18
Kälte. Das war das Erste, was Tim empfand, als sein Bewusstsein träge wie an einem langen Gummiband in die Realität zurückgezogen wurde. Als er sich zusammenrollen wollte, erzeugte die Bewegung Schmerzen, deren Herkunft er nicht lokalisieren konnte. Sie waren überall.
Tim fühlte sich unangenehm matschig, und nachdem er es endlich geschafft hatte, die Lider zu heben, zeigten seine Augen ihm ein verschwommenes Bild, mit dem sein Verstand nichts anfangen konnte. Es war ein seltsames Durcheinander, in dem sich an verschiedenen Stellen etwas bewegte. Was er sehen konnte, wurde von einem gespenstischen, unruhigen Licht gelblich aus der Dunkelheit gestanzt. Etwas berührte ihn an der Schulter, jemand fasste ihn an, rüttelte an ihm.
»Tim. Tim, wach auf.« Es war eine bekannte Stimme, aber er wusste nicht, zu wem sie gehörte. Zu seiner Mutter jedenfalls nicht. »Er ist ganz nass. Tim … aufwachen!« Wieder dieses Rütteln. Es ärgerte ihn. Warum sollte er aufwachen? Er fühlte sich nicht gut und war müde. Und es war nicht Tag, so viel zumindest konnte er erkennen. Diese Stimme und diese Hand … sie sollten ihn in Ruhe lassen.
Ein Gesicht tauchte vor ihm auf, jemand beugte sich über ihn, sah ihn an. »Na endlich.«
Es war ein bekanntes Gesicht, es war … Lena. Da begriff er, dass auch die Stimme zu ihr gehörte. Und ihm war kalt, weil sie in einer Hütte in den Bergen feststeckten.
Das Unwetter … Mit einem Mal war alles wieder da. Sie hatten Wodka getrunken. Viel Wodka.
Sein Verstand begann, träge zu arbeiten. Der Sturm … jetzt hörte er ihn auch wieder. Unverändert rüttelte er an ihrem kleinen Unterschlupf. Es war noch immer dunkel, Kerzen brannten. Er konnte also nicht lange geschlafen haben.
Tim öffnete den Mund und wurde sich des schalen, pelzigen Geschmacks bewusst. Sein Gaumen, die Zunge, alles fühlte sich halb taub an.
»Mir geht’s nicht so gut«, wollte er sagen, aber er hörte selbst, dass das, was da aus seinem Mund kam, nichts mit diesen Worten gemein hatte. Er räusperte sich mehrmals und probierte es erneut. Dieses Mal war es zumindest so weit verständlich, dass Lena nickte.
»Du musst trotzdem aufstehen, wir haben ein Problem.«
»Ich weiß«, sagte Tim und startete einen ersten Versuch, sich aufzurichten. Alles fühlte sich einfach nur ekelhaft an. Seine Kleidung war komplett durchnässt, was ihm nun noch schlimmer vorkam als zuvor, bevor er eingeschlafen war.
»Wir sitzen in dieser dämlichen Hütte fest. Wie spät ist es?«
»Kurz nach acht. Und da ist noch was anderes.«
Es klang seltsam, wie sie es sagte, aber vorrangig wunderte Tim sich über die Uhrzeit, die Lena genannt hatte. »Kurz nach acht? Das kann doch nicht … Es müsste doch viel später sein. Wir haben doch erst gegen Abend …«
»Acht am Morgen. Und Ralf ist verschwunden.«
Tim schaffte es endlich, sich aufzurichten, woraufhin sofort etwas damit begann, von innen gegen seine Schädeldecke zu hämmern. Diese nassen Sachen …
»Was? Am Morgen? Und der Sturm ist immer noch nicht vorbei? Oh Mann, ist mir schlecht. Ich trinke nie wieder Alkohol.« Tim erinnerte sich, was Lena gerade außerdem noch gesagt hatte. »Was heißt das, Ralf ist verschwunden?«
Lena sah dorthin, wo Ralf gesessen und später auch geschlafen hatte. »Er ist seit mindestens einer halben Stunde weg. Lucas hat es bemerkt, als er aufgewacht ist.«
»Vielleicht ist er draußen und … na ja … übergibt sich.« Der Gedanke war Tim gekommen, weil in diesem Moment sein Magen rebellierte.
Lena betrachtete ihn von oben bis unten. »So wie es aussieht, hast du das wohl auch schon hinter dir, deine Klamotten triefen ja regelrecht.«
»Hm … habt ihr schon mal nebenan nachgesehen?«
Lena nickte. »Ja, klar. Da ist er nicht. Sein Rucksack ist noch an seinem Platz. Da liegt sogar noch eine Dose mit Erdnüssen herum.« Sie sah Tim ins Gesicht und … stockte. Ihr Ausdruck veränderte sich, sie schien auf eine Stelle an seiner Wange zu starren.
»Was ist?«, fragte Tim und tastete seine Wange ab, doch da war nichts.
»Du … du hast da was«, antwortete Lena, den Blick noch immer auf dieselbe Stelle gerichtet.
»Was?«
»Sieht aus wie Blut«, bemerkte Fabian, den Tim nun erst bemerkte. Er saß schräg vor ihm, dort, wo am Abend noch Janiks Platz gewesen war, und hatte sich in eine Decke eingewickelt.
»Was? Blut? Aber wie …« Erneut tastete Tim die Stelle ab, aber er fühlte nichts Außergewöhnliches, es tat ihm auch nichts weh.
»Da, an deinen Fingern auch.« Lena deutete auf die Hand, mit der er sich gerade über die Wange gerieben hatte.
Tim betrachtete seinen Handrücken, konnte aber nichts entdecken. Erst als er die Hand drehte, konnte er die dunklen, fast schwarzen Flecken erkennen. Sie wirkten verschmiert, als hätte er versucht, sie abzuwaschen.
»Das … das ist aber kein Blut, oder?«, zweifelte er.
»Doch, glaube schon«, meinte Fabian mit kratziger Stimme. »So sieht Blut aus, wenn es eingetrocknet ist.«
Mittlerweile war auch Sebastian in Tims Blickfeld aufgetaucht und betrachtete eingehend Tims Gesicht und die Hand. »Sieht aus, als hättest du irgendein Vieh geschlachtet und dir dann mit der Hand durchs Gesicht gewischt«, kommentierte er.
Prompt erntete er dafür von Jenny, die irgendwo hinter ihm sein musste, eine angewiderte Bemerkung: »Das ist ekelhaft.«
Tim erhob sich und stöhnte auf, als ihm erneut ein stechender Schmerz durch den Kopf fuhr. Ihm war so schwindelig, als sei er noch immer betrunken, und hätte er sich nicht an Lenas Schulter festhalten können, wäre er wahrscheinlich umgefallen. Außerdem fror er so sehr, dass seine Muskeln zittrige Schübe durch seinen Körper jagten.
Er sah sich in dem Durcheinander aus Decken, abgebrannten und frischen Kerzen, Essensresten und Wasserflaschen um, bis schließlich sein Blick auf Julia fiel. Sie stand etwas abseits und starrte ihn unentwegt an. In ihrem Gesicht glaubte Tim so etwas wie … Angst zu erkennen. Eine Faust, die seinen Magen umschloss und gnadenlos zudrückte, ließ Julia jedoch augenblicklich unwichtig erscheinen. Tim atmete in kurzen flachen Zügen und konzentrierte sich darauf, sich nicht übergeben zu müssen.
Als er glaubte, seinen Magen halbwegs im Griff zu haben und allein stehen zu können, ließ er Lenas Schulter vorsichtig los und begann damit, seinen Körper auf eine Verletzung hin zu untersuchen. Lena war ebenfalls aufgestanden und musterte ihn neugierig. »Kannst du mir helfen?«, bat er sie. »Schau doch bitte mal, ob ich irgendwo eine Verletzung habe.«
Lena untersuchte ihn, so gut es ging, doch weder sie noch Tim selbst konnte etwas finden. Auch Tims Nase war sauber, wie Lena ihm bestätigte, das Blut konnte also genauso wenig von dort stammen.
»Okay, keine Ahnung, wo das herkommt. Was ist jetzt mit Ralf?« Tim sah sich in dem Raum um. Hinter Fabian saß Jenny gegen die Wand gelehnt, Lucas hatte sich auf die Tischplatte gehockt und schaute seinen Beinen dabei zu, wie sie vor und zurück wippten. Denis kauerte wieder in seiner Ecke neben dem Eingang. Er schien der Einzige zu sein, der noch oder wieder schlief.
»Wo ist Janik?«
»Der musste mal«, erklärte Sebastian. »Bei der Gelegenheit wollte er außerdem nachsehen, ob er Ralf irgendwo entdecken kann. Ist ein paar Minuten her. Vielleicht hat er ihn gefunden und sie trinken einen zusammen.«
Als wäre es sein Stichwort gewesen, öffnete Janik die Tür so weit, dass er eben so durchschlüpfen konnte, und drückte sie dann gegen den Wind wieder zu. Er war komplett durchnässt, sodass sich innerhalb von Sekunden eine glänzende Pfütze unter ihm auf dem Holzboden bildete. Janik sah sich um, entdeckte Tim und starrte in sein Gesicht. »Was … ist das?«
Tim brauchte kurz, bis er verstand, was Janik meinte. Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, scheint Blut zu sein, aber ich habe keine Verletzung gefunden.«
Janiks Gesicht veränderte sich auf eine seltsame Weise. Er drehte sich nach den anderen um, dann richtete er sich wieder an Tim. »Ich hab da draußen was gefunden, das müsst ihr euch mal ansehen.« Es klang komisch, wie er das sagte.
»Was denn?«, fragte Tim, durch Janiks Tonfall alarmiert, der auch dann noch auf ihm ruhte, als er antwortete.
»Blut.«