Fünfunddreißig

Für eine Party, die drinnen und ohne Illusionszauber von Sommerelfen stattfand, hatten die Menschen es sehr gut gemacht, fand Tamani. Angesichts von Yukis setzlingsmäßiger Begeisterung musste er lächeln. Sie bekam sich vor Staunen gar nicht wieder ein und das verschwenderische Dekor brachte sie zum Strahlen. Jetzt, da er wusste, dass sie ihnen nicht gefährlich werden würde, fiel ihm der Umgang mit ihr leichter. Sie war eben nur ein Ablenkungsmanöver und wusste es möglicherweise nicht einmal. »Ist das schön«, sagte sie und blinzelte im strahlenden Widerschein hunderter Lichter.

Ohne ein Wort führte Tamani Yuki auf die Tanzfläche und tanzte mit ihr ganz am Rand, wo es nicht so voll war. »Du siehst heute Abend sehr hübsch aus«, sagte er.

Sie sah ihn schüchtern an. »Danke«, sagte sie leise. »Ich … ich habe gehofft, es würde dir gefallen.«

»Sogar sehr«, erwiderte Tamani. Das war nicht gelogen. Das Kleid war ein echter Hingucker. So etwas hatte er noch nie gesehen, doch das machte es umso schöner. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, wie Laurel darin wohl aussehen würde. Tamani schüttelte leicht den Kopf, um sich rein körperlich daran zu erinnern, dass er sich um andere Dinge Gedanken machen sollte. »Schade, dass ich dich nicht abholen konnte«, sagte Tamani so leise, dass Yuki sich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. Er legte eine Hand auf ihre Taille und strich mit der anderen über ihren Arm, nahm ihre Hand und zog sie an sich – in einer traditionellen Tanzhaltung, die im Gegensatz zu der seltsam tapsigen Umarmung stand, die den Menschen so gut zu gefallen schien. So tanzten sie in aller Ruhe im Einklang zur Musik.

»Mir tut es auch leid«, sagte Yuki. »Es … es ging leider nicht anders.« Sie senkte den Blick, und Tamani dachte, es wäre ihr peinlich. Dann fügte sie sehr leise hinzu: »Ich habe meine Sachen gepackt.«

Tamani verspannte sich. »Du hast gepackt?« Ist doch klar, dass sie in den Weihnachtsferien nicht allein hier bleibt, schimpfte er dann innerlich mit sich. Reg dich ab. Hoffentlich hatte sie es als Zeichen seiner Zuneigung gewertet, als er ihr erschrocken die Hand gequetscht hatte. Er führte Yuki so, dass sie sich unter seinem Arm hindurch drehte, und wieder zurück. Sie bewegte sich ebenso geschickt und anmutig wie er, was sie endgültig als Elfe auswies.

»Klea holt mich morgen ab«, sagte sie gestresst, aber kontrolliert.

»Und wann kommst du wieder?«, fragte er ruhig. So außergewöhnlich war das nun auch nicht.

»Ich … ich …« Sie sah zu Boden und mied seinen Blick.

Er konnte sehen, dass sie ihn anlügen sollte. Doch er wollte die Wahrheit erfahren. Möglicherweise spielte es in einigen Stunden keine Rolle mehr, aber er wollte ausnahmsweise einmal die Wahrheit hören. Tamani neigte sein Gesicht, bis seine Wange die ihre berührte und seine Lippen ihr Ohr streiften. »Sag es mir«, flüsterte er.

»Es ist nicht vorgesehen, dass ich wiederkomme«, sagte sie mit rauer Stimme.

Er löste sich von ihr. Seine erschrockene Miene war nicht gespielt. »Nie wieder?«

Sie schüttelte den Kopf und sah sich entsetzt um, als könnte jemand ihr Geheimnis erraten. »Ich will hier nicht weg. Klea – sie wollte schon nicht, dass ich heute Abend hier hingehe, aber das habe ich mir nicht nehmen lassen.«

Offenbar hatte Yuki sich aufgelehnt und war sehr stolz darauf.

Als Tamani einen Augenblick schwieg, sah Yuki zu ihm hoch, weil sie eine Reaktion erwartete, eine Antwort. Er zog sie wieder an sich und gewann so noch einen kostbaren Moment zum Nachdenken. Dann legte er wieder den Mund an ihr Ohr und lauschte ihrem flachen Atem. »Kannst du nicht einfach bleiben?«, fragte er drängend. »Hört sie denn nicht auf dich?«

»Klea hört auf niemanden«, schimpfte Yuki.

Jetzt blieb er stehen und hörte auf zu tanzen, sodass die anderen Paare um sie herum glitten, um ihnen Platz zu machen. Er streckte eine behandschuhte Hand aus und strich ihr über die Wange. Ihre schweren flatternden Lider schlossen sich bei seiner Berührung. »Gehst du weit weg?«

»Das weiß ich nicht.«

»Zurück nach Japan?«

»Nein, nein, so weit bestimmt nicht. Ich bin ziemlich sicher, dass wir in Kalifornien bleiben.«

Als er angerempelt wurde, schaute er sich um, doch anstatt Yuki an sich zu ziehen, hielt er sie anmutig von sich weg und lud sie dann ein, sich umso enger an ihn zu schmiegen. Yuki ließ sich nicht lange bitten, drückte sich an seine Brust und hob das Gesicht, als sie in den nächsten Tanz glitten. »Sie nimmt dir doch nicht das Handy weg, oder?«, fragte Tamani. Sein Mund schwebte über ihren Lippen.

»Ich … ich glaube nicht.«

»Dann kann ich dich anrufen, nicht wahr? Und ich habe ein Auto. Ich könnte dich besuchen.«

»Das würdest du tun?«

Tamani beugte sich noch ein bisschen weiter vor, bis seine Stirn ihre flüchtig berührte. »Unbedingt.«

»Dann werde ich mir etwas ausdenken«, versprach Yuki.

»Warum denn so plötzlich?«, fragte Tamani und führte Yuki in einer langsamen walzerartigen Drehung um die menschlichen Tänzer herum. Auch als er sie mit der Hand auf dem Rücken zu einer Pirouette leitete, um nach verräterischen Anzeichen zu suchen, folgte sie ihm willig. Es machte Spaß, mit ihr zu tanzen. »Kannst du nicht wenigstens bis Weihnachten bleiben? Das ist doch schon in ein paar Tagen.«

Yuki schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Das ist … keine gute Idee.«

»Wieso nicht?«, fragte Tamani mit Sehnsucht in der Stimme. Hoffentlich übertrieb er es nicht.

»Ich …« Sie konnte ihn nicht länger ansehen. »Klea hat gesagt, es wäre zu gefährlich.«

Als ein anderer Song kam, ging Tamani zu einer komplizierten Schrittfolge über. Sie soll nicht zum Nachdenken kommen, sagte er sich. »Ich will nicht, dass du gehst«, flüsterte er.

Yukis Miene hellte sich auf, ihr Blick wurde weich. »Nein?«

Tamani hätte beinahe mit den Zähnen geknirscht. »Du bist wirklich anders als die anderen.«

Daraufhin sah sie ihn misstrauisch an, ging dann aber mit einem Lächeln darüber hinweg. »Bin ich nicht. Ich bin ganz normal.«

Sie machte ihre Sache nicht schlecht. Doch Tamani hatte schon gelogen, ehe ihr Spross Blätter getrieben hatte. »Oh, nein«, sagte er zuckersüß und drückte sie fest an sich. Ihr Atem ging schwerer. »Du bist etwas Besonderes, das weiß ich. Du bist ganz wundervoll.« Jetzt schmiegte er seine Wange an ihre und spürte, wie ihre Hand zitterte. »Und ich kann es nicht erwarten, dich noch besser kennenzulernen.«

Als Yuki den Mund öffnete, um etwas zu sagen, merkte Tamani plötzlich, dass sein Handy in der Hosentasche vibrierte.

»Moment«, murmelte er und holte es so heraus, dass nur er auf das Display blicken konnte. Klar, Aarons Nummer blinkte auf. Tamani sah Yuki mit einem entschuldigenden Blick an. »Mein Onkel. Bin gleich zurück.« Er drückte ihre Hand. »Hol dir doch etwas zu trinken.« Er lächelte sie noch mal an und ging dann rasch von der Tanzfläche.

 

»Ich bin wirklich froh, dass ich mit dir hier bin«, sagte Laurel und sah zu David auf.

»Wirklich?«

»Ja. So können wir reinen Tisch machen. Ich …« Sie räusperte sich. »Du weißt, dass ich nicht vorhatte, mit dir Schluss zu machen. Es ist einfach passiert.«

»Das weiß ich, und auch, dass ich voll auf der Palme war. Da muss ich mich nicht wundern, es war dein gutes Recht.«

»Das stimmt wirklich, oder?«

David verdrehte die Augen. »Ich werde mich bessern«, sagte er. »Wenn du mir die Chance dazu gibst.«

»David …«

»Ich gebe die Hoffnung nicht auf«, sagte er, hob ihre Hand an seine Lippen und küsste ihre Knöchel.

Laurel musste einfach lächeln. Dann sah sie über Davids Schulter hinweg Tamani, der schnellen Schrittes aus der Turnhalle eilte. Er hielt das Handy ans Ohr und hatte eine ausdruckslose Miene aufgesetzt. »Irgendwas ist los«, sagte Laurel. »Bin gleich zurück.«

Sie folgte Tamani so unauffällig wie möglich in die Eingangshalle.

 

»Ihr habt die Hütte ohne mich gestürmt?«, flüsterte Tamani und schaute hektisch nach links und rechts, ehe er sich in eine dunkle Ecke duckte und Laurel in die Augen sah, die gerade in die Halle kam. »Na, schön, dass ihr noch am Leben seid. Die Göttin allein weiß, was alles hätte passieren können. Was war denn nun drin?«

»Wir haben uns dazu entschlossen, gerade weil ich wusste, dass du nicht dabei sein konntest.« Das war Shar – mit Aarons Handy. Anscheinend hatte Shar sein iPhone im Wald »vergessen.« Sein Menschenspielzeug. »Ich habe dir doch gesagt, du übernimmst dich noch.«

»Ihr hattet nicht das Recht …«

»Oh doch. Ich habe hier das Kommando, auch wenn du das nur zu gern vergisst, wenn es dir in den Kram passt.«

Tamani biss die Zähne zusammen. Wenn es um Laurel ging, war nicht allein die Befehlskette ausschlaggebend, das wusste Shar ganz genau. »Was habt ihr gefunden?«, fragte er sachlich.

»Die Hütte war leer, Tamani.«

David kam aus der Turnhalle und stellte sich neben Laurel.

»Leer?«, wiederholte Tamani ungläubig. »Was meinst du mit leer

»Na ja, nicht ganz leer, die Orks, denen wir gefolgt sind, waren auch noch da.«

»Nach einem Monat?«

»Ich habe nicht gesagt, dass sie noch am Leben sind.«

»Sie sind tot?«

»Der eine sieht aus, als wäre er verhungert – aber vorher hat er sich noch an dem anderen gütlich getan. Der Gestank war … ich beschränke mich darauf zu sagen, dass ich eine Weile nicht mehr werde riechen können.«

»Warum sind sie nicht einfach abgehauen?«

»Wahrscheinlich haben sie uns gesehen und gemerkt, dass sie umzingelt waren. Sie wären so gut wie tot gewesen, hätten sie die Hütte verlassen, und ich saß am längeren Hebel.« Er hustete. »Erde und Himmel, die stinken vielleicht!«

Tamani seufzte. Er hätte Shar am liebsten wüst beschimpft, doch dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. »Gut, dann bedanke ich mich dafür, dass ihr mir Bescheid gesagt habt. Ich muss zu meinem Job zurück.« Ohne sich zu verabschieden, nahm er das Handy vom Ohr und tippte auf die Taste mit dem roten Hörer – einmal, zwei Mal … verdammter Handschuh! Tamani hätte beinahe geknurrt, nahm den Handschuh zwischen die Zähne und zog ihn aus, um dann fest auf den Knopf zu drücken und das Gespräch endlich zu beenden. Dann sah er Laurel und David an.

»Warum seid ihr mir hierher gefolgt? Ich komme mit Yuki einen entscheidenden Schritt weiter und ihr zwei ruiniert mir alles, wenn ihr so an mir klebt. Los, geht tanzen!« Er zeigte auf die Tür.

»Tam«, sagte Laurel mit aufgerissenen Augen. »Deine Hand. Sieh dir deine Hand an!«

Tamani betrachtete seine Hand.

Glänzendes Pulver glitzerte auf seinen Fingern.

Kein Pulver. Pollen.

David zog eine Augenbraue hoch. »Heiße Träume?«

Tamani sah, wie sich Laurels Brust hob, als sie nervös einatmete. »Ich blühe nicht!«, fauchte sie.

»Nein«, sagte Tamani zu Tode erschrocken. »Nein, nein, nein! Das kann doch nicht wahr sein!«, rief er.

»Tamani«, sagte Laurel unheimlich ruhig. »Heute ist Winteranfang.«

»Nein!« Tamani hatte das Gefühl, als würden alle Groschen auf einmal fallen. Er zog den Handschuh wieder an, um den verdammten Beweis zu verbergen. Dann packte er Laurels Arm, nicht zu fest, aber so fest, dass sie kapierte, wie ernst es ihm war. »Wenn Yuki eine Winterelfe ist, sind wir alle in größter Gefahr. Dann weiß sie nicht nur, dass du eine Elfe bist. Sie weiß auch, dass ich ein Elf bin. Es kann gar nicht anders sein. Sie hat von Anfang an gelogen, wenn sie nur den Mund aufgemacht hat. Die ganze Zeit.« Er schluckte. »Und sie weiß auch, wie sehr ich sie angelogen habe.«

Er drückte Laurel das Handy in die Hand und schloss ihre Finger darum. »Ruf Shar an. Er hat Aarons Handy. Erzähl ihm alles. Ich tanze mit Yuki, solange es geht. Dann lasse ich mir etwas einfallen, wie ich sie in meine Wohnung entführe. Bis dahin müsst ihr einen Plan haben, du und Shar.«

»Können wir nicht bis morgen warten?«, fragte Laurel, die langsam Panik bekam. »Ich finde, wir sollten das nicht übereilen …«

»Uns läuft die Zeit weg«, schnitt Tamani ihr das Wort ab. »Klea holt Yuki ab und nimmt sie endgültig mit. Wozu auch immer sie hierher geschickt wurde – es ist vollbracht. Also müssen wir heute Nacht noch handeln.« Er zögerte, weil er lieber bei Laurel in der Eingangshalle bleiben wollte, doch er richtete sich mit zusammengebissenen Zähnen auf. »Ich war schon viel zu lange weg – da muss sie ja Verdacht schöpfen. Los, ab mit euch.«

Laurel nickte und wandte sich an David. »Ich rufe Shar von der Toilette aus an – bin gleich wieder da.«

Tamani sah ihr nach. Dann packte er Davids Schulter und sah ihm finster in die Augen. »Pass auf sie auf, David.«

»Mache ich«, erwiderte er gepresst.

Das reichte Tamani nicht, aber wenn es um Laurel ging, konnte man seinen Ansprüchen ohnehin nicht genügen. Besser ging es nicht. Der Menschenjunge hatte sie noch nie im Stich gelassen. Tamani konnte nur hoffen, dass es so blieb.

Als er zur Turnhalle zurückkehrte, nahm er sich einen Moment Zeit, um die Neuigkeit zu verdauen. Yuki stand an der Punschausgabe und hatte ihn noch nicht bemerkt. Er sah sie mit neuen Augen – als das gefährliche Wesen, das sie nun für ihn war. Sie sah so unschuldig aus in ihrem Glitzerkleid. Erst jetzt verstand er das alles. Die große Schleife am Rücken war bestens dazu geeignet, eine Blüte zu verbergen.

Es kostete ihn all seine Kraft, sie verführerisch anzulächeln, als er auf sie zuging. Sie würde wissen, dass er log. Doch es gab etwas, das sie von Anfang an geglaubt hatte. Er umarmte sie besitzergreifend, schmiegte seine Wange an ihr Gesicht und küsste sie sanft auf Nacken und Ohr. »Kommst du heute Nacht mit zu mir?«, flüsterte er.

Sie wich mit großen Augen zurück.

»Es ist unser letzter Abend«, sagte er.

Sie schwieg so lange, dass Tamani schon einen Schweißtropfen im Nacken spürte, weil sie nicht aufhörte, ihn forschend anzusehen. »Okay«, flüsterte sie.