15

Tim musste schließlich doch eingeschlafen sein, denn er war vollkommen benommen, als er erschrocken den Kopf hob.

Die Szene um ihn herum hatte sich verändert. Die anderen hatten umgeräumt und waren dichter zusammengerückt. Sie saßen nun in einem engeren Kreis auf dem Boden. In ihrer Mitte lagen einige Brotreste, ein wenig Obst, Margarine-und Marmeladendöschen, dazu ein kleiner Rest Aufschnitt in einem Meer aus Krümeln. Dazwischen standen einige leere Cola-und Orangensaftflaschen und mehrere brennende Kerzen.

Alle schienen durcheinanderzureden, während draußen der Sturm noch immer wütend um die Hütte fegte. Tim fragte sich, wie in dieser Geräuschkulisse überhaupt jemand etwas verstehen konnte. Er schlug die Decke zurück und zog sie sofort wieder über sich, als die kalte Luft wie eine riesige eisige Hand nach seinem schlafwarmen Körper griff.

Er versuchte, aufzustehen und die Decke dabei wie einen Mantel um sich zu schlingen. Es kostete ihn einige Mühe, seine Beine fühlten sich steif an.

»Ah, der Schläfer ist erwacht«, sagte Ralf, als Tim endlich stand. »Komm rüber, wir sind gerade beim Essen.«

Tim fühlte sich noch immer benommen und fragte sich, wie lange er wohl geschlafen hatte. Irgendwann musste er sich doch angewöhnen, eine Armbanduhr zu tragen. »Wie spät ist es?«, fragte er in die Runde.

»Schon fast sechs, du Faultier«, antwortete Lena und deutete ihm an, sich zu ihr zu setzen. Er hockte sich neben sie auf den Boden, nachdem Janik für ihn Platz gemacht hatte.

Tim nickte ihm dankbar zu. »Wie sieht es da draußen aus? Hört sich ja noch nicht viel besser an.«

Janik schüttelte den Kopf. »Nee, ist eher schlimmer geworden.«

Lena deutete auf die Reste in der Mitte. »Du solltest etwas essen, bevor gar nichts mehr übrig ist.«

Tim winkte ab. »Schon okay, ich hab ja auch noch was in meinem Rucksack.«

»Das glaube ich nicht. Sie haben alles in der Mitte aufgetürmt, was da war.«

»Was?« Tim stand mit einem Ruck auf; die Decke glitt von seinen Schultern. Er ging zum Tisch. Dort musste irgendwo sein Rucksack stehen. Er fand ihn recht schnell und sah sofort, dass es stimmte, was Lena gesagt hatte. »Sagt mal, Leute, was ist denn mit euch los? Ihr geht einfach so an meinen Rucksack und nehmt euch raus, was ihr wollt?«

»Wir hatten Hunger, und jeder hat sein Zeug dazugegeben«, erklärte Sebastian, und der Ton, in dem er das tat, ließ den Schluss zu, dass er das für vollkommen richtig hielt.

Einem Impuls folgend, öffnete Tim das vordere Fach des Rucksacks und steckte seine Hand hinein. Es war leer. Sein neues, großes Schweizer Taschenmesser mit allen möglichen Werkzeugen daran, ein Geschenk seines Onkels für seinen Urlaub im Bergcamp … es war verschwunden.

»Wo ist mein Messer?«, fragte er und sah Ralf dabei an.

»Hier ist es, nur keine Panik.« Sebastian hielt es ihm entgegen. Es war noch aufgeklappt, die Klinge sah verschmiert aus. »Du scheinst der Einzige zu sein, der an eins gedacht hat. Unser Bergführer hat auch keins dabei.«

Tim nahm ihm das Messer aus der Hand, wischte die Klinge an seiner Hose sauber und klappte es zusammen. Dann steckte er es wieder in das Fach seines Rucksacks und ging anschließend zu seinem Platz neben Lena zurück. Er setzte sich und sah sie an. »Du hättest mich ruhig wecken können, als sie an meine Sachen gingen.«

»Aber das habe ich doch. Du hast gesagt, es wäre schon in Ordnung. Dann hast du weitergeschlafen. Weißt du das denn nicht mehr?«

Tim versuchte sich zu erinnern, aber da war nichts, nicht einmal eine Ahnung. »Nein, ich habe wohl im Halbschlaf geantwortet.« Er wusste, er konnte alles Mögliche mit Lena gesprochen haben, ohne sich daran erinnern zu können. Weil er eigentlich tief geschlafen hatte. Sein Ärger verrauchte und machte wieder diesem mulmigen Gefühl Platz, das er immer hatte, wenn er … wenn er befürchten musste, wieder Dinge getan zu haben, von denen er nichts ahnte.

»Es ist ja auch noch was zu essen da«, meldete Ralf sich zu Wort. Dann griff er hinter sich und reichte Tim die Wodkaflasche. Sie war schon zu zwei Dritteln geleert. »Hier, trink mal einen kräftigen Schluck, das wärmt.«

Tim nahm die Flasche und setzte sie ohne Zögern an. Der Wodka brannte, aber er tat ihm gut. So gut, dass er gleich noch einen zweiten, kräftigeren Schluck nahm.

Als er die Flasche schließlich absetzte, streckte Lucas die Hand danach aus. Soweit Tim es in dem flackernden Kerzenlicht beurteilen konnte, sahen seine Augen schon recht glasig aus. Die Flasche schien schon öfter bei ihm gelandet zu sein. Er nahm sie Tim aus der Hand, prostete ihm damit zu und sagte, nun an Ralf gewandt: »Auf den Chef.« Es hörte sich an wie: Aufffen Cheff.

»Ach komm, lass den Quatsch«, tat Ralf verlegen und grinste dümmlich.

»Nein. Du bist doch der Chef. Du gibst Befehle, und ich …«, wieder hob Lucas die Flasche, »… führe sie aus. Prost.«

Alle Augen waren mittlerweile auf die beiden gerichtet. »Sag’s ihnen ruhig«, lallte Lucas und deutete mit der freien Hand in die Runde. »Sag ihnen, was dein Vater mit meinem Vater macht, wenn ich nicht tue, was du mir sagst.«

Tim fühlte sich peinlich berührt, und er merkte, dass es einigen anderen auch so ging. Er hätte die bedrückende Situation gerne beendet, aber seine Gedanken wollten sich nicht so recht mit einer Lösung befassen. Zu sehr hingen sie noch an der Tatsache fest, dass er sich mit Lena unterhalten hatte, ohne sich daran erinnern zu können.

»Ja, sag’s uns, Ralf«, mischte Sebastian sich mit einem eigenartigen Grinsen ein. »Würde mich echt interessieren, was dein Vater mit seinem Vater macht.«

»Ach, das ist doch alles Quatsch.«

»Ja, lasst uns lieber überlegen, wie es weitergehen soll«, sagte Jenny. »Glaubt ihr denn, es gibt gar keine Chance, dass die uns hier finden? Ich meine … die müssen doch längst gemerkt haben, dass wir nicht auf dem normalen Weg sind.«

Lucas stieß ein seltsames Lachen aus. Es klang leicht irr. »Na los, erzähl ihnen, wie groß die Chance ist, dass sie uns suchen!«

»Mann, jetzt hör auf damit, das nervt!«, fuhr Janik ihn an.

Tim sah, wie sich Lucas’ Gesichtsausdruck veränderte. Starr glotzte er Ralf an. »Sag es ihnen, sonst tu ich es.«

Auch Ralf wurde nun sehr ernst. Er betrachtete eine Weile die Essensreste in der Mitte, dann sah er zu Lucas. Der sagte mit einer Stimme, die Tim einen Schauer über den Rücken jagte: »Du wirst mich nicht mehr erpressen mit dem Job meines Vaters. Sag ihnen, was du auf den Zettel geschrieben hast.«

Sekunden vergingen, in denen niemand auch nur flüsterte. Alle starrten Ralf an. Der Sturm hämmerte gegen die Wände, als forderte auch er, dass endlich gesagt wurde, was auch immer zu sagen war.

»Ich … also …« Ralf räusperte sich mehrmals. »Lucas hat recht, man wird uns nicht suchen. Nicht hier und auch nicht auf den normalen Wanderwegen.«

»Aber warum?«, fragte Lena. »Gehen die bei dem Wetter gar nicht erst los?«

»Nein, nicht deswegen. Es ist, weil … sie nicht wissen, dass wir hier sind.«

»Was soll das heißen?«, fragte Sebastian.

Noch während Tim dachte, dass eigentlich ziemlich klar war, was das bedeutete, sagte Fabian: »Das heißt wohl, Ralf hat heute Morgen keinen Zettel geschrieben.«

Wieder herrschte Stille. Auch Tim war zu keinem Wort fähig.

»Die hätten uns doch sofort zurückgebracht, wenn ich denen geschrieben hätte, wo wir sind«, versuchte Ralf zu erklären. »Wir hätten quasi den ganzen Tag vor denen weglaufen müssen.«

»Du hast uns angelogen?«, fragte Julia mit unsicherer Stimme. »Kein Zettel? Aber … die können sich doch vielleicht denken, dass wir auf der Zugspitze unterwegs sind, oder?«

»Verdammt, nun sag’s ihnen schon!«, knurrte Lucas scharf, doch Ralf schien keinen Ton herauszubringen.

»Fein, dann sage ich es. – Doch, der große Bergführer hat einen Zettel geschrieben. Er hat geschrieben, dass wir eine Tour auf eigene Kappe machen und erst am Abend wieder zurück sind.«

»Aber dann …«, setzte Julia an, wurde aber von Lucas unterbrochen.

»Eine Tour nach Garmisch-Partenkirchen. Falls sie uns also tatsächlich suchen, dann in der entgegengesetzten Richtung.«

Tim hörte irgendwo neben sich einen Grunzlaut und registrierte aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Dann flog ein Schatten auf Ralf zu.