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Sie schafften den Weg bis zur Höllentalklamm in etwas mehr als einer Stunde. Zwischenzeitlich war es vollkommen hell geworden und die dichten dunklen Wolken am Himmel deuteten auf Regen hin.
Den Einstieg in die Klamm bildete eine kleine Hütte, die aber geschlossen war. Ein Schild am Eingang wies darauf hin, dass der Zugang erst ab dem fünfzehnten Mai geöffnet sei. Bis dahin waren es noch zwei Tage.
»Gut, dass Ralf sich hier auskennt«, murrte Denis mit Blick auf das Schild.
»Und ob.« Ralf lachte. »Ich weiß, dass die Klamm immer erst Mitte Mai öffnet. Das ist das Beste, was uns passieren kann. Wir brauchen keinen Eintritt zu zahlen und sind da drin absolut unter uns. Die Brücken und Treppen sind so kurz vor Saisonauftakt sicher alle schon geöffnet. Natürlich weiß ich, wie man reinkommt. Alle mir nach.«
Also folgten sie Ralf über einen Zaun und die kleine Hüttenterrasse und erreichten gleich dahinter eine steile Treppe, die an der Felswand entlang aufstieg. Ein gespanntes Drahtseil diente als Handlauf und Sicherung zum Hammersbach hin, der sich hier etliche Meter tiefer mit Getöse zwischen den Felsen hindurchdrückte. Vor dieser Treppe machten sie einen kurzen Stopp, um einen Schluck zu trinken.
»Es sieht nach Regen aus«, sagte Tim zu Ralf, während der einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche nahm. Ralf wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab und sah an den teilweise überhängenden Felsen vorbei nach oben. »Ja, kann schon sein, aber wir sind ja zum Glück nicht aus Zucker.«
Janik kam einen Schritt näher. »Ich hab mal gehört, so ein Wetterumschwung in den Bergen soll nicht ungefährlich sein.«
»Nun fang mir bloß nicht mit diesem Halbwissen an. Ich kenne mich hier aus wie in meiner Westentasche. Ich hab schon alle möglichen Wetterumschwünge mitgemacht, und ich sage euch, das da …«, er deutete mit dem Zeigefinger nach oben, »ist überhaupt kein Problem. Wir werden vielleicht ein bisschen nass, wahrscheinlich aber nicht mal das. Und jetzt hört auf, euch in die Hosen zu machen.«
Ohne Zögern drehte er sich zur Treppe um und begann mit dem Aufstieg. Tim linste noch lange zu den Wolken, während erst Lucas und dann die Mädchen an ihm vorbeigingen. Schließlich setzte auch er den Fuß auf die unterste Stufe.
Als sie eine Dreiviertelstunde später das Ende der Klamm erreicht hatten, waren sie durchnässt. Das leichte Tröpfeln, das begonnen hatte, als sie nach etwa der Hälfte der Klamm aus einem Felstunnel herauskamen, war im Laufe der letzten zwanzig Minuten zu einem richtigen Regenguss geworden. Er hatte die Treppen und Holzstege in glänzende Rutschen verwandelt, sodass sie nur noch langsam vorankamen. Am Ausgang der Höllentalklamm weigerten sich Jenny und Julia, auch nur einen weiteren Schritt zu tun.
»Es bringt doch nichts, jetzt zurückzugehen«, versuchte Ralf sie umzustimmen. »Ihr seid sowieso schon nass. Und jetzt beginnt der schönste Teil der Tour. Außerdem hört es eh gleich auf zu regnen, glaubt mir, ich kenn mich da echt aus. Man kann an der Wolkenformation deutlich erkennen, dass es jeden Moment aufklart.«
»Der Bergfreak hat gesprochen«, kommentierte Denis Ralfs Ausführungen, woraufhin sich alle Blicke auf ihn richteten.
Tim hatte ihn die ganze Zeit über nicht beachtet, daher fiel ihm erst jetzt auf, dass Denis aussah wie ein begossener Pudel. Die sonst so wild abstehenden schwarzen Haare klebten an seinem Kopf und in seinem Gesicht. Die dünne Jacke hatte sich mit Wasser vollgesogen und hing wie ein Sack über seinen knochigen Schultern. Als ihn nun alle begutachteten, verschränkte er trotzig die Arme vor der Brust. »Was glotzt ihr so?«
»Warum behältst du deine dämlichen Kommentare nicht endlich für dich?«, schnauzte Sebastian ihn an. Seine Stimme klang gepresst, und Tim hatte das Gefühl, dass er nur auf einen Grund wartete, um sich mit Denis anlegen zu können.
»Warum? Nur weil ihr euch von … Ralf … irgendeinen Blödsinn erzählen lasst und alles toll findet? Ich sage, was ich denke, basta.«
»Dann wirst du …«
»Ich finde, Ralf hat uns bis hierher gut geführt«, fiel Lena Sebastian ins Wort und wandte sich an Jenny und Julia. »Wollt ihr jetzt wirklich aufgeben und den ganzen Weg allein zurücklaufen? Nur weil es ein bisschen regnet?«
Die beiden Mädchen sahen sich unschlüssig an. »Aber es ist so kalt und eklig«, klagte Julia mit weinerlicher Stimme. Sie wischte sich mit der Hand über die Augen und verschmierte dabei die Wimperntusche, was ihr blasses Gesicht mit den am Kopf klebenden blonden Strähnen etwas gruselig aussehen ließ.
Lena nickte. »Ja, das finde ich auch. Deswegen sollten wir schnell weiter, damit uns wieder warm wird. Hey, ihr könnt mich doch nicht als einziges Mädchen mit den ganzen Jungs hier weiterziehen lassen. Also? Okay?«
Wieder tauschten Jenny und Julia fragende Blicke, doch schließlich nickte auch Jenny. »Also gut.«
»Und du, Julia?« Lena griff in ihre Jackentasche und reichte ihr ein Papiertaschentuch, das auch schon ziemlich durchnässt aussah. »Hier, für deine Augen. Du hast deine Wimperntusche etwas verschmiert.«
Mit einem dankbaren Lächeln nahm Julia das Taschentuch. »Danke. Na gut, gehen wir weiter.«
Lena lächelte zufrieden und warf Ralf einen langen Blick zu, den Tim nicht deuten konnte, der ihm aber überhaupt nicht gefiel.
Eine knappe halbe Stunde später erreichten sie über einen teilweise mit Stufen ausgebauten Weg die Höllentalangerhütte.
Mittlerweile war es kurz nach acht. Die grünen Holzläden waren geschlossen, Tische und Stühle auf der Terrasse fehlten. Auch hier hing ein Schild am Eingang und wies auf das Öffnungsdatum hin.
»Tja, das ist jetzt leider der Nachteil«, sagte Ralf und stemmte die Hände in die Hüften. »Zwei Tage später und wir hätten hier was trinken und uns ein bisschen aufwärmen können.«
»Und vor allem mal wieder etwas trocken werden«, fügte Tim hinzu und lehnte sich an die mit kleinen Holzschindeln verzierte Hüttenwand. Das letzte Stück des Weges war ziemlich steil bergauf verlaufen. Er hatte geschwitzt, was sich in Verbindung mit dem Regen und der Kälte sehr unangenehm anfühlte. Wenn er ehrlich war, hatte er überhaupt keine Lust mehr, weiterzugehen. Er sah zu Lena, die ein paar Meter von ihm entfernt gestanden hatte und nun auf ihn zukam.
»Alles klar bei dir?«, fragte sie.
»Ja, schon.« Tim senkte den Kopf und betrachtete seine durchnässten, matschigen Schuhe. Auch die Hose war bis zu den Knien verdreckt. »Ich hab nur ehrlich gesagt keine Lust mehr. Es regnet, die Hütte ist geschlossen … Nichts läuft so, wie Ralf das geplant hat. Das Ganze war eine Schnapsidee.«
»Aber dafür kann Ralf doch nichts.«
Tim sah zu ihr auf. »Du verteidigst ihn gegen alles und jeden, oder?«
»Quatsch, ich finde nur, er hat das bisher gut gemacht. Und für das Wetter kann niemand was. Er ist der Einzige, der sich hier auskennt. Ohne ihn hätten wir uns wahrscheinlich schon ein paarmal verlaufen.«
»Nein, ohne ihn wären wir gar nicht erst hier.«
Es ärgerte ihn, dass Lena sich so für Ralf ins Zeug legte, und er fragte sich, warum sie das tat. War sie in ihn verknallt? Der Gedanke versetzte Tim wieder einen Stich. Er merkte, dass er wütend auf Ralf wurde. Typen wie ihn kannte er zur Genüge. Wo sie auftauchten, rissen sie gleich die Klappe auf und spielten sich in den Vordergrund. Normale Jungs wie Tim hatten da kaum eine Chance, überhaupt wahrgenommen zu werden. Und leider gab es immer wieder eine Menge Leute, die auf die Ralfs dieser Welt hereinfielen und sie ganz toll fanden. So wie dieser Lucas, der überall wie ein stummer Schatten an Ralf klebte. Auch jetzt stand er wieder direkt neben ihm, die Daumen unter die Trageriemen seines prall gefüllten Rucksacks geklemmt, und stierte stumm in der Gegend herum, als ginge ihn das alles nichts an.
Sogar Lena ließ sich von Ralf blenden. Tim hatte noch nie verstanden, warum Mädchen nicht merkten, dass Typen wie der nur Luftblasen von sich gaben. Er hatte geglaubt, Lena sei anders, aber sie ließ sich offensichtlich auch von dem Geschwätz blenden. Sollte sie halt.
Tim sah auf und stellte irritiert fest, dass Lena mittlerweile mit Jenny zusammenstand. Gerade schlenderte Sebastian zu ihnen, sagte etwas zu Lena und alle drei lachten laut auf. Tim war so in Gedanken versunken gewesen, dass er nicht einmal bemerkt hatte, dass sie gegangen war.
Er betrachtete Sebastian, der ununterbrochen auf Lena einzureden schien. Immer wieder kicherten sie, und als Lena ihm einmal eine Hand auf den Oberarm legte, während sie sich beim Lachen die andere vor den Mund hielt, hatte Tim schon wieder dieses seltsame Gefühl. Am liebsten wäre er zu den dreien gestürmt, um sich zwischen Lena und Sebastian zu stellen. War er etwa … eifersüchtig?
Es war ausgerechnet Ralf, der ihn aus seinen Gedanken riss, als er mit übertrieben zur Schau gestellter guter Laune sagte: »Also Leute, wenn wir jetzt weitergehen, können wir in etwa eineinhalb Stunden an der Hütte sein, zu der ich euch bringen möchte. Dort gibt es einen Ofen und immer genügend Brennholz. Wir werden ein gemütliches Feuerchen machen und lecker essen und trinken. Apropos trinken …« Er zwinkerte Lucas verschwörerisch zu. »Wir haben noch eine kleine Überraschung für euch, da wird euch schnell wieder warm. Aber die gibt’s erst auf der Hütte. Also? Brechen wir auf?«
Janik grinste. »Ich kann mir schon denken, was das für eine Überraschung ist. Also los, worauf warten wir? Berg, wir kommen!«
Es dauerte keine halbe Stunde, bis sie erneut anhalten mussten, und dieses Mal sah es so aus, als sei ihre Tour zu Ende.