25

Alle starrten Sebastian an, niemand sprach ein Wort. Tim fühlte sich wie gelähmt. Er war weder in der Lage, etwas zu sagen, noch den kleinen Finger zu rühren. Er hatte keine Vorstellung davon, wie lange Sebastian so im Eingang gestanden hatte, als Janik ihm zurief: »Nun komm schon rein, verdammt! Und schließ die Tür!«

Tatsächlich setzte Sebastian sich in Bewegung und schloss die Tür mit einem dumpfen Knall.

Die Ruhe, die sich trotz des draußen unvermindert wütenden Orkans ausbreitete, wirkte in der plötzlichen Dunkelheit der Hütte unheimlich.

Als Lucas nach einer endlos scheinenden Weile seine Taschenlampe anschaltete, riss der Lichtkegel ausgerechnet Sebastian aus der schwarzen Unsichtbarkeit. Er stand noch immer am Eingang und streckte die Hand aus. Nun erschien die Szene endgültig wie aus einem Theaterstück, in dem der Bösewicht für seinen großen Auftritt vom Scheinwerferlicht angestrahlt wurde.

»Ist das dein Messer? Tim?«, fragte Sebastian. Er blickte ein Stück an Tim vorbei, weil er ihn offenbar nicht sehen konnte.

»Ist das dein Messer, Tim?«, äffte Denis Sebastian übertrieben nach und schob ein abfälliges »Freak« hinterher.

Sebastian ließ sich davon nicht ablenken und hielt den Blick stur auf die Stelle gerichtet, an der er Tim vermutete.

Tim erkannte nun zwar, dass dort auf Sebastians geöffneter Handfläche ein zusammengeklapptes rotes Messer lag, konnte aber nicht feststellen, ob es tatsächlich seines war. Doch wem sonst sollte es gehören, wenn nicht ihm? Er war der Einzige, der ein Messer mitgenommen hatte.

»Ich … weiß nicht, aber ich glaube schon«, sagte Tim. »Wo hast du es her?«

»Kann mal jemand die Kerzen anzünden?«, fragte Lena neben ihm mit zittriger Stimme und verschaffte ihm damit eine kleine Pause, in der seine Gedanken Purzelbäume schlugen.

Ganz egal, woher Sebastian das Messer angeblich hatte, es war mehr als auffällig, dass er es überhaupt in der Hand hielt.

Der Lichtstrahl löste sich von Sebastian und wanderte durch den Raum, während Lucas zu den Kerzen schlurfte.

»Es war eigentlich fast schon zu einfach«, erklärte Sebastian selbstgefällig aus der Dunkelheit heraus. »Da das Messer ja angeblich verschwunden war, war mir klar, dass derjenige, der es verschwinden lassen wollte, es nicht hier in der Hütte gelassen hat.«

Die erste Kerze leuchtete auf, und Denis nutzte die kurze Pause, die Sebastian machte, zu einem spöttischen: »Es war ihm klar … Sherlock Holmes spricht.«

Während Lucas weitere Kerzen anzündete, kam Sebastian auf Tim zu, blieb vor ihm stehen und hielt ihm wortlos das Messer entgegen. Sein Messer, daran gab es nun keinen Zweifel mehr.

»Die Blutflecken am Holzstapel sind mir wieder eingefallen. Ralf und … der Täter müssen also dort gewesen sein.« Das Wort »Täter« betonte er dabei besonders. »Es war also zumindest einen Versuch wert, nachzusehen, ob das Messer nicht dort irgendwo versteckt ist. Und wie du siehst … war es das. Na, was sagst du dazu, Timmi?«

Tim konnte im ersten Moment nur schweigen. Er starrte auf sein Messer und wäre am liebsten weit weggerannt. Hinaus in den Sturm, so weit von dieser Hütte weg, wie es möglich war. Er spürte deutlich, dass einiges an Sebastians Theorie unlogisch war, aber er war viel zu aufgewühlt, um es fassen zu können. Davon, es vernünftig vorzubringen, ganz zu schweigen. Zum Glück übernahm das Fabian für ihn, der sich ächzend aufrichtete und sich dabei von Denis helfen ließ.

»Du hast das Messer«, sagte er dann mit krächzender Stimme. Er musste sich deutlich anstrengen, um zumindest so laut zu reden, dass er die dumpfen Außengeräusche übertönte. Er wirkte noch schmächtiger, als er sowieso schon war, und sah zum Erbarmen aus. »Von Sherlock Holmes bist du aber meilenweit entfernt. Was du dir da überlegt hast, ist so ziemlich das Unlogischste, das ich je gehört habe.« Fabian musste eine Pause machen. Er schien von den wenigen Sätzen völlig außer Atem zu sein.

»Wenn jemand das Messer da draußen verschwinden lassen wollte, bräuchte er es einfach nur ein paar Meter weit zu werfen. Bei dem Sturm wäre es innerhalb von Minuten spurlos verschwunden. Aber dein … Täter versteckt es dort, wo man es sicher als Erstes suchen würde: bei den Blutflecken.« Wieder atmete Fabian einige Male flach ein und aus, bevor er fortfuhr. »Kommt dir das nicht selbst ziemlich komisch vor, Herr Detektiv?«

Sebastian schien irritiert, doch dann winkte er ab. »Blödsinn. Tim hat Ralf da draußen mit dem Messer verletzt und dann Panik bekommen. Jeder weiß doch, dass man dann Dinge tut, die nicht logisch sind. Du hältst dich für schlauer, als du bist, Kleiner.«

»Sagte der Vollpfosten«, kommentierte Denis.

Tim wunderte sich, dass Sebastian sich nicht längst mit Denis angelegt hatte. Vermutlich sparte er all seine Energie für Tim auf.

»Man könnte es auch anders betrachten«, beteiligte Tim sich nun zum ersten Mal an der Diskussion. »Vielleicht hast du das Messer so schnell gefunden, weil du genau wusstest, wo du zu suchen hast. Weil du es nämlich dahingelegt hast.« Er spürte, wie wenig überzeugend seine Worte klangen, was vermutlich daran lag, dass er selbst nicht sonderlich überzeugt war.

Sebastian lächelte. »War mir klar, dass du versuchst, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben. Aber schau mal hier …«

Er klappte das Messer auf und hielt Tim die Klinge entgegen. Tim sah sofort, was Sebastian meinte. Die dunklen Flecken darauf …

»Zum Glück war das Messer zugeklappt und ist zwischen die Holzscheite gerutscht. Wetten, dass das Ralfs Blut ist? Oder anders ausgedrückt …« Er machte eine theatralische Pause, in der er Tim mit strenger Miene musterte. »Wetten, dass es das gleiche Blut ist, das du auch im Gesicht und an den Händen hattest?«

Wieder herrschte Stille, aber dieses Mal erschien sie Tim drückender als zuvor. So als hätte sie ein eigenes Gewicht, das allein auf seinen Schultern lastete.

Wie gern hätte er Sebastian widersprochen. Argumente hätten sich sicher finden lassen, denn Sebastians Geschichte klang wirklich sehr an den Haaren herbeigezogen. Aber Tims Gegenwehr kam nicht aus seiner vollen Überzeugung. Zweifel nagten an ihm. Er wusste nicht sicher, ob er unschuldig war. Nein, es war tatsächlich möglich, dass er Ralf mit seinem Messer nicht nur bedroht, sondern auch verletzt hatte. So, wie er es schon einmal bei seiner eigenen Mutter getan hatte.

Er sah zu Lena, zu Fabian, zu Denis. Er sah in ihren Gesichtern die Erwartung, dass er sich verteidigen würde, dass er Sebastian die offensichtliche Unlogik seiner Theorie klarmachte. Es war überdeutlich, dass sie an seine Unschuld glauben wollten. Und doch hatte er keine Energie mehr, Sebastian Kontra zu bieten.

Tim betrachtete Lenas schönes, ebenmäßiges Gesicht, ihre wundervollen Augen und dachte daran, was die Ärzte damals gesagt hatten.

Es ist alles im Bereich der Normalität, solange es in der Kindheit aufhört. Setzt es sich aber als Jugendlicher und sogar junger Erwachsener fort, ist es eine ernsthafte Krankheit, die sehr gefährlich werden kann.

Wenn Tim Ralf im Schlaf mit dem Messer verletzt hatte, dann hatte er eine ernsthafte Krankheit und war womöglich eine Bedrohung für seine Umwelt. Im schlimmsten Fall war die Attacke auf Ralf erst der Startschuss und in einer der kommenden Nächte würde er sich an jemand anders vergreifen. In dieser Hütte oder später, wenn sie wieder im Camp waren … Vielleicht an Lena? Konnte es passieren, dass er sie verletzte oder … sogar tötete? Konnte er das verantworten, auch wenn es nur eine vage Möglichkeit war?

Noch einmal sah er Lena an, ihr unschuldiges Gesicht, ihre traurigen Augen. Er nickte ihr zu, hoffte, dass sie begriff, was er für sie fühlte.

Dann wandte er den Blick ab, richtete ihn ins Leere und sagte: »Sebastian hat recht. Es kann sein, dass ich Ralf mit dem Messer verletzt habe.«