13

Eines der Mädchen schrie gellend auf, Ralf und Lucas warfen sich seitlich zu Boden. Andere waren aufgesprungen und brüllten gegen den tosenden Sturm an, der plötzlich ungehindert in die Hütte eindringen konnte.

Tim brauchte einige Sekunden, bis sein Verstand das Chaos vor seinen Augen ordnen konnte. Irgendetwas hatte das Fenster zerstört und Tausende Glassplitter hereinregnen lassen. Wind und Wasser drückten sich in den Raum und richteten in kürzester Zeit eine geradezu unglaubliche Verwüstung an. Die meisten Kerzen wurden vom Tisch gefegt, leichte Gegenstände wurden durch die Luft und gegen die Wände geschleudert. Der Regen schien fast waagerecht hereinzuprasseln und durchnässte innerhalb kürzester Zeit den gesamten Raum. Über allem lag schon ein nass glänzender Film.

Tim ging auf das Fenster zu und hielt sich dabei schützend einen Arm vor das Gesicht, denn nicht nur das Wasser fegte peitschend herein, sondern auch Dinge, die der Sturm irgendwo da draußen mit sich gerissen hatte.

»Wir müssen die Läden von außen schließen!«, rief er den anderen zu, bezweifelte aber, dass ihn jemand hören konnte. Es nützte nichts, jemand musste etwas unternehmen, sofort, bevor das gesamte Hütteninnere zerstört war.

Tim drehte sich um und ging zur Tür, wo Lucas schon stand und auf ihn zu warten schien. Als Tim ihn fast erreicht hatte, öffnete Lucas die Eingangstür. Sie war kaum entriegelt, da wurde sie ihm auch schon aus der Hand gestoßen, schlug erst gegen seinen Körper und flog anschließend mit Schwung auf. Der Lärm und das Chaos wurden unbeschreiblich. Von der Wucht des Aufpralls war Lucas zu Boden gestoßen worden. Janik und Fabian eilten herbei, um ihm wieder hochzuhelfen.

Tim wandte sich ab, kämpfte sich an Lucas vorbei aus der Tür und zog sie hinter sich zu, was ihn einiges an Kraft kostete. Es schien, als wollte das Unwetter unter allen Umständen verhindern, dass Tim die Tür schloss, doch letztendlich schaffte er es, indem er sein ganzes Körpergewicht einsetzte.

Binnen Sekunden war er wieder komplett durchnässt und fror. Der Sturm hatte an Intensität sogar noch zugelegt. Tim fragte sich schon, wie er es schaffen sollte, ohne größere Verletzungen bis zu dem Fenster zu kommen und dort die Läden zu schließen, als die Tür sich erneut öffnete.

Dieses Mal aber nur einen Spalt weit, gerade ausreichend, dass Janik sich hindurchschieben und sie hinter sich zuziehen konnte. Er kam ganz nah an Tim heran und schrie: »Los, wir halten uns aneinander fest!«

Mit festem Griff packte er Tims Handgelenk und ging ohne weiteres Zögern los, so dicht wie möglich an der Hüttenwand entlang. Als sie das Ende der Vorderfront erreicht hatten und Janik einen Schritt aus deren Schutz herausmachte, traf ihn der Wind mit solcher Wucht, dass er fast umgeworfen worden wäre. Tim konnte ihn eben noch halten.

Gemeinsam stemmten sie sich gegen die Sturmgewalt, machten zentimeterweise Boden gut und hatten schließlich, nach einem nicht enden wollenden Kampf, das Fenster erreicht. Sie brauchten gute fünf Minuten, bis sie die beiden Holzläden nacheinander aus der Befestigung gelöst und zum Fenster hin geschlossen hatten, um dann mit den Fäusten dagegenzuhämmern. Drinnen schien jemand darauf gewartet zu haben, denn als sie die Hände langsam zurückzogen, blieben die Läden geschlossen.

Tims Armmuskeln brannten so sehr, dass er schon befürchtete, sich einen Muskelfaserriss zugezogen zu haben. Der extreme Schmerz dauerte aber zum Glück nicht lange an.

Gemeinsam kämpften sie sich zurück zur Vorderfront und ließen sich etwa fünfzehn Minuten nachdem Tim die Hütte verlassen hatte, erschöpft im Inneren auf den nassen Boden fallen.

Die anderen hatten zwischenzeitlich einige Kerzen angezündet. Ihr flackerndes Licht warf die unterschiedlichsten Schatten an die Wände und ließ sie zuckend tanzen, wie verwachsene Zwerge oder bösartige Geister.

Nur durch das Fenster drückte sich durch einen Spalt zwischen den geschlossenen Läden ein dünnes graues Band sturmgefärbtes Tageslicht.

Das Chaos, das der Sturm in der Hütte angerichtet hatte, erschien in dem unruhigen Halbdunkel unüberblickbar.

Die Gespräche waren verstummt, als Tim und Janik zurück in die Hütte gekommen waren, und wieder einmal war es Ralf, der die eingetretene Stille beendete. »Hey, das habt ihr klasse gemacht.«

Tim jedoch fiel in diesem Moment Lucas’ Sturz ein. Er blickte sich suchend um. Lucas kauerte mit geschlossenen Augen an der gleichen Stelle, an der er zuvor gemeinsam mit Ralf gewesen war. In der Hand hielt er die Wodkaflasche, und wie es schien, hatte er sich schon einen kräftigen Schluck davon genehmigt.

»Hey Lucas, alles okay?«, rief Tim ihm zu.

Lucas sah ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht an. »Nein, nichts ist okay. Die Scheißtür ist mir gegen die Brust geknallt. Tut höllisch weh.«

»Ach komm, nun stell dich nicht an«, sagte Ralf, und wie immer, wenn er mit Lucas sprach, klang es ziemlich abfällig. »So schlimm kann es nicht sein.«

»Warum bist du denn nicht rausgegangen?«, murmelte Lucas so leise, wie der Lärm des wütenden Sturms es erlaubte. Tim wunderte sich. Es war das erste Mal, dass es Lucas in seinem Beisein wagte, so mit Ralf zu reden. »Warum schickst du immer mich, wenn es doch nicht so schlimm sein kann?«

»Was heißt hier: Ich schicke dich? Ich …«

»Du hast eben gesagt, ich soll gefälligst meinen Hintern nach draußen schieben und das Fenster schließen.«

Ralf lachte verlegen. »Ach komm, so war das doch gar nicht gemeint.«

»Und wie ist es gemeint, wenn du mir drohst, dass mein Vater …«

»Ich glaube, das reicht«, fiel Ralf Lucas scharf ins Wort. »Du solltest jetzt echt aufhören.«

Lucas schien einen inneren Kampf auszufechten, doch schließlich senkte er den Blick und schwieg. Dann hob er die Flasche und trank gierig, bevor er sie in Tims und Janiks Richtung hielt. »Hier, ihr habt euch einen Schluck verdient.« Es klang bitter.

Auch wenn Tim kein Freund von hochprozentigem Alkohol war, würde ihm ein Schluck Wodka wahrscheinlich wirklich guttun. Er fühlte sich abgekämpft, alle Knochen taten ihm weh und zudem fror er.

Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass Janik aufstand. Er ging zu Lucas, nahm die Flasche und setzte sie an. Anschließend reichte er sie an Tim weiter, der es ihm gleichtat. Der Wodka rann wie ein Feuerbach durch seine Kehle und hinterließ eine brennende Spur. Tim konnte den Weg durch sein Innerstes bis in den Bauch hinein verfolgen. Das Zeug schmeckte scheußlich, aber es tat trotzdem sehr gut. Er nahm gleich noch einen zweiten, großen Schluck.

»Hey, hier ist noch ein Verletzter. Lass noch was übrig«, meldete sich Sebastian vom Tisch her, auf dem er mit Julia saß. Die beiden schienen sich gefunden zu haben.

»Keine Angst«, beschwichtigte Ralf. »Ich habe noch eine Flasche dabei.«

»Du oder Lucas?«, mischte sich Denis mit lauter Stimme in das Gespräch. Er hatte sich wieder an seinen Platz in der Ecke zurückgezogen, der von dem Durcheinander größtenteils verschont geblieben war, und die Decke über sich gelegt.

»Na … ich hab die Flasche mitgebracht, warum?«

Denis deutete zu Lucas hinüber. »In seinem Rucksack. Ist deiner kaputt?«

Für einen Moment schien Ralf nach Worten zu suchen. »Ich … Nein, aber ich denke, es ist auch egal, wer was getragen hat. Freut euch lieber, dass das Zeug hier ist. Es wärmt.«

»Ja, dank dir brauchen wir das ja auch«, sagte Sebastian bitter. Er hatte mehrere Male von der Flasche getrunken und reichte sie nun Julia, die sie zu Tims Überraschung annahm. Nach einem ersten, kleinen Schluck verzog sie zwar das Gesicht, nahm aber gleich darauf noch einen weiteren und stellte die Flasche dann neben sich ab.

Tim sah sich in dem Durcheinander um und machte den Vorschlag, etwas aufzuräumen, damit auf dem Boden wenigstens genügend Platz war, um sich setzen zu können.

Sie brauchten etwa eine halbe Stunde, bis sie in der Hütte halbwegs Ordnung geschafft hatten. Alle beteiligten sich, außer den beiden Verletzten Sebastian und Lucas. Und auch Denis hatte offenbar keine Lust, aber ihn fragte auch niemand.

Mittlerweile wussten alle, dass sie von ihm bestenfalls eine ätzende Antwort bekommen würden.

Um besser sehen zu können, hatten sie weitere Kerzen angezündet und so im Raum verteilt, dass es fast gemütlich gewirkt hätte. Wären da nicht der heulende Sturm, die Pfützen auf dem Boden und ihre durchnässten Klamotten gewesen, die sie immer mehr frieren ließen.

Und das Wissen, dass sie von der Außenwelt abgeschnitten waren.