählten unwichtige Einzelheiten aus ihrem Leben und umschifften dabei – vielleicht sogar unbeabsichtigt – sämtliche Themen, die auf irgendeine Art lustig hätten sein können. Es ging um Schule und blöde Lehrer, um übertrieben strenge Eltern und Fernsehsendungen. Mit Tim unterhielt sich niemand außer Lena, die jedoch sehr müde wirkte und meist nur recht einsilbige Antworten gab.
Fabians Fieber war offenbar weiter gestiegen. Immer wieder beutelte Schüttelfrost den schmächtigen Körper und trieb gleichzeitig einen alles bedeckenden Schweißfilm aus allen Poren. Denis hatte Regenwasser in einem der roten Plastikbehälter gesammelt, in dem zuvor eine der Friedhofskerzen gesteckt hatte. Immer wieder tauchte er das Stoffstück hinein, tupfte Fabians Gesicht damit ab oder legte es ihm als Umschlag auf die Stirn.
Obwohl Tim tagsüber viel geschlafen hatte, fühlte er sich ausgelaugt und unendlich müde. Als Lena sich neben ihm auf dem Boden zusammenrollte, legte er die Decke über sie und schlug sie an den Seiten ein, damit sie nicht fror. Er streichelte ihr noch einmal über die Wange und stand auf.
Alle Augen richteten sich auf ihn.
»Ich gehe nur noch mal raus, bevor ich mich hinlege«, sagte er und lief zur Tür. Als Sebastian sich ebenfalls erhob, blieb Tim neben ihm stehen. »Willst du mir etwa beim Pinkeln zusehen?«
»Ich werde dich jedenfalls nicht aus den Augen lassen.«
Tim sah ein, dass eine Diskussion keinen Erfolg haben würde und dachte, dass es ihm egal sein konnte, ob Sebastian dabeistand und seinen Rücken betrachtete.
Wie sich herausstellte, war es ihm nicht egal. Tim konnte sich an kaum einen Moment seines Lebens erinnern, in dem er sich so gedemütigt gefühlt hatte wie in dieser kurzen Zeitspanne. Er stand etwas abseits der Hütte und glaubte zu spüren, wie Sebastians Blicke ihm im Rücken brannten. Das Gefühl war so übermächtig, dass einfach nicht funktionieren wollte, wofür er eigentlich ins Freie gekommen war.
Nach einer Weile gab er es auf und ging zurück. Als er neben Sebastian angekommen war, sagte er: »So funktioniert das nicht.«
»Interessiert mich nicht«, antwortete Sebastian und wartete, bis Tim an ihm vorbei war, um ihm dann zu folgen.
Als Tim die Hütte wieder betrat, verebbte die Diskussion, die offenbar im Gang gewesen war. Tim hatte noch einige hitzige Wortfetzen mitbekommen, ohne jedoch ihren Sinn zu verstehen. Er schaute fragend in die Runde. »Was ist los? Traut ihr euch jetzt schon nicht mehr zu reden, wenn ich da bin?«
»Sie wollen dich fesseln«, erklärte Denis mit dem ihm eigenen Unterton und stieß einen Lacher aus. »Aber die Freaks wissen nicht, womit.«
»Was wollt ihr?« Tim hatte das Gefühl, seine Beine würden jeden Augenblick nachgeben. Unsicher machte er ein paar Schritte, lehnte sich gegen die Tischkante und starrte in die Runde. Manche der Gesichter wandten sich ab. Lena hatte ihren Versuch, einzuschlafen, offenbar fürs Erste aufgegeben, denn sie saß mit der Decke über den Schultern da und sah ihn traurig an.
»Ihr … wollt mich fesseln wie einen Verbrecher?«
»Du hast es doch selbst gesagt.« Janiks Stimme klang sachlich. »Du weißt nicht, was du nachts im Schlaf treibst. Da ist es ja wohl logisch, dass man sich seine Gedanken macht, wenn man mit dir im gleichen Raum schlafen soll.«
Wenn man mit dir im gleichen Raum schlafen soll … Er war ein Ungeheuer, das man nachts festbinden musste. Tim dachte an die Geschichte von Dr. Jekyll und Mr Hyde. Verwandelte auch er sich nachts in ein gewalttätiges Monster?
»Und jetzt wollen sie dich fesseln und wissen nicht, womit«, stellte Denis erneut fest.
»Irgendwas müssen wir jedenfalls finden.« Trotzig verschränkte Julia die Arme vor der Brust. »Solange der hier nachts rumlaufen kann, mache ich kein Auge zu.«
Wenn der hier nachts rumlaufen kann … Sie sprach über Tim, als wäre er nicht im Raum. Als wäre er ein Tier.
»Ist doch ganz einfach: Wir benutzen einen Schnürsenkel.« Sebastian schob sich an Tim vorbei, blieb vor Janik stehen und deutete auf seine halbhohen festen Schuhe. »Die sind lang genug, um die Hände damit zu fesseln.«
»Ihr seid total verrückt.« Nicht zum ersten Mal hatte Tim das Gefühl, durch einen irren Albtraum zu taumeln.
»Ich werde nicht schlafen, wenn wir nicht vor ihm sicher sind!«, wiederholte Julia wie ein trotziges Kind. »Gefesselte Hände bringen da gar nichts.«
Fabian richtete sich ein wenig auf. Er stützte sich auf den Handflächen ab und sah mit glasigem Blick stumm in die Runde. Seine kurzen Haare klebten schweißnass am Kopf, das feuchte Gesicht war gerötet. Er sah furchtbar aus.
Nachdem er seine Umgebung eine Weile betrachtet hatte, legte er sich ebenso wortlos wieder hin. Offenbar hatte er so hohes Fieber, dass er gar nicht mitbekam, worüber gerade diskutiert wurde.
Sebastian musterte Fabian nachdenklich und sagte dabei wie zu sich selbst: »Warum sperren wir ihn nicht einfach in die Kammer nebenan?«
Einsperren? In dieses stinkende, verdreckte und von Ratten und Mäusen vollgeschissene Loch? Tim wollte aufbrausen, Sebastian anschreien, sich auf ihn stürzen … Und konnte doch nichts anderes tun, als ihn fassungslos anzustarren. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.
»Das ist nicht dein Ernst«, mischte sich Lena zum ersten Mal in das Gespräch ein, und trotz allem Entsetzen und aller Wut fiel Tim auf, wie müde ihre Stimme klang.
»Ihr könnt Tim doch nicht in diesen schmutzigen Raum sperren wollen, das kann ich nicht glauben.«
»Wir?«, stutzte Denis. »Wohl kaum. Du hast doch gehört, dass das die Idee unseres Möchtegernbullen ist.«
»Halt dein dämliches Maul, du Loser!«, giftete Sebastian ihn an. »Wenn du mich noch ein bisschen reizt …«
Denis’ Miene blieb ausdruckslos. »Verhaftest du mich dann? Hast du einen Kinder-Polizeiausweis?«
»Also ich finde die Idee gut«, meldete Julia sich wieder zu Wort und lenkte Sebastians Aufmerksamkeit von Denis ab. Tim sah sie nicht an. Was hätte er von ihr auch anderes erwarten sollen?
»Ihr spinnt doch! Man kann auch übertreiben«, warf Jenny in die Runde, wofür Tim ihr ein dankbares Lächeln schenkte. »Außerdem kann man die Tür doch gar nicht schließen. Was soll das also bringen?«
»Zumindest wäre er nicht mitten unter uns«, beharrte Sebastian auf seiner Idee. »Außerdem können wir ja etwas vor den Eingang stellen.« Er deutete zur Seite. »Den Schrank da zum Beispiel.«
»Auf keinen Fall werde ich in dieses Dreckloch kriechen!«, fand Tim endlich seine Sprache wieder. Er war so aufgewühlt wie nie zuvor in seinem Leben. »Ihr seid doch vollkommen verrückt geworden!«
Sebastian verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Dich fragt keiner, Timmi. Du bist ein Psycho, und wir sorgen dafür, dass du heute Nacht nicht noch jemanden im Schlaf abstichst.«
Tim hatte das Gefühl, als würde sich eine Hand um seine Kehle legen und unbarmherzig zudrücken. Er konnte es förmlich spüren. Die Wut, die er gerade noch empfunden hatte, wich der Erkenntnis, dass er tatsächlich nichts ausrichten konnte. Wenn sie ihn zu dritt gewaltsam in den Nebenraum schleppten und dort irgendwo festbanden, würde er sich nicht wehren können.
Außerdem … ja, außerdem konnte es sein, dass Sebastian recht hatte. Vielleicht musste man ihn ja wirklich einsperren wie ein unberechenbares Tier, damit er niemanden verletzte. Oder sogar tötete.
Es war, als hätte sich vor Tim plötzlich ein tiefes schwarzes Loch aufgetan, in das er unweigerlich hineingezogen wurde. Ohne sein Zutun hatte er einen Schritt zu viel gemacht und war in den Abgrund gestürzt. Nun trudelte er unabwendbar in die Tiefe, und wann immer er die Hand ausstreckte, um sich irgendwo festzuhalten, rutschte er ab und fiel noch schneller.
»Ich … Okay, bindet mir die Hände zusammen, ich habe nichts dagegen. Von mir aus bindet mich auch irgendwo fest. Aber ich gehe nicht in dieses stinkende Kabuff! Auf keinen Fall.«
»Du scheinst das nicht verstanden zu haben, du wirst nicht gefragt.« Sebastians Stimme war schärfer geworden.
»Und du scheinst nicht verstanden zu haben, dass du nicht über mich bestimmst!«, entgegnete Tim.
Sebastian kam näher und baute sich vor Tim auf. »Ach nein?«
Noch ehe Tim reagieren konnte, tauchte Janik neben Sebastian auf. »Ich denke, es ist besser, wenn du das jetzt einfach mitmachst.«
Der Ton, in dem er es sagte, klang lange nicht so aggressiv wie bei Sebastian, ließ aber keinen Zweifel daran aufkommen, dass auch Janik ihn notfalls mit Gewalt in den Nebenraum schleppen würde.
Etwas in Tim zerbrach, und es fühlte sich tatsächlich so an, als ginge etwas in seinem Inneren zu Bruch. Sein Blick wanderte hastig zwischen Sebastian und Janik hin und her, er wollte tausend Dinge sagen und fand doch für kein einziges die Worte. Das machte ihn wütend. Noch wütender, als er sowieso schon war. Und mit einem Mal war es, als bräche ein Vulkan in ihm auf und spuckte unkontrolliert alles aus, was in ihm brodelte.
»Es ist mir scheißegal, was ihr denkt!«, schrie er die beiden an. »Ihr seid ein feiges, unfaires Pack. Ihr wollt zusammen über mich herfallen, um mich zu fesseln und in dieses Dreckloch zu stecken. Aber das mache ich nicht mit!« Tim war außer sich. Er stieß sich von der Tischkante ab und machte einen großen Schritt auf Sebastian zu. Sollte der sich doch auf ihn stürzen oder ihn schlagen. Es war Tim egal, er hatte keine Angst. Da war nur diese riesige Wut. Und die noch größere Furcht, die anderen könnten im Recht und er könnte wirklich ein gemeingefährlicher Psychopath sein.
Dann ging alles rasend schnell.