10
Es kostete sie große Überwindung, nach einer Weile den halbwegs geschützten Platz zu verlassen und sich wieder gegen das Unwetter zu stemmen. Ihnen war kalt, aber die nasse Kleidung hatte sich an ihren Körpern zumindest ein wenig aufgewärmt. Als erneut der heftige Regen sie mit seinen eiskalten Stichen folterte und ihre Kleidung aufs Neue durchnässte, begannen Tims Zähne in einem wilden Stakkato aufeinanderzuschlagen, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Tatsächlich hatte er das Gefühl, dass Wind und Regen noch aggressiver, noch kälter geworden waren.
Immer wieder stöhnte oder schrie jemand auf, der von umherfliegenden Teilen getroffen wurde. Die schwarzen Wolken über ihnen waren in ständiger Bewegung, so als formierten sie sich neu für den finalen Schlag der Natur gegen das kleine Grüppchen hilfloser Menschen.
Tim versuchte, den Anschluss an Ralf nicht zu verlieren und gleichzeitig Lena mit sich zu ziehen. Er spürte, dass ihre Energie schwand und er immer mehr Kraft aufwenden musste, damit sie nicht zurückfielen. Manchmal, wenn er den Kopf hob, um sich zu orientieren, wusste er im ersten Augenblick nicht mehr, ob sie noch geradeaus gingen oder abdrifteten. Sie waren Spielbälle dieses unglaublichen Orkans, und er trieb sie, wohin er wollte. Ralf schien es irgendwann aufgegeben zu haben, einen bestimmten Weg einzuschlagen, denn Tim fiel auf, dass sie jedes Mal die Richtung änderten, wenn der Wind ihnen entgegenschlug.
Einige Male versuchten sie, stehen zu bleiben und zu rasten, doch das gelang ihnen nicht, sie wurden einfach weitergedrückt, hinein in den Berg mit seinen Stolperfallen aus Geröllmassen, Steinen und Wurzeln. Tim wagte es nicht, sich vorzustellen, wie seine Beine und Knie nach den vielen Stürzen aussahen.
Willenlos ließen sie sich von dem Sturm vorantreiben und verwendeten ihre letzte noch vorhandene Energie darauf, zusammenzubleiben.
Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, brach über ihnen auch noch ein Gewitter los, wie es sich Tim in seinen schlimmsten Albträumen nicht hätte vorstellen können.
Innerhalb weniger Minuten wurde der Himmel pechschwarz und der erste gewaltige Blitz zuckte in einem wirren Zickzackkurs darüber. Innerhalb von zwei Sekunden folgte ein Donner von solcher Gewalt, dass Tim das Gefühl hatte, sein Trommelfell müsste platzen. Der nächste Windstoß ließ sie schreiend durcheinander zu Boden stürzen.
Jetzt ist alles aus, dachte Tim. Das überleben wir nicht.
Er robbte näher an Lena heran, die von dem Wind ein Stück von ihm entfernt zu Boden geworfen worden war und den Kopf in die Armbeuge gedrückt hatte. Er schrie ihren Namen, so laut er konnte, nahm es jedoch selbst nur als Vibration in seinem Körper wahr. Zu laut war das apokalyptische Chaos um ihn herum. Stumm kauerte er sich neben ihr auf den Boden.
Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten. Darauf, dass das Gewitter aufhörte? Dass man sie rettete? Dass … Er wusste nicht, worauf. Er spürte Schläge am Körper, reagierte aber schon gar nicht mehr darauf.
Irgendwann packte ihn jemand fest an der Schulter, und Tim hob den Kopf, so gut es ging. Neben ihm kniete Janik und schrie etwas, das er aber nicht verstehen konnte. Er sah sich nach Lena um, aber sie war verschwunden. Mit einem Ruck drückte Tim seinen Oberkörper hoch und blickte sich panisch nach allen Seiten um. Einige Meter neben ihm kämpfte sich jemand auf Händen und Knien mühsam vorwärts. Tim glaubte, die Jacke von Jenny zu erkennen. Wieder stieß Janik ihn an und deutete schräg hinter sich. Tims Blick folgte der Richtung, und schließlich sah er, was Janik meinte. Nicht weit entfernt schälten sich tatsächlich verschwommen die dunklen Umrisse einer Hütte aus den Regenmassen. Die anderen waren alle schon auf dem Weg dorthin. Lena hatte sie fast erreicht. Sie krabbelte auf das Gebäude zu. Ralf war schräg neben ihr, nur etwa einen halben Meter zurück. Er hatte ihr eine Hand auf den Hintern gelegt und drückte sie vorwärts.
»Lena«, schrie Tim. »Leeenaaaa!«
Es nutzte nichts, sie konnte ihn nicht hören. Nicht einmal Janik konnte ihn hören, der sich mittlerweile auch auf den Weg zur Hütte gemacht hatte und schon ein Stück entfernt war.
Mit aller Kraft schob Tim sich vorwärts. Für drei, vier kurze, aber anstrengende Bewegungen, mit denen er sich vielleicht zwei Meter vorwärtsarbeitete, drückte die Gewalt des Orkans ihn wieder einen halben Meter zurück. Ihm schoss der Gedanke durch den Kopf, warum die verdammte Hütte nicht in Windrichtung liegen konnte.
Er schätzte die Entfernung. Es mochten vielleicht zwanzig Meter sein, aber die konnten in dem Chaos um ihn herum genauso unüberwindbar ausfallen wie die Strecke zum Mond.
Tim war schon jetzt am Ende seiner Kräfte und bezweifelte, dass er es bis zu dem kleinen Gebäude schaffte. Immer wieder drückte der Wind ihn nieder oder warf ihn zurück, und jedes Mal sammelte Tim für einen Moment seine Kräfte und schob seinen schmerzenden Körper wieder vorwärts. Er dachte an Lena und suchte das Gelände vor sich ab, fand sie aber nicht. Sie musste die Hütte mittlerweile erreicht haben. Mit Ralfs Hilfe. An ihrem Hintern. Tim stieß einen Schrei aus und aktivierte alle Reserven. Die Hälfte der Strecke hatte er bewältigt, den Rest würde er jetzt auch noch schaffen! Zu Lena. Wo Ralf schon war …
Es dauerte noch gute zehn Minuten, bis Tim schließlich als Letzter den etwa einen Meter breiten Dachüberstand erreicht hatte. Schon ein Stück davor ließ die Stärke des Windes etwas nach.
Die Tür ließ sich nur schwer aufdrücken, doch endlich schaffte er es und betrat das Innere. Als er die Tür hinter sich schloss, brach das Heulen und Tosen so unvermittelt ab, dass die plötzliche relative Stille wie Watte gegen seine Ohren drückte. In der Hütte war es noch dunkler als draußen, und es dauerte eine Weile, bis sich erste schwache Konturen für Tims Augen erkennbar von der Umgebung abhoben. Links von ihm drückte sich verwaschenes Licht durch die Ritzen von geschlossenen Fensterläden.
Der Raum mochte etwa vier Meter breit und sechs oder sieben Meter lang sein. Einrichtungsgegenstände gab es kaum. Zwei Gestalten saßen auf irgendwas, vermutlich auf Hockern, der Rest von ihnen hockte offenbar verteilt auf dem Boden. Neben den Hockern stand an der Wand ein Tisch, gegenüber glaubte Tim den Schatten eines Schranks oder Regals zu erkennen.
Dass niemand etwas sagte, machte die Situation gespenstisch. Nun erst, wo sich auch seine Ohren an die Verhältnisse innerhalb der Hütte gewöhnt hatten, fiel ihm das Heulen, Knirschen und Klappern auf, das der Sturm rund um die Hütte verursachte.
»Willkommen im Urlaubsparadies«, sagte eine Stimme vom Boden her, die Tim als die von Janik identifizierte.
»Mann, ich dachte, das überleb ich nicht da draußen.« Tim zog den Rucksack von den Schultern und stellte ihn neben sich ab. »Ich würde sagen, wir haben ziemliches Glück gehabt. Immerhin ist es hier trocken und windstill. Wie seid ihr überhaupt hier reingekommen? War die Tür offen?«
»Nein, war aber kein Problem«, sagte Janik. »Ist allerdings jetzt ein Einbruch.«
»Ich denke, bei dem Wetter wird man das verstehen.«
»Ja, ja, und gleich kommt der Zimmerservice und schüttelt die Betten auf. So ein verdammter Mist!« Das musste Sebastian gewesen sein. »Wir sitzen irgendwo an diesem Berg fest und haben weder eine Ahnung, wo wir sind, noch jemanden dabei, der sich auch nur ein bisschen auskennt.« Der letzte Teil war zweifelsfrei an Ralf gerichtet, der sich zu Tims Verwunderung jedoch zurückhielt. Überhaupt, Ralf …
»Lena? Wo bist du?«
»Hier«, antwortete sie von einem der Hocker. Tim hatte so eine Ahnung, um wen es sich bei der Gestalt auf dem anderen Hocker handelte.
»Geht es dir gut?« Sobald ihm die Worte über die Lippen kamen, wurde ihm klar, dass nun wirklich alle kapieren mussten, was er für Lena empfand. Und ihm wurde auch klar, dass er es aus genau diesem Grund gesagt hatte.
»Ja, einigermaßen. Ich hab ein paar Schürfwunden, aber nichts Schlimmes.«
Tims Augen gewöhnten sich immer mehr an die schummrigen Lichtverhältnisse, sodass er mittlerweile auch die einzelnen Gesichter erraten konnte. Es war tatsächlich Ralf, der da auf dem Hocker neben Lena saß.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Julia, während Tim dem dringenden Bedürfnis nachgab, sich ebenfalls einfach auf den Boden fallen zu lassen.
»Erst mal froh sein, dem Sturm entkommen zu sein«, sagte Ralf.
Sebastian stieß laut schnaubend den Atem aus. »Den es laut deiner brillanten Vorhersage ja gar nicht geben dürfte.«
»Entkommen, sagst du?« Das war Denis’ Stimme. Tim hatte ihn bis dahin noch nicht entdeckt, weil er in der hintersten Ecke kauerte. »Freak!«
»Immerhin sitzen wir im Trockenen«, beharrte Ralf. Es hörte sich trotzig an.
»Wir sitzen hier fest trifft es wohl eher. Hör verdammt noch mal auf, die Situation schönzureden, in die du uns gebracht hast.« Sebastians Stimme hörte sich immer wütender an. »Wir sitzen hier, weil der große Bergführer und Wetterkenner sicher war, dass es kein Unwetter gibt. Weil er den bekannten Weg verlassen musste und sich prompt verlaufen hat. Und eben weil er den bekannten Weg verlassen hat, werden die Bergretter, die jetzt da draußen wahrscheinlich ihr Leben riskieren, um uns zu finden, vollkommen umsonst suchen. Wer weiß, vielleicht verunglückt der eine oder andere sogar, weil sie natürlich die bekannten Wege absuchen. Wer kann denn auch damit rechnen, dass jemand so bescheuert ist, auf einem Berg im schlimmsten Orkan des Jahres einfach querfeldein zu laufen?!«
Sebastian war mit jedem Satz lauter geworden und Tim war froh, dass er aufzuhören schien, bevor er sich vollkommen in Rage geredet hatte. Der große, muskulöse Kerl war nur schwer berechenbar.
»Sie werden nicht nach uns suchen.« Etwas an der Art, wie Ralf das gesagt hatte, alarmierte Tim. Bevor er aber darüber nachdenken konnte, riss plötzlich ein heller Lichtkegel Fabians Gestalt aus der Dunkelheit und wanderte dann quer durch den Raum.
»Es werde Licht«, sagte Janik und blinzelte, als der blendende Schein plötzlich auf ihm lag. »He, lass das! Wer ist das überhaupt?«
Es war Lucas, der mit der Taschenlampe eines der Geheimnisse seines Rucksacks gelüftet hatte.
»Wenn wir schon eine Taschenlampe haben, sollten wir nachsehen, ob es hier was Brauchbares gibt«, schlug Janik vor. »Kann ja sein, dass wir ein paar Stunden festsitzen.«
Er ahnte nicht, wie sehr er sich verschätzte.