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Als sie nach Ralfs Anweisungen die ersten Schritte in den Hang machten, wurde Tim klar, dass zumindest die Steinschlaggefahr geringer war, als er befürchtet hatte. Das lag daran, dass sie nicht hintereinander, sondern nebeneinander kletterten. Schon nach den ersten Metern wurde es so steil, dass sie sich schräg nach vorn fallen lassen mussten, um sich mit den Händen an den meist scharfkantigen Steinen festzuhalten.
Tim kletterte direkt neben Lena und warf ihr Blicke zu, wann immer es ging. Meist jedoch musste er sich auf den unebenen Untergrund konzentrieren und aufpassen, wohin er seine Füße setzte.
Der Regen war noch stärker geworden und auch der Wind hatte deutlich zugelegt. Er blies in starken Böen über den Hang und zerrte zornig an ihren Jacken und Rucksäcken.
»Sieht nicht danach aus, als ob der Regen nachlässt«, rief Tim zu Ralf hinüber. Seltsamerweise war der Ärger, den er in der letzten Stunde Ralf gegenüber empfunden hatte, seit seiner Unterhaltung mit Lena wie weggezaubert. Tim fühlte sich in ausgesprochener Gönnerstimmung und verzieh Ralf seine kleinen Angebereien.
Zwischen ihnen hangelte sich Lucas auf allen vieren nach oben. Der prall gefüllte Rucksack wölbte sich kugelartig auf seinem Rücken und ließ ihn aussehen wie einen seltsamen Riesenkäfer.
»Wart’s ab«, sagte Ralf keuchend. »Das kann sich hier in den Bergen ganz schnell ändern.«
Schon nach vier oder fünf Minuten hatte Tim das dringende Bedürfnis, eine Pause einzulegen. Der Aufstieg über den extrem holprigen, abschüssigen Untergrund gestaltete sich enorm anstrengend. Er dachte an Jenny und Julia und entdeckte sie schräg unter sich. Sie waren ein gutes Stück zurückgefallen. Tim hielt an und rief den anderen zu: »Wartet mal auf Julia und Jenny!«
Es schien für alle eine willkommene Gelegenheit zu sein, sich kurz auszuruhen.
Als sie nach einer Viertelstunde etwa zwei Drittel des Aufstiegs geschafft hatten, rutschte Sebastian mit der Hand von einem scharfkantigen Stein ab und zog sich eine Schnittwunde zu. Sie war nicht allzu tief, blutete aber. Wie sich herausstellte, hatte niemand Pflaster oder Verbandsmaterial eingepackt, auch Ralf nicht.
»Wie gut, dass wir den erfahrenen Bergfreak dabeihaben.« Denis mühte sich ganz außen neben Lena den Hang hinauf, daher hatte niemand außer Lena und Tim seine Bemerkung gehört. Einerseits nervte es Tim, dass Denis zu allem einen zynischen Kommentar abgab, aber letztendlich hatte er meist recht mit dem, was er sagte. Ein wirklich erfahrener Bergwanderer hätte sie nicht ohne Ausrüstung auf diese Tour mitgenommen. Außerdem hätte er eines der Notfallpakete dabeigehabt, die jeder Unterkunft zugeteilt worden waren – wahrscheinlich hätte es diese ganze Tour gar nicht erst gegeben. Bisher hatten sie großes Glück gehabt, dass noch nichts passiert war. Tim hoffte, dass es so blieb.
Es dauerte insgesamt weit über eine halbe Stunde, bis Julia als Letzte oben angekommen war. Alle waren erschöpft, aber froh, die Kletterei einigermaßen heil überstanden zu haben.
»Na, habe ich es euch nicht gesagt?« Die Worte kamen stoßweise, während Ralf den Rucksack abnahm und sich mit einem Seufzer daraufsetzte. »Alles halb so wild.«
Tim bezweifelte, dass alle ihn gehört hatten. Der Wind war mittlerweile so stark geworden, dass er Ralf die Worte regelrecht vom Mund pflückte und mit sich riss.
Tim legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den bedrohlich dunklen Himmel. »Das sieht nicht gut aus«, sagte er laut in Ralfs Richtung, und obwohl der nur zwei Schritte neben ihm saß, musste er es wiederholen.
Zu seiner Überraschung nickte Ralf, erhob sich und kam näher. »Ja, stimmt, ist ein ziemlicher Mist. Ich hatte gehofft, es lässt nach, aber scheinbar zieht da was Dickeres durch. Wir sollten schnell weiter, damit wir die Hütte erreichen, bevor es richtig losgeht.«
»Wie lange brauchen wir noch bis dahin?«, wollte Lena wissen, die ebenfalls zu ihnen gekommen war.
Ralf wiegte den Kopf hin und her. »Schwer zu sagen. Ich schätze mal eine Stunde.«
Tim nahm seine Wasserflasche aus dem Rucksack, machte ein paar Schritte zum Rand und spähte den Abhang hinunter. »Das war nicht ohne. Kommen noch mehr dieser netten Hügel?«
Ralf schüttelte den Kopf. »Nein, aber wir müssen gleich noch eine Wand an Trittbügeln hoch. Keine Angst, das ist wie auf eine Leiter steigen. Danach biegen wir vom allgemeinen Weg ab, laufen erst durch ein kleines Waldstück und dann schräg hoch bis zu der Hütte. Das ist aber nicht mehr steil.«
Die Wand mit den Trittbügeln erreichten sie nach zehn Minuten, in denen der kalte Regen ihnen unangenehm ins Gesicht peitschte. Die Windböen hatten an Heftigkeit zugenommen, teilweise prallten sie mit einer solchen Wucht gegen ihre Körper, dass sie einen Schritt zur Seite oder zurück machen mussten, um nicht zu fallen.
Der Fels erstreckte sich etwa fünfzig, sechzig Meter senkrecht nach oben. Die Trittbügel waren in die Breite gezogene, u-förmige Eisenstangen, die im Abstand von einem halben Meter übereinander angebracht waren, was tatsächlich etwas von einer Leiter hatte.
»Das wird bei dem Wind nicht einfach«, sagte Ralf, als alle stehen blieben und die Ersten ihre Rucksäcke abnehmen wollten. »Wir müssen da hoch, bevor der Wind und der Regen noch schlimmer werden. Und bevor jemand den Vorschlag macht – nein, es gibt keinen anderen Weg zurück als den über die Schrofen. Und da würde ich bei dem Wetter jetzt auch nicht mehr runtergehen. Wir müssen also weiter. Beeilen wir uns. Aber passt auf, das ist jetzt wirklich nicht ungefährlich.«
Anders als zuvor redete nun niemand mehr davon, umzukehren, was Tims Ansicht nach damit zusammenhängen konnte, dass Ralf nichts mehr herunterspielte und die Gruppe ihm deshalb vielleicht mehr vertraute. Der nächste Windstoß kam so überraschend, dass er Jenny von den Beinen stieß. Janik und Sebastian waren mit wenigen Schritten bei ihr und halfen ihr wieder auf. Tim glaubte in Lenas nassem Gesicht ernsthafte Sorge zu erkennen. Er ging nah genug an sie heran, um nicht gegen den Wind anschreien zu müssen. »Alles okay?«
Sie nickte. »Ja, aber ich wäre jetzt doch froh, wenn wir bald in der Hütte wären.«
»Ich auch.«
Zwei Minuten später machte Lena sich als Erste an den Aufstieg. Tim hielt sich dicht hinter ihr.
Sie hatten abgemacht, dass sie trotz aller Eile aus Sicherheitsgründen in Zweierteams kletterten. Jedes Team würde warten, bis die beiden vor ihnen oben angekommen waren.
Sobald Lenas Fuß sich vom nächsten Bügel gelöst hatte, griff Tim danach. Meter für Meter zogen sie sich langsam höher und hatten es fast geschafft, als eine heftige Böe sie erfasste. Tim krallte reflexartig die Finger um die Eisenstange und hörte gleichzeitig über sich einen spitzen Schrei. Er legte den Kopf in den Nacken und sah wenige Zentimeter über seinem Gesicht noch Lenas strampelnde Füße, bevor sie den Eisenbügel ertastet hatte, an dem er sich gerade hochdrücken wollte. Im allerletzten Moment schaffte er es, seine Hand unter ihrem Schuh herauszuziehen, bevor sie ihr Gewicht darauf verlagerte.
Auch von unten waren jetzt Schreie und Rufe zu hören.
»Alles okay bei dir?«, rief er nach oben.
»Ja … Mein Gott, das … war knapp.« Lena war außer Atem. »Ich bin … abgerutscht und … wäre fast … gestürzt.«
»Geht’s wieder?«
»Ja, gleich.«
»Hey, da oben! Alles klar?« Das war Ralf.
»Ja, geht gleich weiter.«
Zwei Minuten später zog Tim sich kurz nach Lena über den Rand und blieb erst einmal neben ihr auf dem nassen Fels liegen. Hier blies der Wind noch heftiger als unten.
»Mein Gott, das ist ja fast ein ausgewachsener Sturm!«, rief er ihr zu. »Hast du dich verletzt?«
»Nein, alles gut. Aber das Wetter macht mir Angst.«
Tim sah zum Himmel, wo sich etwas Schwarzes bedrohlich schnell zusammenbraute.
»Mir auch«, sagte er, aber so leise, dass Lena es nicht hören konnte.