29

Tim registrierte noch, dass Sebastian und Janik sich kurz ansahen, dann prallten zwei schwere Körper gegen ihn und ließen ihn rückwärts gegen den Tisch taumeln. Er stieß unsanft mit der Hüfte gegen die Tischkante, dann wurde er schon nach hinten gedrückt. Die Hüttendecke tauchte über ihm auf. Schatten.

»Ihr verdammten Mistkerle!«, brüllte er gurgelnd und begann, sich mit Händen und Füßen zu wehren, doch gegen vier starke Arme hatte er keine Chance.

Von allen Seiten drang plötzlich Geschrei. Tim wehrte sich mit allem, was ihm zur Verfügung stand, und spürte schmerzhafte Griffe und Hiebe am ganzen Körper. Mit dem Fuß stieß er gegen etwas, das polternd umfiel.

»Hört endlich auf, verdammt!«, rief jemand. Tim glaubte, dass es Lena war. Er wollte sich mit einem Ruck aufrichten und wurde so unsanft zurückgedrückt, dass er mit dem Hinterkopf auf der Tischplatte aufschlug. Er schrie auf. Im Hintergrund kreischte eine schrille Mädchenstimme, sie sollten ihn bloß festhalten, bevor er noch jemanden umbrächte.

Dann, von einer Sekunde zur anderen, herrschte plötzlich Ruhe. Sebastian und Janik hatten sich so über Tim gelegt, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Tim atmete schwer, die Luft konnte nicht ganz bis in die letzten Winkel seiner Lunge vordringen, weil das Gewicht auf seinem Brustkorb es verhinderte.

Ein Gesicht schob sich in sein Blickfeld, dessen Anblick Tim beruhigte, noch ehe er realisierte, dass es Lena gehörte.

»Tim, hör auf, bitte«, flehte sie. Ihre Stimme klang so vertraut, wie ein Stück Normalität in einem grauenhaften, fleischgewordenen Albtraum.

»Lasst ihn los«, bat sie die beiden, die Tim festhielten, und als sie nicht gleich reagierten, wiederholte sie es noch einmal. Schärfer, bestimmender. »Lasst ihn los, sage ich!«

Und tatsächlich lockerten sich die Griffe um Tims Arme, ließ der Druck nach, der tonnenschwer auf seinem Brustkorb lastete, und es wurde wieder etwas heller um ihn.

»Wenn er wieder ausrastet, haue ich ihn um«, knurrte Sebastian. Dann war wieder Lenas Gesicht über Tim und nahm seine ganze Sicht ein.

»Komm hoch, Tim«, sagte sie sanft und eine warme Welle schwappte durch seinen Körper. Es tat so unglaublich gut, in Lena wenigstens einen Menschen zu haben, der zu ihm stand. Langsam richtete Tim sich auf und sah sie dabei unentwegt an.

»Danke«, flüsterte er, und es war, als käme dieses Wort direkt aus seinem Herzen. Nein, er würde nicht in dieses furchtbare Loch müssen. Ungeheuer erleichtert lauschte er ihrer Stimme, blickte in ihre Augen. Lena war seine Rettung, sie stand ihm bei gegen Sebastian und Janik und Julia. Auf Lena hörten die anderen.

»Tim, hör mir zu«, unterbrach Lena seine Gedanken überflüssigerweise, denn natürlich hörte er ihr zu. An ihren Lippen hing er förmlich. »Wir müssen diese Nacht irgendwie hinter uns bringen. Morgen früh können wir endlich nach Hause.«

»Ja, ich weiß«, stimmte er ihr bereitwillig zu und dachte daran, wie gern er sie jetzt in die Arme geschlossen hätte. Wie sehr er sich danach sehnte, von ihr in die Arme genommen zu werden.

»Ich weiß, dieser Raum da drüben ist schmutzig und es riecht nicht gut«, fuhr sie fort. »Aber … Tim … bitte. Es hat doch keinen Zweck, wenn du um dich schlägst oder herumtobst. Am Ende wirst du noch verletzt und musst trotzdem da hinein. Lass dich bitte darauf ein, nur für diese paar Stunden. Dann ist alles vorbei und wir können diesen furchtbaren Ort verlassen.«

Tim sah Lenas Augen, ihren Mund, ihr Gesicht. Er hatte ihre Worte gehört und versuchte den Sinn dahinter zu begreifen, aber … er verstand nicht. Es konnte doch nicht sein, dass ausgerechnet Lena …

»Du auch?«, krächzte Tim. Er erkannte seine eigene Stimme nicht mehr, sie klang brüchig, heiser, wie die eines Greises. »Lena? Du auch?«, wiederholte er und spürte, wie Tränen über seine Wangen liefen. Er schämte sich nicht deswegen, er registrierte es kaum. Es war ihm egal. Mit einem Mal war alles egal. »Du hast also auch Angst vor mir? Du denkst, wenn …«

»Nein, Tim, das ist nicht wahr. Ich habe keine Angst vor dir, bestimmt nicht. Ich möchte doch nur, dass nicht alles noch schlimmer wird. Für dich.« Doch ihre Worte klangen hohl in seinen Ohren.

Er spürte, wie sich in seinem Inneren eine nie gekannte Leere ausbreitete. Es war ein Vakuum, das alles an irgendeinem Punkt in seinem Körper zusammenzog.

Tims Augen lösten sich von Lenas, er senkte den Kopf.

»Gut.« Es kam so leise aus ihm heraus, dass ihn nicht einmal Lena verstanden hatte, die direkt vor ihm stand.

»Was hast du gesagt?«

Tim hob den Kopf nicht, als er nun lauter wiederholte: »Gut.«

»Gut, was?«, hakte Sebastian nach.

»Ich werde in der Kammer schlafen. Ich tue alles, was ihr wollt.« Mit einer langsamen Bewegung hob er die Arme und hielt Sebastian die ausgestreckten Hände entgegen. »Fessle mich, dann geh ich rüber.«

Als er den Kopf hob, sah er, dass auch Lena weinte. Sebastian zog den Schnürsenkel aus seinem rechten Schuh und begann, Tims Hände umständlich damit zu fesseln. Niemand sprach ein Wort. Alle außer Fabian und Denis starrten wie gebannt auf Tims Handgelenke.

Als Sebastian die beiden Enden so heftig zusammenzog, dass sie in Tims Fleisch einschnitten, griff Janik ein. »He, nicht so fest. Sollen ihm die Hände abfallen?«

Tim hatte den Schmerz registriert, aber auch das war ihm gleich. Nichts war mehr wichtig.

Janik nahm Sebastian die dünnen Schnüre ab, lockerte sie etwas und machte dann einen Knoten. Anschließend betrachtete er die Fessel von allen Seiten und nickte zufrieden. »Fertig.«

Tim ließ sich von der Tischplatte rutschen, auf der er noch immer saß, und sah noch einmal zu Lena, die seinen Blick traurig erwiderte. Dann schlurfte er stumm in den Nebenraum und drehte sich nicht mehr um.

Der Geruch in der dunklen Kammer schlug ihm sofort auf den Magen und er kämpfte gegen den Reflex an, sich zu übergeben. Ohne viel darüber nachzudenken, setzte er sich an der gegenüberliegenden Wand auf den Boden und starrte auf die schräg in den Raum stehende Tür. Sebastian hatte am Eingang ungeduldig gewartet, bis Tim saß. Nun wandte er sich schnell ab.

»Kommt mal her und helft mir«, hörte Tim ihn sagen. Bald darauf entstand Bewegung im Hauptraum. Kurz danach schoben sie den Schrank vor den Eingang. Er schien sehr schwer zu sein, denn sie brauchten lange.

Tim zog sich zurück aus dem stinkenden, nun fast komplett dunklen Raum. Der Schrank ließ zu beiden Seiten durch schmale Spalte ein wenig Kerzenlicht in Tims Gefängnis kriechen. Es war kaum ausreichend, die Hand vor Augen zu sehen. Doch auch das war ihm egal.

Während einige dort draußen überlegten, zur Sicherheit abwechselnd Wache zu halten, kroch Tim in den hintersten Winkel seiner inneren Burg und weinte dort hemmungslos. Darüber, was sie mit ihm taten. Dass sie ihn wie einen Verbrecher behandelten. Aber am meisten weinte Tim, weil sie vielleicht recht hatten.

Weil sie wahrscheinlich recht hatten.

Diese Sache von damals stand plötzlich wieder so klar vor ihm, als wäre es erst wenige Tage her, dass er seiner eigenen Mutter ein Messer in den Arm gerammt hatte. Tim erinnerte sich an das Gefühl, als sein Vater ihm im Krankenhaus erzählte, was er getan hatte. Es war eine Mischung aus Unverständnis und ungläubiger Fassungslosigkeit gewesen. Ihm wollte nicht in den Sinn, dass er zu solch furchtbaren Dingen fähig war, noch dazu, ohne etwas davon zu wissen. Tim erinnerte sich auch an die Angst davor, es wieder zu tun.

Er hatte sich gefühlt wie in diesem Moment.

Die ungute Ahnung, dass er Ralf tatsächlich etwas angetan hatte, wurde immer stärker. Es war schon mehr als nur bloße Ahnung, es war …

Ein Geräusch zog sein Bewusstsein wieder nach draußen, zurück in diesen Albtraum, der die Wirklichkeit zu sein schien.

»He, Tim …«

Es dauerte, bis Tim erkannte, dass die Stimme von dem Durchgang kam, der mit dem schweren Schrank zugebaut war. Tim versuchte, sich über den seltsamen Klang klar zu werden. Es konnte eine Mädchenstimme sein, und sie klang wie ein … lautes Flüstern.

»Tim, hörst du mich?«

»Ja.«

»Ich möchte dich mal was fragen.«

»Wer bist du?«

»Julia.«

»Lass mich in Ruhe.«

»Hör mal … Was mich interessieren würde: Wie ist das so, wenn man schon mal versucht hat, jemanden umzubringen?«

Tims Oberkörper straffte sich. »Was?«

»Na, ich möchte wissen, was das für ein Gefühl ist, wenn man ein Messer in die eigene Mutter gestochen hat. Und letzte Nacht in einen Freund.«

»Gar kein Gefühl, weil ich mich an nichts erinnere!«

Sie kicherte leise. »Ja, ist ein toller Trick. Habe ich in einem coolen Film gesehen. Da hat der Mörder auch behauptet, sich an nichts erinnern zu können. Der ist dann später in eine Klapse gekommen und war nach wenigen Jahren wieder draußen. Wird bei dir ja vielleicht auch funktionieren.«

Tims Puls beschleunigte sich. »Verschwinde endlich!«, rief er zum Durchgang hin. »Du spinnst doch total.«

Wieder dieses Kichern. »Ich glaube, da verwechselst du was. Der durchgeknallte Spinner bist du.«

»Verpiss dich, verdammt!«

»Stell dir mal vor, die finden Ralf nicht und lassen dich nach Hause. Und du fällst dann wieder über deine Mutter her. Das wäre gruseliger als in dem Film.«

Bei Tim brannten die Sicherungen durch. Er sprang auf und wurde sich dessen erst bewusst, als er schon stand. Mit zwei langen Sätzen hatte er den Durchgang erreicht und warf sich mit voller Wucht gegen den Schrank, der daraufhin bedrohlich wackelte.

»Du dämliche Kuh!«, schrie er. »Wenn du nicht sofort verschwindest, schmeiße ich diesen beschissenen Schrank um, und dann kannst du dich auf was gefasst machen! Ich werde dir zeigen, wie es ist, wenn ein durchgeknallter Spinner rotsieht.« Wütend schlug er mit den gefesselten Händen gegen den Schrank. »Ich habe nichts mitbekommen von dem, was ich damals getan habe. Und was mit Ralf ist, weiß niemand! Geht das in deinen Schädel?«

»Hey, was ist denn hier los?«, mischte sich draußen jemand ein. Tim glaubte, Sebastians Stimme erkannt zu haben.

»Ich wollte mich nur ein bisschen mit ihm unterhalten«, nörgelte Julia mit plötzlich kindlicher Stimme. »Da ist er total ausgetickt und hat sich gegen den Schrank geworfen. Nur gut, dass ihr ihn eingesperrt habt. Echt voll der Psycho.«

»Meine Rede. Leg dich besser hin. Lucas löst dich ab und wird in den nächsten zwei Stunden aufpassen, dass unser Psycho schön da drinnen bleibt.«

Tim drehte sich um, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Schrankrückwand und ließ sich langsam daran hinabgleiten, bis er auf dem Boden saß. Draußen wurde noch einige Zeit geredet und gemurmelt, dann kehrte Ruhe ein.

Tim saß da und starrte lange in die stinkende Dunkelheit. Als er nach einer unendlich scheinenden Zeit hörte, dass nebenan jemand weinte, vergrub er das Gesicht in seinen Händen und teilte Lenas Tränen.