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Die Gespräche wurden ruhiger und beschränkten sich überwiegend auf leise geführte Unterhaltungen zwischen denen, die zusammen unter einer Decke saßen. Es schien, als wollten alle zumindest für den Moment ganz bewusst eine große Diskussion über ihre Situation vermeiden.

Fabian hatte sich etwa zwei Meter von Tim und Lena entfernt zu Janik auf den Boden gesetzt und betrachtete die anderen. Janik saß an die Wand gelehnt neben ihm und hatte die Augen geschlossen. Jenny hockte auf einem der Schemel am Tisch. Sie hatte die Arme um den Körper geschlungen und schien stark zu frieren. Nachdem Lena sie eine ganze Weile beobachtet hatte, sagte sie leise zu Tim: »Kannst du dich vielleicht auf den Hocker setzen? Dann könnte Jenny zu mir. Ich glaube, es geht ihr nicht gut.«

Tim hätte am liebsten protestiert. Natürlich wollte er nicht, dass Jenny fror – und sie sah wirklich mitleiderregend aus. Andererseits verließ er sein warmes Plätzchen und die Nähe zu Lena nur ungern. Und wenn Jenny und Denis sich nicht wie im Kindergarten aufführen würden, hätte ja auch jeder einen Platz unter der Decke. Aber was sollte es, einer musste ja der Vernünftige sein. Also nickte er und schlug die Decke zurück. Während er aufstand, fiel sein Blick auf Denis, der in seiner Ecke vor sich hin stierte.

Während Lena zu Jenny trat und sich zu ihr beugte, ging Tim aus einem Impuls heraus nicht zu dem Tisch, sondern zu Denis und sagte: »Hast du auch was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?«

Denis sah demonstrativ zu Lena, die noch immer mit Jenny sprach. »Schlechter Tausch, oder?«

Auch Tim sah sich zu den beiden Mädchen um. »Es ist wegen Jenny. Irgendwas stimmt nicht mit ihr.«

Denis deutete mit dem Kinn zu Janik. »Weil sie nicht mit dem Freak unter eine Decke möchte?« Er hob seine Decke auf einer Seite hoch und deutete Tim an, sich zu ihm zu gesellen. »Zu dem würde ich auch nicht wollen. Zu keinem von denen.«

»Dann darf ich mich ja wohl geehrt fühlen, dass ich hier sitzen darf.« Tim zog die Beine an, legte die Unterarme auf den Knien ab und betrachtete seine verschränkten Hände. Nachdem sie eine Weile stumm nebeneinandergehockt hatten, meinte Tim: »Ich würde dich gern mal was fragen, ohne einen Spruch von dir zu kassieren. Geht das?«

»Versuch’s.«

»Warum sonderst du dich von allen so ab? Warum bist du heute mitgegangen? Und warum bist du überhaupt im Camp? Haben deine Eltern dich dazu gezwungen oder so?«

Letzteres konnte Tim sich allerdings nicht vorstellen. Er glaubte nicht, dass Denis sich von irgendjemand zu etwas zwingen ließ.

Erst sagte Denis nichts dazu, und Tim dachte schon, er würde keine Antwort bekommen, doch dann atmete der andere tief durch. »Meine Alten können mich schon ewig zu nichts mehr zwingen. Ich wohne seit vier Jahren nicht mehr bei denen. Bin in einem Jugendhilfezentrum. Ich hab mich im letzten Jahr wohl genug von denen herumkommandieren lassen, ohne Ärger zu machen. Da hat der Psychoonkel gemeint, ich könnte mal ein paar Tage selbstständig was unternehmen. Natürlich hat er das Camp ausgesucht. Sehr selbstständig.«

»Ein Jugendhilfezentrum?«, hakte Tim nach, der nur eine ungefähre Vorstellung davon hatte.

»Ja, ein Heim für Freaks. Zerrüttete Familie, prügelnde Eltern, schwer erziehbar und so.«

»Und warum bist du da?«

»Na, zerrüttete Familie, ein prügelnder Alter … das ganze Programm. Außerdem hab ich angeblich Probleme mit Autoritäten. Heißt im Klartext, ich lasse mir nicht so gerne von irgendwelchen Freaks sagen, was ich tun soll.«

»Das tut mir leid.«

»Blödsinn.«

»Was?«

»Blödsinn halt. Warum soll es dir leidtun, wenn mein versoffener Alter mich grün und blau geprügelt hat?«

Tim betrachtete das bleiche Gesicht neben sich, in dem der Trotz so deutlich zu lesen war. »Du kannst überhaupt nichts annehmen, oder?«

»Warum auch? Es denkt doch sowieso jeder nur an sich. Alles andere ist Heuchelei.«

»Dann glaubst du, das war gerade Heuchelei, als ich dir gesagt habe, dass mir das mit deinen Eltern leidtut?«

Denis sah ihn an, und Tim hatte das Gefühl, als versuchte dieser blasse, schwierige Kerl in seinem Kopf zu lesen. Es fiel ihm schwer, diesen dunklen Augen standzuhalten. Nach einer scheinbaren Ewigkeit schaffte er es auch nicht mehr und wandte den Blick ab.

»Vielleicht hast du es ja wirklich so gemeint. Du bist auch ein Freak, Alter. Aber du bist okay.«

»Hey, was führt ihr denn für seltsame Gespräche?«, rief Sebastian ihnen zu.

»Halt deine Ohren einfach da, wo deine Finger sind«, entgegnete Denis. »Bei deiner Nachbarin.«

Tim hoffte, Sebastian würde das nicht zum Anlass für einen neuen Streit nehmen. Er und Denis würden sicher keine Freunde mehr werden, aber eine offene Auseinandersetzung würde alles nur komplizierter machen.

Tim konnte sehen, wie Sebastian zusammenzuckte, und auch, dass Julia ihm die Hand auf den Arm legte und leise, aber eindringlich auf ihn einredete. Was immer sie ihm auch sagte, es schien zu wirken, denn er warf Denis einen letzten bösen Blick zu und wandte sich von ihm ab.

Jenny hatte sich zwischenzeitlich zu Lena unter die Decke gekuschelt. Die beiden schienen in ein ernstes Gespräch vertieft zu sein.

Der Sturm schleuderte immer wieder Gegenstände an die Holzwände. Manchmal hörte es sich an, als hämmere jemand mit gewaltigen Fäusten gegen die Tür, um hereingelassen zu werden.

»Wie es aussieht, werden wir wohl noch eine Weile hier festsitzen«, sagte Ralf so laut, dass alle es hören mussten. »Ich hatte euch ja eine kleine Überraschung versprochen und denke, jetzt ist der richtige Zeitpunkt dafür.«

»Noch eine Überraschung?«, fragte Sebastian mürrisch. »Mir reicht es eigentlich mit deinen Überraschungen.«

»Was heißt hier mit meinen Überraschungen? Du tust so, als wäre ich an dem Unwetter schuld. Das konnte doch niemand ahnen.«

Mit einem wütenden Ruck beugte Sebastian sich vor. »Doch, das hätte man ahnen können, verdammt. Das hätte man sogar wissen können. Wenn man sich nämlich den Wetterbericht mal angesehen hätte. Also erzähl hier nicht, das hätte man nicht ahnen können, du Anfänger.«

»Mann, Sebastian, was ist denn mit dir los?«, fragte Janik. »Du bist die ganze Zeit schon so aggressiv. Damit machst du die Lage auch nicht besser.«

»Ja, halte du ihm auch noch die Stange. Ist euch eigentlich klar, in welchem Schlamassel wir stecken? Dieser scheiß Orkan da draußen kann noch lange dauern, und wir sitzen in dieser kalten Bude fest und haben keine Ahnung, wo wir sind. Und weil wir schlauerweise nicht auf den normalen Wegen geblieben sind, wird uns auch niemand finden.«

»Aber wenn die uns auf den normalen Wegen nicht finden, werden die bestimmt auch anderswo suchen«, meinte Fabian. Es klang weniger wie eine Feststellung, sondern mehr wie eine flehende Frage in Ralfs Richtung.

Ralf antwortete nicht darauf, aber Tim fiel der seltsame Blick auf, mit dem Lucas Ralf musterte, bevor er vor sich auf den Boden starrte. Er gefiel Tim überhaupt nicht, dieser Blick, und er nahm sich vor, herauszufinden, was er zu bedeuten hatte.

»Also wie ist das jetzt, soll Lucas auspacken, was wir euch mitgebracht haben?«, fragte Ralf verheißungsvoll lächelnd und schien die Vorwürfe, die Sebastian ihm gerade gemacht hatte, schon wieder vergessen zu haben.

»Was bist du, Alter?«, rief Denis so laut zu Ralf hinüber, dass Tim erschrocken zusammenzuckte. »Der verdammte Weihnachtsmann? Mann, pack aus oder lass es, aber hör endlich auf mit diesem dämlichen Theater, das nervt.«

»Also nun zeigt schon, was ihr dabeihabt«, sagte Tim schnell. »Jetzt bin ich neugierig geworden.«

Ralf zögerte kurz, doch dann nickte er Lucas grinsend zu. »Dann gib mal her, das Ding.«

Auf eine gewisse Weise bewunderte Tim den Münchner. Zweifellos trug er einen Großteil der Schuld an der Misere, in der sie sich befanden, aber er steckte mit einer unglaublichen Gelassenheit alles weg, was man ihm an den Kopf warf. Oder er tat zumindest so. Jedenfalls sorgte er dadurch immer wieder dafür, dass die Situation nicht eskalierte.

Lucas stand auf, ging zu seinem prall gefüllten Rucksack, der unter dem Tisch stand, und brachte ihn zu Ralf. Der nestelte eine Weile an den Verschlüssen herum, bis er sie schließlich geöffnet hatte, und zog eine große Flasche heraus, die eine klare Flüssigkeit enthielt. Stolz hielt er sie hoch und sagte: »Feinster russischer Wodka.«

»Das soll die große Überraschung sein?« Sebastian schüttelte mit einer resignierenden Geste den Kopf. »Hätte ich mir denken können. Na ja, besser als nichts. Das Zeug wärmt vielleicht.«

»Tolle Überraschung«, flüsterte Tim Denis zu und gab sich keine Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen.

Urplötzlich ließ ein fürchterlicher Knall alle zusammenfahren, dann prasselte etwas zu Boden und die Welt schien unterzugehen.